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Die Verwandlung von Simon T.
Der Kopf des Sekretärs Simon T. lag auf dem großen, aus Eichenholz gefertigtem Schreibtisch der inmitten des sonst recht karg eingerichteten Büro stand. Es herrschte vollkommene Stille. Nicht nur im Sekretariat, sondern auch in den Hallen der Emailfabrik. Durch die staubigen Fenster seines Büros sah er die riesigen Schatten der Maschinen, die in den endlos wirkenden Hallen nun nur hin und wieder ein leises Schnaufen von sich gaben. Simon war es schon seit seinen Jahren als Praktikant nicht mehr passiert, dass er über seiner Arbeit eingeschlafen war. Als er nun seinen Kopf hob, kam ihm dieser seltsam schwer vor und im spärlichen Schein der Schreibtischlampe sah er, dass ihm über Nacht viele kleine schwarze Härchen auf seinen Handflächen gewachsen waren. Während sich Simon durch die langsam heller werdenden Straßen seinen Weg nach Hause bahnte war es zu spät oder auch zu früh, als dass er jemanden hätte begegnen können. Seine aufkommende schlechte Laune begründete sich nicht alleine auf seiner Übermüdung, sondern auch auf der bevorstehenden Plicht in wenigen Stunden, so wie jeden Aschermittwoch, mit seiner Verwandtschaft zum Abendgottesdienst zu gehen. Als er nun in die Auslage der noch geschlossenen Bäckerei schaute, bemerkte er, dass sich sein Gesicht auf groteske Weise verändert hatte. Simons einst braunen Augen hatten ihren früheren Platz zwischen Augenbrauen, die nun komplett verschwunden waren, und Wangen verlassen und die neuen Facettenaugen nahmen jetzt mehr als zwei Drittel seines Gesichtes in Anspruch. Der alte Mund mit seinen blassroten Lippen hatte sich zu einer Art Rüssel verformt und war mit ebenfalls neuen, schwarz glänzenden Fühlern geschmückt. Simon ärgerte sich. Er hatte gehofft sich noch ein frisch aus dem Ofen kommendes Brot kaufen zu können, denn er ahnte, ein gutes Frühstück wäre das Einzige gewesen, was diesen Tag noch retten hätte können. Als Simon nun endlich seine ordentlich eingerichtete Wohnung betreten hatte, spürte er die bleierne Müdigkeit die sich still und heimlich während des gesamten Weges in seinem Kopf ausgebreitet hatte. Er legte sich auf sein Bett und sofort verirrte er sich in wirren Träumen und als er wenige Stunden später erwachte, fühlte er sich fast so ausgelaugt wie zuvor. Als der gerade vorher noch Schlafende seine Uhr sah, erschrak dieser. Schnell versuchte er sich für den Gottesdienst fertig zu machen, wobei ihm aber seine, während des Schlafes gewachsenen Flügel einige Probleme bereiteten. Egal auf welche Weise er sie auch versuchte unter dem schwarzen Stoff seines Sakkos zu verstauen, verbogen sich diese schmerzhaft. So entschied Simon sich sein ihm teures Jackett und auch sein weißes Hemd mit zwei schlitzförmigen Löchern zu versehen und nach mühseliger Spielerei hatte er es zehn Minuten vor dem abgemachten Zeitpunkt dann doch endlich geschafft seine neugewachsenen Körperteile durch die verschiedenen Schichten des Gewandes hindurch zu manövrieren und seine glänzenden Lackschuhe anzuziehen. Als er nun endlich in seiner vollen Sonntagskleidung auf die Straße trat, war Simon T. in einer für ihn ungewöhnlichen Eile. Erst nach einer Weile merkte er die vielen erschrockenen und verängstigten Blicke die auf ihn fielen. Schnell hatte sich ein großer Mob aus Nachbarn und Unbekannten hinter ihm gebildet. Simon begann zu rennen und hinter ihm begann man ebenfalls damit. Die wütenden Schreie wurden lauter und Pflastersteine schlugen vor, hinter und neben den teuren Lackschuhen auf den Boden. Schon sah der Sekretär der Emailfabrik Haym & Co die Kirche näher kommen, als er einen harten Treffer auf seinem Hinterkopf spürte.