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Die Wahrheit über den Nikolaus
Emsig putzte Robin seinen Stiefel. Am Abend sollte er blitzen und blinken. Skeptisch wurde er von seinem großen Bruder Damian beobachtet. „Du glaubst doch nicht an den Quatsch, den dir die Leute erzählen, oder?“, fragte er schließlich. Robin guckte mit seinen großen Augen in das tückische Gesicht seines Bruders. Der Vierjährige brachte noch ein völlig verwirrtes „wieso“ über die Lippen, dann setzte sich sein zehn Jahre älterer Bruder zu ihm. „Du denkst, wenn du deine Schuhe putzt und rausstellst, kommt der Nikolaus um dir Geschenke zu bringen?“ Robin nickte.
Auf Damians Gesicht zauberte sich ein hinterhältiges Grinsen, das Robin aber noch nicht deuten konnte. „Weißt du, der Nikolaus kommt wirklich, wenn deine Stiefel nur gut genug blinken. Aber weißt du, wer der Nikolaus ist?“ Klar wusste Robin das. Der Nikolaus war ein lieber Kerl, der den Kindern jedes Jahr eine Freude machen will. Aber er schüttelte vorsichtig den Kopf. „Hast du noch nie von der Nikolauslegende gehört? St. Nikolaus war ein Bishof, der seine Leute vor Hunger bewahrt hat und son Kram.“ Robin nickte, denn die Legende kannte er. Dieses Jahr durfte er sogar mitspielen, wenn sie sie im Kindergarten aufführen.
„Weißt du, wie lange das her ist, das St. Nikolaus das gemacht hat, Robin?“ Er schüttelte den Kopf. „Naja, ich auch nicht so genau, aber es ist sehr, sehr lange her. Länger als jedes Menschenleben. Und trotzdem kommt er jedes Jahr und tut den Kindern Süßigkeiten in die Schuhe. Weißt du, was das bedeutet?“ Mit großen Augen und seiner vollen Aufmerksamkeit guckte Robin auf seinen großen Bruder. „Der Nikolaus ist ein Zombi“, sagte dieser und stand dabei auf, „du siehst ihn nie, weil er sich versteckt. Der ist schon sehr lange tot und fällt schon auseinander. Seine Haut sieht aus wie dieses Slimizeug, das du neulich gekriegt hast. Die Haut läuft von seinem Gesicht herunter und seine Augen hängen an Fäden aus Fleisch aus seinen Augenhöhlen. Er hat dreckige, lange Fingernägel mit denen er dich aufspießen kann. Wie gesagt, früher hat er mal seine Stadt Myra vor Hunger bewart, aber weißt du, wie er das wirklich gemacht hat?“ Robins Augenbrauen waren ganz tief in sein Gesicht gesunken und ängstlich klammerte er sich an seinem schon fast perfekt geputzen Stiefel fest.
„Es hat einfach die Kinder geschlachtet und an die hungrigen Meute verteilt. Ein Schiff hat es nie gegeben, das wurde nur später erfunden, um alles schön zu reden. Und genau deshalb bringt er auch heute noch Geschenke. Er will, dass die Kinder ihm vertrauen, damit er in einem unbemerkten Augenblick zuschlagen kann. Die Kinder verfüttert er dann an die anderen Zombis.“ Robin begann zu weinen und Damian hockte sich wieder so ihm: „Weißt du woran der Nikolaus sieht, wo er seine Opfer findet?“ Robin erkannte seinen Bruder durch seine mit Tränen überfluteten Augen kaum noch. Ganz fest klammerte er sich wimmernt an seinen Stiefel. „Blank geputzte Stiefel. Wenn du nicht willst, dass der Nikolaus dich heute nacht findet, solltest du ihn so dreckig machen, dass man ihn nicht mehr erkennt und gut verstecken.“
Damian verlies den Raum, ohne noch einmal auf seinen kleinen Bruder zu gucken, der nun vor Angst in die Hose gemacht hatte. Robin stand auf und rannte aus dem Haus in den Garten, um seinen Stiefel in eine große Matschfütze zu werfen. Wieder und wieder zog er den Stiefel, der immer mehr von seinem Glanz verlor, durch den Matsch, bis man kaum noch die Form erkennen konnte. Den nassen Stiefel warf er anschließend im Wohnzimmer unter das Sofa. Es wurde schon dunkel und er wurde ins Bett gebracht. Er bekam schreckliche Alpträume von einer widerlichen Bestie, die vor seiner Zimmertür stand und seinen Stiefel mit Bestechungsmaterial füllte.
Plötzlich hörte er tatsächlich ein Geräusch vor seiner Tür und saß nun hellwach in seinem Bettchen. Robin hoffte ganz fest, dass es nicht der Nikolaus war. Und wenn doch sollte er ganz schnell verschwinden und bloß nicht die Tür öffnen.
Dann ging die Tür doch auf und er begann zu schreien. Es war aber nicht der Nikolaus, es war seine Mutter, die ihn in den Arm nahm. Er erklärte ihr, dass er Angst hatte der Nikolaus würde da sein und erzählte, dass der Nikolaus ja schon so furchtbar alt war. Und dann bestätigte seine Mutter das auch noch und Robin bekam noch mehr Angst. Er erzählte wie er sich den Zombi-Nikolaus vorstellte und dann erzählte sie ihm die Wahrheit. Sie selbst war bei ihnen zu Hause der Nikolaus und kleine Kinder hat der liebe St.Nikolaus, der an diesem Abend ihr Vorbild war, nie geschlachtet. Die ganze Nacht über redeten sie über den Nikolaus, die Hoffnung und Freuden, die er brachte und den Zauber der Weihnachtszeit.
Erst am frühen Morgen war er in den Armen seiner Mutter eingeschlafen. Noch war sie zu müde, aber später am Tag würde ein ebenso langes Gespräch mit ihrem älteren Sohn stattfinden.