Die wahre Weihnacht
Die wahre Weihnacht
Es war nur ein schneller Griff.
Glattes Leder, knisterndes Papier.
Mein Herz schlug dabei nicht schneller, als sonst. Es war schließlich nicht das erste Mal, daß ich mir nahm, was mir zustand.
Die eine Hand schob die Scheine in die Hintertasche der Jeans, während die andere den Geldbeutel wieder auf das Board zurücklegte.
Da erklang die Stimme hinter meinem Rücken:
„Warum bestiehlst Du mich?“ Tiefer Ton, ohne wirkliche Wut. Wie ich diesen Tonfall haßte, denn es war, als spräche die verdammte, bohrende Stimme des Gewissens.
Ich drehte mich nicht um zu ihm.
„Laß mich in Ruhe“, sagte ich dumpf.
„Warum nimmst du dir heimlich mein Geld?“ hörte ich wieder seine Stimme, in unverändert ruhigem Ton.
Ich stieß einen langen Seufzer aus. Seine Fragerei ging mir auf die Nerven. Und was sollte ich ihm schon antworten? Er wußte doch ganz genau, wofür ich das Geld brauchte. Er hatte genug davon, könnte es mir auch freiwillig geben, wenn er nicht so verdammt ignorant wäre.
Es begann, in mir zu kochen.
„Ben?“ sagte er.
Ich wirbelte herum zu ihm, brüllte ihn an:
„Sagte ich nicht, du sollst mich in Ruhe lassen? Wenn ich deine Hilfe brauche, dann bist du NIE da! Was tust du denn schon für mich?“
Seine einzige Antwort war ein fester Blick aus diesen Augen, die einen in den Wahnsinn treiben konnten. Fest verschloß sich mein Herz, alle Schutzmauern wurden hochgezogen.
Meine Finger verkrampften sich zu Fäusten. Scheiße nochmal, er pißte sich an wegen der paar Mark! Es gab doch genug davon, in seinem beschissenen Luxusbunker!
„Ich gehe jetzt“, preßte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Er sah mich nur an. Als seien die Mauern meines Herzens nur aus Glas.
Meine Augen füllten sich mit heißen Tränen. Und als seine Hand sich mir entgegenstreckte, spuckte ich ihm voll Wut ins Gesicht.
Weg hier, nur weg.
Raus aus diesem Haus, aus diesem Viertel, nur fort!
Schaufenster mit Engeln und Sternen aus Plastik. Menschen mit leeren Augen und vollen Tüten auf den Straßen. Wohlstandsbäuche drängen sich zwischen engen Regalen in vollestopften Läden. Plastik-Geschenke für strahlende Kinderaugen.
Alles huscht vorbei, alles ohne Bedeutung.
In meiner Seele klafft ein Loch.
Es treibt mich wie gehetzt durch die Straßen, auf der Suche nach dem Stoff, der mich vergessen läßt. Vergessen, wie sehr die Leere schmerzt.
In den Blicken, die mir begegnen, finde ich mich selber wieder.
Sie stopfen ihre Leere mit Plastik-Tand und hohlen Worten über das Fest der Liebe! Und nachts starren sie an die Decke und spüren, wie der Tod an ihnen nagt, die Betäubung hält nie lange an!
Vollgepumpt mit meinen Glücklichmachern ging es mir besser.
Die knisternden Scheine waren in der Hosentasche eines anderen verschwunden, meine Seele war endlich betäubt. Ich nahm den Schmutz um mich herum nicht wahr, in dieser Ecke der Stadt gab es keine Plastiksterne mehr. Dumpf drang der Lärm der Autos in meinem Kopf, Feuchte drang durch meine Jacke, als ich die Glieder von mir streckte und fortglitt in eine andere Welt.
Dröhnender Kopfschmerz, Beine wie gelähmt.
Ich erwachte in der Gosse. Bitterer Geschmack im Mund, das Gesicht im eigenen Erbrochenen. Es stank erbärmlich.
Keine Chance, auf die Beine zu kommen. Fertig, völlig fertig.
Schritte.
Ich hob zitternd den Kopf, nur ein wenig. Der Weihnachtsmann starrte zu mir herab.
Weißer Rauschebart.
Mein Arm zuckte. Es schmerzte, ihn zu bewegen.
Der Weihnachtsmann schüttelte angewidert den Kopf: „Saufbruder, da siehste, was du davon hast.“
„Bitte...“, stammelte ich und hielt ihm die zitternde Hand hin.
„Ich pack dich doch nicht an, du Dreckschwein“, sagte der Weihnachtsmann. „Nachher stinke ich, genau wie du. Hab schließlich noch einen Job zu erledigen.“
Seine Finger schlossen sich um den Hals des roten Sacks. Dann ging er fort, ohne sich umzusehen.
Trippelnd hinter ihm die Schritte eines zierlichen Engels. Blonde Locken, gerümpfte Nase.
Wellen von Übelkeit ließen meinen Körper erbeben. Ich kniff die Augen zu und beschloß, zu sterben.
Das Gefühl, daß ein Blick auf mir ruhte.
Scheinwerfer vorbeifahrender Autos blendeten meine schmerzenden Augen. Pochender Hammer im Kopf.
Er stand mitten im Dreck der Gosse, mein Mageninhalt klebte an seinem Hosenbein.
Eine Hand, die sich mir entgegenstreckte.
Kräftig, stark.
Ich überlegte keine Sekunde, griff zu, wurde auf die Beine gezogen. Arme legten sich schützend um mich. Kein Moment des Zögerns, trotz Dreck und Gestank.
Warme, milde Worte.
Er kam tatsächlich hierher, an diesen Ort voll Leid und Abfall.
Er reichte mir die Hand. Und ich mußte sie nur ergreifen.
In der Vergebung liegt seine ganze Liebe.