Was ist neu

Die verheißende Erlösung

Mitglied
Beitritt
28.06.2018
Beiträge
5

Die verheißende Erlösung

Sie sitzen sich gegenüber. Sie analysiert seine Körperhaltung und beobachtet jede Regung in seinem Gesicht, welche ihn freisprechen oder aber verraten könnte. Er sitzt leicht gekrümmt auf dem klapprigen Holzstuhl, der zweifellos nicht für ein unvergesslich komfortables Sitzerlebnis gemacht worden war, und stützt sein Kinn mit einer Hand, während er rechts an ihr vorbeischaut. Dabei kommt er sich besonders überlegen vor. Fast so wie ein Detektiv, dem ein entscheidender Gedanke gekommen ist. In Wirklichkeit ist jedoch nichts als pure Luft in seinem Kopf. Bemerken tut er dies nicht. Sie muss innerlich schmunzeln. Der letzte Sommerregen prasselt auf die geräumige, leer stehende Scheune, für die sich niemand zu interessieren scheint. Aber ein tiefer, stiller Atemzug reicht, um von ihrer langen Geschichte zu erfahren. Sie muss irgendwann mal für das Abstellen von riesigen Traktoren verwendet worden sein. Die verhältnismäßig kleinen, in das Holz eingebauten Fenster erlauben heute nur wenig Tageslicht.

Jetzt sind sie hier. Sie und er auf ihren Stühlen. Sein Blick streift flüchtig ihre von schlichten azurblauen Sandaletten verzierten Füße. Wie als wäre es eine Aufforderung gewesen, räuspert sie sich, steht auf und läuft gemächlich an das Fenster, das sich hinter ihm befindet, ohne ihm besondere Beachtung zu schenken. Dieses Parfüm kannte ich noch nicht, denkt er. Was denkt er bloß, denkt sie. Paradoxerweise steigt die Neugier zwischen ihnen, je weiter weg sie sich voneinander befinden. Er spürt seinen erhöhten Puls deutlich und erhebt sich instinktiv und zugleich bewusst, um dem entgegenzuwirken. Nach ein paar Schritten – er versucht so männlich wie möglich dabei auszusehen – erreicht er das Fenster der ihr gegenüberliegenden Seite. Auch er schaut aus dem Fenster und beobachtet die Menschen mit ihren Regenschirmen; sie alle haben einen vorgegebenen Tagesablauf, etwas Bestimmtes zu erledigen. Das Szenario, das sich draußen abspielt, spiegelt etwas Hektisches wider. Telefonierende Geschäftsmänner in Anzügen, Frauen mit Einkaufstüten, an Zigaretten ziehende Bauarbeiter, Studenten mit Kopfhörern, die sich durch die Musik in einer wiederum eigenen Welt bewegen… Offenbar können oder wollen sie die Scheune nicht wahrnehmen, obwohl manche sogar auffällig dicht an der Scheune entlanglaufen. Er ist kurz versucht, an der dünnen Scheibe zu klopfen, vielleicht nähmen sie ihn ja wahr. Diesen Gedanken lässt er aber – durch die bittersüße Faszination des Schauspiels betäubt – im selben Moment wieder fallen. Plötzlich entdeckt er ein Kind, das kurz dem Strom des manisch getriebenen Rhythmus, dem die Menschen folgen, entgleist zu sein scheint. Es hält die Hand seiner Mutter, die es weiterziehen will, aber es bleibt wie gelähmt stehen und starrt ihm direkt in die Augen. In diesem Moment spürt er etwas, wonach er unbewusst schon sehr lange gesucht hat. Die Hand wird zu ungeduldig und der Junge verschwindet wieder in der Menge. Der Wind wird stärker und einige klappen jetzt die Schirme ein, weil sie beim Gehen dagegen ankämpfen müssen. Diesmal bleibt ein Hund stehen. Doch bevor sich zwischen ihm und dem Mann am Fenster eine magische Verbindung entfalten kann, zwingt eine Leine auch das Tier zurück in den kühlen, fließenden Bewegungsablauf der Menschen.

Er wendet sich vom Fenster ab und schaut zu ihr hinüber, während sie immer noch ihren Oberkörper auf dem Fensterbrett abstützt und ebenfalls das Geschehen draußen beobachtet. Doch auf ihrer Seite scheint sich etwas ganz anderer Natur abzuspielen, denn statt eines grauen Himmels flutet die frühe Abendsonne die Scheune, soweit die Fenster es erlauben. In diesem Moment, wie er so dasteht, kommt er sich vor wie im Auge eines Tornados. Frei und doch gefangen; die unwirkliche Stille umschlungen von zwei Energiepolen. Er geht zu ihr hinüber und sieht dabei, wie ihre Silhouette durch das Sonnenlicht geboren wird. Er hört seine eigenen Schritte jetzt selbst ganz deutlich. Nachdem sich nach ein paar Metern ein angenehm warmes Rot offenbart, steht er neben ihr und nimmt eine ähnliche Haltung an. Sie rührt sich nicht, zweifellos liegt es an dem Augenblick, mit dem sie allmählich verschmilzt. Trotzdem weiß er, dass sie ihn voll und ganz wahrnimmt und ein Teil davon werden lässt. Er ertappt sie dabei, wie sie ihre Augen eine Weile lang schließt, nicht nur um – wie er vermutet – den surrealen Moment hinauszuzögern, sondern vielmehr ihn die Gegenwart zu lehren. „Amilah“, sagt sie und öffnet ihre Augen. „Hm?“, entgegnet er irritiert. „Du kannst mich Amilah nennen“, sagt sie mit einer ruhigen Stimme. Er hält inne und spürt ein Gefühl, das etwas von Aufbruch hat. Er weiß, jetzt beginnt ein neues Kapitel, vielleicht ist es sogar der Prolog eines neuen Buches, dessen Protagonist er ist. „Warum sind wir hier und wie sind wir hier hergekommen?“, fragt er sie. „Das spielt doch keine Rolle“, sagt sie und wendet ihren Kopf zu ihm. Da überrascht ihn ein kleiner Schauer, der ihm über den Rücken läuft und vermutlich aus einer Art Freude entstand, denn er verspürt nun dasselbe Gefühl, das er bei dem Kind hatte. „Navruz“, hört Amilah ihn sagen, während seine Augen inzwischen etwas Unbeschwertes angenommen haben. Eine rare Erkenntnis, die ihn zurück zur Realität befördert hatte, fand nämlich zu ihm. Sie versteht und schmunzelt. Jetzt schauen beide weiter aus dem Fenster. Dabei sieht Navruz, wie ein älteres Paar auf die Scheune zeigt und plötzlich freundlich winkt, als es die beiden vor dem Fenster entdeckt.

Anm.: Amilah – arabisch: die Hoffende; Navruz – usbekisch: der Neuanfang

 

Hola LuchoCordero,

das ist ja eine recht belebte, beinahe quirlige Gegend, in der Deine vergessene Scheune steht. Aber schon klar – das darf der Leser nicht wörtlich nehmen. Und das ist ja nichts Neues bei philosophischen Texten.
Das Schreiben geht Dir gut von der Hand, da spürt man Erfahrung und Routine. Auch liest sich der Text angenehm, trotzdem werde ich beim Lesen das Gefühl nicht los, dass der Autor hier ins Blaue hineingeschrieben hat – eben, weil er schreiben kann.
Der tag ‚Philosophisches’ wird mMn zu oft benutzt als Freibrief für undeutliche Sachverhalte. Manchmal artet das in Schwurbeleien aus, aber Dein Text bleibt sachlich.
Leider hilft mir das nicht beim Verständnis Deiner Geschichte. Hineininterpretieren könnte ich eine Menge, nur bliebe es ein Rätselraten. So bleibe ich mit vielen Fragezeichen noch einen Moment vor dem Laptop sitzen und mach dann die Klappe zu.
Vielleicht bekomme ich bei der Gartenarbeit noch eine Eingebung, was mir Dein Text sagen wollte. Schade für dieses Mal, trotzdem schöne Grüße!

José

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi LuchoCordero,

willkommen bei den Wortkriegern!

Kleinigkeiten:

Sein Blick streift flüchtig ihre von schlichten azurblauen Sandaletten verzierten Füße.

Hier würde es mir reichen, wenn du "flüchtig" weglassen würdest. Denn der Blick streift ja bereits, was darauf hindeutet, dass es eben "flüchtig" ist. Der Lesefluss bleibt dadurch auch besser erhalten.

Offenbar können oder wollen sie die Scheune nicht wahrnehmen, obwohl manche sogar auffällig dicht an der Scheune entlanglaufen.

Kleine Doppelung - als Beispiel könntest du einfach die Begriffswiederholung durch "ihr" ersetzen und alles ist tippitoppi.

Er ist kurz versucht, an der dünnen Scheibe zu klopfen, vielleicht nähmen sie ihn ja wahr.

Nichts dramatisches, aber ich glaube, dass eine andere Konjunktivform einen besseren Klang hätte.

Plötzlich entdeckt er ein Kind, das kurz dem Strom des manisch getriebenen Rhythmus, dem die Menschen folgen, entgleist zu sein scheint.

Ein schöner Satz!

Die Hand wird zu ungeduldig und der Junge verschwindet wieder in der Menge.

Wer wird hier wirklich ungeduldig? Die Hand bestimmt nicht, sie ist nur das Instrument der Ungeduld, die (wie ich vermute) von der Mutter kommt. Die Hand zieht, zerrt oder zittert ungeduldig, ist es aber niemals selbst, denn sie besitzt keine Persönlichkeit (außer in so manchen Hollywood B-Movie Horrorklassikern).

Es hält die Hand seiner Mutter, die es weiterziehen will, aber es bleibt wie gelähmt stehen und starrt ihm direkt in die Augen

"Es" liest sich oft unschön im Satzgefüge, so auch in diesem Satz. Zwei Zeilen später wird dieses Kind sowieso zu einem Jungen - warum nicht bereits hier?

Er ertappt sie dabei, wie sie ihre Augen eine Weile lang schließt, nicht nur um – wie er vermutet – den surrealen Moment hinauszuzögern, sondern vielmehr ihn die Gegenwart zu lehren.
ihm die Gegenwart zu lehren
Du schreibst gut, aber manchmal stolpere ich etwas über deine Formulierungen.

„Warum sind wir hier und wie sind wir hier hergekommen?“

"hier" kannst du in diesem Fall gerne weglassen.

-----------

Also,

wie ich bereits erwähnt habe, schreibst du gut und größtenteils verständlich, auch wenn der philosophische Plot deines Textes einige Fragen aufwirft.
Hier geht es mir ähnlich wie José, den du mit dicken Fragezeichen über dem Kopf zurückgelassen hast. Unterhaltend fand ich es trotzdem, denn im Großen und Ganzen hast du da eine solide Leistung abgeliefert. Freue mich auf weiteres Material deinerseits.

Gruß

Dave

 

Dieses Parfüm kannte ich noch nicht, denkt er. Was denkt er bloß, denkt sie.

Und ich denke, dass Du schreiben kannst,

LuchoCordero,

denn nicht viele werden ein Partizip als Attribut verwenden, wenn es ein Adjektiv ("verheißene") eh schon gibt. Nur der Effekt ist eben ein anderer: Die "verheißene" Erlösung wird von einem Dritten, einem andern Subjekt gegeben (von Schuld[en] kann einen nur der Gläubige[r] erlösen/befreien). Die sich selbst "verheißende"Erlösung - wie m. E. im Schlussbild des kleinen, geheimnisvollen Textes verborgen - bedarf keines Dritten/Anderen ("ander" war bis in die Lutherzeit hinei im Deutschen die Zahl, die wie seit Luther "zwei" nennen, im "anderthalb" kannstu das noch erkennen).

Und damit erst einmal herzich willkommen hierorts!

Aber Du hast einen Hang zum Umständlichen, was sich in drei-wertigen Konstruktionen wie hier

Er sitzt leicht gekrümmt auf dem klapprigen Holzstuhl, der zweifellos nicht für ein unvergesslich komfortables Sitzerlebnis gemacht worden war, ...
"gemacht worden war", wo m. E. "gemacht wurde" doch genügte.
Ähnlich hier
Sie muss irgendwann mal für das Abstellen von riesigen Traktoren verwendet worden sein.
oder hier
Wie als wäre es eine Aufforderung gewesen, räuspert sie sich, steht auf und läuft gemächlich an das Fenster, das sich hinter ihm befindet, ohne ...
Da fällt schon die "wie als"-Konstruktion auf ("wie" vergleicht gleiches/ähnliches, "als" ungleiches -
er ist so groß wie sie / er ist größer als sie), "Als wäre ..." genügt an sich und lass das "gewesen"weg, der Konjunktiv hat nix mit der Zeitenfolge zu tun. Und warum "sich befinden", wenn das Vollverb "sein" es knapp und bündig täte, wenn Du es ließest!

Ein Höhepunkt aber isr hier der nachgeschobene Satz

In Wirklichkeit ist jedoch nichts als pure Luft in seinem Kopf. Bemerken tut er dies nicht.
Warum "bemerkt" er's nicht schlicht und einfach?

..., die sich durch die Musik in einer wiederum eigenen Welt bewegen…
Die Auslassungspunkte direkt am Wort behaupten, dass am Wort wenigstens ein Buchstabe fehle. Wäre da nicht die schlichte Ästhetik des Apostrophes angesagt? Besser immer eine leestelle zwischen Wort und Auslassungspunkten.

Wie dem auch sei, ich bin guter Dinge, dass es was wird!

Bis bald und ein schönes Wochenende wünscht der

Friedel

 

Hola josefelipe,

vielen Dank für dein Feedback!
Erst einmal zu mir:

Das Schreiben geht Dir gut von der Hand, da spürt man Erfahrung und Routine.

Es freut mich sehr, diesen Eindruck hinterlassen zu haben. Tatsächlich schreibe ich sehr selten (dies ist die einzige wirklich fertige Kurzgeschichte, die ich bisher aufs Blatt gebracht habe), zähle das Schreiben aber definitiv zu meinen Leidenschaften. Vielleicht haben mir das imaginäre Ausformulieren einiger Ideen und das ein oder andere Gedicht bis hier geholfen.

...trotzdem werde ich beim Lesen das Gefühl nicht los, dass der Autor hier ins Blaue hineingeschrieben hat...

Gut getroffen. In der Tat habe ich mir nur grob ein Thema ausgesucht, ohne vorher den Ablauf festgelegt zu haben und mir während des Schreibens überlegt, wohin es inhaltlich gehen kann.

Vielleicht bekomme ich bei der Gartenarbeit noch eine Eingebung, was mir Dein Text sagen wollte.

Ich kläre auf: Die Hauptaussage ist, dass heutzutage viele Menschen nicht mehr bewusst in der Gegenwart leben. Die Scheune, gewählt als Kulisse mit geheimnisvollem Charakter, bleibt zunächst ohne weitere Bedeutung. Erst der ungewöhnliche Ort an dem sie sich befindet, nämlich inmitten einer Stadt, soll vermitteln, dass dort eine Scheune umso eher wahrgenommen werden sollte. Nur ist dies nicht der Fall, da die vorbeilaufenden Menschen so in ihrem Trott versunken sind. Mit Ausnahme der Kinder, Tiere und alten Leute, die voll und ganz in der Gegenwart leben.
Navruz, der die Situation nicht einordnen kann (also zu der beschrieben Sorte Mensch gehört), lernt von Amilah im Hier und Jetzt zu sein - allein durch die Anziehung zu ihr, aus der später womöglich Liebe wird, was letztendlich offen bleibt. Aber auch das Kind und der Hund erinnern ihn an das Jetzt. Liebe/Selbstliebe und Achtsamkeit, was den übrigen Menschen zu fehlen scheint, hat also eine übergeordnete, gesellschaftliche Bedeutung im Hinblick auf ein unbeschwerteres Leben. Zugegeben: Was letztendlich folgt, bleibt offen, was ja ein typisches Merkmal von Kurzgeschichten ist, soweit ich als Laie weiß. Es soll also vielmehr einen gesellschaftlichen Zustand abbilden.

Schöne Grüße zurück!
Luis

 

Hi Dave A,

danke für die spitzfindigen, aber nützlichen Details. Freue mich, dass du auf weiteres Material wartest.

Gruß,
Lucho

 

Hi christian17,

danke für dein Feedback. Da es meine erste Geschichte ist, bin ich auf Reaktionen umso mehr gespannt.

Von welchem "surrealen" Moment spricht der Erzähler?
"Er hält inne und spürt ein Gefühl, das etwas von Aufbruch hat." Er hat doch lediglich "Hm?" gefragt, sie nennt ihm seinen Namen. Wobei hält er inne? Woher kommt plötzlich "ein Gefühl, das etwas von Aufbruch hat"? Usw.Usw.

Ich hätte das Wort "surreal" sinngemäß auch mit "magisch" ersetzen können. Magisch, weil der gegenwärtige Moment eben für ihn etwas Besonderes ist und ihn wieder neu entdeckt.
Mit Aufbruch wird durch die gewonnene Erkenntnis ein neuer Lebensabschnitt, eine neues Beswusstsein und womöglich eine beginnende Liebesbeziehung angedeutet.

Vielleicht sollte ich die Zusammenhänge zukünftig etwas klarer beschreiben.

Viele Grüße,
Lucho

 

Hallo Friedrichard,

ich bin positiv überrascht, welch differenzierte Art von Feedback hier bei Wortkriegern gegeben wird. So auch von dir.

Ich danke, verspreche bei der nächsten Geschichte, auf die Punkte zu achten und wünsche noch einen schönen Abend,
Lucho

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom