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Die verheißende Erlösung
Sie sitzen sich gegenüber. Sie analysiert seine Körperhaltung und beobachtet jede Regung in seinem Gesicht, welche ihn freisprechen oder aber verraten könnte. Er sitzt leicht gekrümmt auf dem klapprigen Holzstuhl, der zweifellos nicht für ein unvergesslich komfortables Sitzerlebnis gemacht worden war, und stützt sein Kinn mit einer Hand, während er rechts an ihr vorbeischaut. Dabei kommt er sich besonders überlegen vor. Fast so wie ein Detektiv, dem ein entscheidender Gedanke gekommen ist. In Wirklichkeit ist jedoch nichts als pure Luft in seinem Kopf. Bemerken tut er dies nicht. Sie muss innerlich schmunzeln. Der letzte Sommerregen prasselt auf die geräumige, leer stehende Scheune, für die sich niemand zu interessieren scheint. Aber ein tiefer, stiller Atemzug reicht, um von ihrer langen Geschichte zu erfahren. Sie muss irgendwann mal für das Abstellen von riesigen Traktoren verwendet worden sein. Die verhältnismäßig kleinen, in das Holz eingebauten Fenster erlauben heute nur wenig Tageslicht.
Jetzt sind sie hier. Sie und er auf ihren Stühlen. Sein Blick streift flüchtig ihre von schlichten azurblauen Sandaletten verzierten Füße. Wie als wäre es eine Aufforderung gewesen, räuspert sie sich, steht auf und läuft gemächlich an das Fenster, das sich hinter ihm befindet, ohne ihm besondere Beachtung zu schenken. Dieses Parfüm kannte ich noch nicht, denkt er. Was denkt er bloß, denkt sie. Paradoxerweise steigt die Neugier zwischen ihnen, je weiter weg sie sich voneinander befinden. Er spürt seinen erhöhten Puls deutlich und erhebt sich instinktiv und zugleich bewusst, um dem entgegenzuwirken. Nach ein paar Schritten – er versucht so männlich wie möglich dabei auszusehen – erreicht er das Fenster der ihr gegenüberliegenden Seite. Auch er schaut aus dem Fenster und beobachtet die Menschen mit ihren Regenschirmen; sie alle haben einen vorgegebenen Tagesablauf, etwas Bestimmtes zu erledigen. Das Szenario, das sich draußen abspielt, spiegelt etwas Hektisches wider. Telefonierende Geschäftsmänner in Anzügen, Frauen mit Einkaufstüten, an Zigaretten ziehende Bauarbeiter, Studenten mit Kopfhörern, die sich durch die Musik in einer wiederum eigenen Welt bewegen… Offenbar können oder wollen sie die Scheune nicht wahrnehmen, obwohl manche sogar auffällig dicht an der Scheune entlanglaufen. Er ist kurz versucht, an der dünnen Scheibe zu klopfen, vielleicht nähmen sie ihn ja wahr. Diesen Gedanken lässt er aber – durch die bittersüße Faszination des Schauspiels betäubt – im selben Moment wieder fallen. Plötzlich entdeckt er ein Kind, das kurz dem Strom des manisch getriebenen Rhythmus, dem die Menschen folgen, entgleist zu sein scheint. Es hält die Hand seiner Mutter, die es weiterziehen will, aber es bleibt wie gelähmt stehen und starrt ihm direkt in die Augen. In diesem Moment spürt er etwas, wonach er unbewusst schon sehr lange gesucht hat. Die Hand wird zu ungeduldig und der Junge verschwindet wieder in der Menge. Der Wind wird stärker und einige klappen jetzt die Schirme ein, weil sie beim Gehen dagegen ankämpfen müssen. Diesmal bleibt ein Hund stehen. Doch bevor sich zwischen ihm und dem Mann am Fenster eine magische Verbindung entfalten kann, zwingt eine Leine auch das Tier zurück in den kühlen, fließenden Bewegungsablauf der Menschen.
Er wendet sich vom Fenster ab und schaut zu ihr hinüber, während sie immer noch ihren Oberkörper auf dem Fensterbrett abstützt und ebenfalls das Geschehen draußen beobachtet. Doch auf ihrer Seite scheint sich etwas ganz anderer Natur abzuspielen, denn statt eines grauen Himmels flutet die frühe Abendsonne die Scheune, soweit die Fenster es erlauben. In diesem Moment, wie er so dasteht, kommt er sich vor wie im Auge eines Tornados. Frei und doch gefangen; die unwirkliche Stille umschlungen von zwei Energiepolen. Er geht zu ihr hinüber und sieht dabei, wie ihre Silhouette durch das Sonnenlicht geboren wird. Er hört seine eigenen Schritte jetzt selbst ganz deutlich. Nachdem sich nach ein paar Metern ein angenehm warmes Rot offenbart, steht er neben ihr und nimmt eine ähnliche Haltung an. Sie rührt sich nicht, zweifellos liegt es an dem Augenblick, mit dem sie allmählich verschmilzt. Trotzdem weiß er, dass sie ihn voll und ganz wahrnimmt und ein Teil davon werden lässt. Er ertappt sie dabei, wie sie ihre Augen eine Weile lang schließt, nicht nur um – wie er vermutet – den surrealen Moment hinauszuzögern, sondern vielmehr ihn die Gegenwart zu lehren. „Amilah“, sagt sie und öffnet ihre Augen. „Hm?“, entgegnet er irritiert. „Du kannst mich Amilah nennen“, sagt sie mit einer ruhigen Stimme. Er hält inne und spürt ein Gefühl, das etwas von Aufbruch hat. Er weiß, jetzt beginnt ein neues Kapitel, vielleicht ist es sogar der Prolog eines neuen Buches, dessen Protagonist er ist. „Warum sind wir hier und wie sind wir hier hergekommen?“, fragt er sie. „Das spielt doch keine Rolle“, sagt sie und wendet ihren Kopf zu ihm. Da überrascht ihn ein kleiner Schauer, der ihm über den Rücken läuft und vermutlich aus einer Art Freude entstand, denn er verspürt nun dasselbe Gefühl, das er bei dem Kind hatte. „Navruz“, hört Amilah ihn sagen, während seine Augen inzwischen etwas Unbeschwertes angenommen haben. Eine rare Erkenntnis, die ihn zurück zur Realität befördert hatte, fand nämlich zu ihm. Sie versteht und schmunzelt. Jetzt schauen beide weiter aus dem Fenster. Dabei sieht Navruz, wie ein älteres Paar auf die Scheune zeigt und plötzlich freundlich winkt, als es die beiden vor dem Fenster entdeckt.
Anm.: Amilah – arabisch: die Hoffende; Navruz – usbekisch: der Neuanfang