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Die Welt der Unterhemden

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23.02.2022
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Die Welt der Unterhemden

Acht Uhr abends im November in der Lagerhalle einer Altkleidersammlungsstelle in Deutschland.

Alles ruht, das Personal, das die Kleiderstücke trennt und sortiert, hat schon Feierabend.

In große Kartons sind die wiederverwendbaren Kleidungsstücke achtlos hineingeworfen worden. In der rechten Ecke an der Wand ist der Haufen von gut erhaltenen Unterhemden, die darauf warten, gefaltet und weitertransportiert zu werden.

Es ist stockdunkel, aber man hört Stimmen, ein Gespräch zwischen zwei Unterhemden beginnt:


  • Hallo ihr Unterhemden, hört ihr mich?
  • Dir auch hallo! Freut mich, dich kennenzulernen. Wer bist du?
  • Ich bin ein weißes "Feinrippbaumwollmännerunterhemd".
  • Wow, was für ein langer Name. Der klingt toll, erzähl was von Dir.
  • Ich gehörte einem 28-jährigen Mann, ich nenne ihn jetzt einfach mal "mein Herrchen". Er trug mich von morgens bis abends, hauptsächlich immer wenn er zur Arbeit ging. Er war Maurer und schwitzte in meinen Stoff hinein, ich sog alles auf, sorgte dafür, daß seine Haut einigermassen trocken blieb und am Abend wurf er mich in den Wäschekorb. Nach der Waschmaschine hatte ich vielleicht ein - bis zwei Tage Ruhe im Schrank, dann zog er mich von dem Stapel runter und ich durfte wieder nützlich sein. Das machte echt Spaß. Ich hatte viel zu tun, war immer bereit. Mal duftete ich nach Waschmittel und Stunden später stank ich nach Schweiß, aber mein Herrchen war sehr zufrieden mit mir.
  • Wenn dein Herrchen zufrieden war...warum bist du hier?
  • Das ist eine gute Frage. Leider kam der Tag, an dem auf einmal ein Stapel mit 5 billigen Unterhemden neben mir lag. Die blendeten mich mit ihrem schneeweißen Stoff und leider hat das auch mein Maurer gesehen. Der Unterschied war gewaltig: ich war vergilbt und meine Fasern hatten mit der Zeit und mit den vielen Waschgängen nachgelassen. Aber das war noch nicht alles.
  • Was ist denn noch passiert?
  • Ich habe ein Loch.
  • Echt? Wenn du kaputt bist, gehörst du nicht in diesen Haufen.
  • Ich weiß, aber es ist ein winziges Loch. Mein Herrchen ist bei seiner Arbeit an einem Haken hängen geblieben. Zum Glück hat er sich nicht verletzt, sonst wäre ich mit Blutflecken sowieso gleich in derMülltonne gelandet.
  • Das muss ein kleines Loch sein.
  • Ist es auch. Aber trotzdem war ich meinem Maurer zu alt. Er hat mich, zusammen mit einigen Gleichaltrigen, in diesen Plastiksack der "Altkleidersammlung" gesteckt. Und dann bin ich hier gelandet. Das war's.
  • Das tut mir leid, dein Herrchen wird dir fehlen, oder?
  • Ja, schon. Aber nun zu dir! Erzähl!
  • Tja, ich bin ein altrosa farbenes seidenes Frauenunterhemd mit Spitze, ich war sehr teuer und mein Frauchen hat mich geliebt.
  • Da bist du aber ein teures Stück, wie konnte sich dein Frauchen deiner entledigen?
  • Das ist eine traurige Geschichte: ich wurde nicht so oft getragen wie du; mein Frauchen hat sich abends, bevor sie mit ihren Freundinnen ausging, immer sehr fein gemacht, dazu gehörte auch ein seidenes Unterhemd, das war ich. Darauf war ich ganz stolz, denn voller Schweiß war ich nie, im Gegenteil - ich hatte immer parfumierte Haut unter mir gehabt. Ich sollte auch nicht warm halten, sondern sexy sein.
  • Sowas kann ich mir nicht vorstellen, muss aber interessant gewesen sein.
  • War es auch, bis auf den einen Tag.
  • Was ist passiert?
  • Meine Besitzerin war mal wieder in Ausgehstimmung, sie duschte, cremte sich ein und zog teure Spitzendessous an, zu denen ich perfekt passte. Ich ahnte, dass dieser Abend anders werden würde. Und so war es auch.
  • Jetzt mach's nicht so spannend - wie ging es weiter?
  • Na ja, der Abend verlief ganz gut, ich hatte sogar so etwas wie Schweiß aufgesogen, mein Frauchen war nämlich tanzen. Und nach einigen Stunden ist sie wie immer nach Hause gegangen, aber diesmal nicht allein. Ich sehnte mich schon nach meiner Ruhe auf der Stuhllehne im Schlafzimmer, aber diesmal berührten mich fremde Hände, anfangs ganz sanft, dann aber zerrten sie an mir herum, bis ich auf dem Boden landete und dort auch lange Zeit liegen blieb, bis mich mein Frauchen erst am nächsten Tag aufhob. Du kannst dir vorstellen, wem diese Hände gehörten.
  • Oh ja, das kann ich. Dein Frauchen hatte also ein Herrchen gefunden!
  • Genau.
  • Ja und? Hast du dich nicht für sie gefreut?
  • Doch, aber mein Leben hat sich seitdem leider verändert, und zwar zum Schlechten. Ich wurde nur noch selten getragen, dann heiratete mein Frauchen diesen Mann und knapp 10 Monate später kam ihr Baby auf die Welt.
  • Und was hat das mit dir zu tun?
  • Mein Frauchen hat zuerst die tollen Dessous weggelegt, in eine enge Schublade. Neben mir wurden nur noch bequeme Baumwollunterhosen und BHs verstaut. Ich war auf einmal ganz allein mit meiner feinen Spitze und der weichen Seide.
  • Oh, das tut mir leid, aber dein Frauchen hat dich doch ab und zu noch getragen, oder?
  • Nein, nachdem das Kind auf die Welt gekommen ist, wurde ich immer mehr in eine Ecke getrieben und eines Tages hatte sie die tolle Idee, alte Klamotten in diese Plastiksäcke zu stecken, du weißt schon, die mit der Schrift "Altkleidersammlung".
  • Und du warst auch dabei, stimmt's?
  • Genau. Deshalb bin ich hier.
  • Unsere Geschichten sind schon traurig, oder?
  • Das kannst du sagen. Sind wir denn so häßlich oder unbequem, daß uns Keiner mehr will?

Auf einmal spricht ein drittes Unterhemd.

  • Hallo ihr beiden, tut mir leid euch zu stören, aber ich habe eure Geschichten mitgehört.
  • Oh, hallo! Wie wäre es mit einer Vorstellung?
  • Natürlich. Ich bin ein rotes, kleines, Baumwollunterhemd für 2-jährige Kinder. Auf meinem Bauch ist ein ganz großer Braunbär gemalt, ich gefalle den Kindern, so wie ich meinem Herrchen gefallen habe.
  • Du hast also auch eine Vergangenheit, die du vermisst und die dich jetzt traurig stimmt?
  • Eine Vergangenheit habe ich schon, aber traurig bin ich nicht, im Gegenteil. Aber ich möchte euch erst meine Geschichte erzählen, dann versteht ihr, was ich meine.
  • Sehr gern, wir sind ganz Ohr.
  • Also mein Herrchen war viel kleiner als eure, er war erst anderthalb Jahre alt, seine Oma hatte mich in einem Kinderbekleidungsgeschäft erworben und es war Liebe auf den ersten Blick: ich war das Lieblingsunterhemd von meinem Herrchen. Ich wurde ständig getragen, ich war dauernd in der Waschmaschine, denn mein Herrchen hat mich mit allem möglichen bekleckert. Aber meine Qualität wurde dauernd gelobt, die Mutter des Kindes musste sogar zugeben, dass ihre Schwiegermutter ein tolles Unterhemd gekauft hatte, denn nach dem vielen Waschen war ich immer noch perfekt.
  • Das klingt ja toll, es war bestimmt interessant, ein Unterhemd von einem kleinen Kind gewesen zu sein.
  • Das kannst du wohl sagen. Es war ein tolles Leben.
  • Aber jetzt bist du hier.
  • Das schon, aber ich bin nicht traurig, noch habe ich Angst vor der Zukunft, so wie ihr.
  • Und woher kommt das?
  • Das erzähle ich euch jetzt: mein Herrchen ist natürlich gewachsen, ich allerdings nicht. Deshalb fing seine Mutter an, andere Unterhemden zu kaufen, sie probierten sogar im gleichen Geschäft, wo seine Oma mich gekauft hatte, aber die hatten mich nicht in anderen Größen. Sie kauften andere lustige und bunte Unterhemden. Die hat mein Herrchen aber nicht anziehen wollen. Er wollte nur mich, aber dann kam der Tag, an dem er selbst eingesehen hat, dass ich nicht mehr passte. Ich war wirklich zu eng, er steckte in meinem Stoff, sein Bauch quillte hervor, der Abstand zu den Unterhosen war enorm. Es gab natürlich Tränen, mein Herrchen weinte, aber seine Mutter hatte ihn getröstet und wißt ihr, was sie gesagt hat?
  • Nein! Nun sag schon!
  • Sie sagte, dass ich noch lange nicht weggeworfen werde, sie sagte, dass ich noch vielen Kindern Freude bringen kann. Sie sagte, dass mein Herrchen nicht traurig sein darf, weil ich ihm mehr als einem Jahr lang ein treues Unterhemd war und er das nicht vergessen wird. Sie sagte auch, dass ich in die Altkleidersammlung komme, wo ich von Leuten sortiert und zu einem anderen Herrchen oder Frauchen gebracht werde. Ein zweites Leben wird für mich beginnen und ich darf wieder besabbert werden, und ich bin mir sicher, dass es noch viele Momente geben wird, in denen ich mich nützlich fühle und darauf kommt es an. Und das gilt für euch genauso. Ihr seid noch nicht am Ende, das hier ist kein Abfall. Das Leben geht weiter, ihr habt schon viel erlebt, aber es gibt noch vieles mehr. Hier, in dieser Halle, ist unser Anfang zu einer neuen, aufregenden Zukunft. Eine Reise beginnt und das Ziel ist ungewiss, aber bestimmt kommen wir alle zu einem Herrchen oder Frauchen, der oder die uns braucht und mit dem oder der wir noch viel erleben werden.
  • Mensch, du bist der kleinste von uns, aber der klügste. Daran habe ich nicht gedacht. Du hast recht. Es ist noch nicht zu Ende, wir werden noch gebraucht! Danke, liebes Braunbärkinderbaumwollunterhemd.
  • Gern geschehen, gute Nacht.
  • Gute Nacht.

Und somit endet das Gespräch.

Was die drei Unterhemden allerdings nicht wissen und nur die Leser bestimmt schon erahnt haben ist Folgendes: alle drei Unterhemden gehörten zur gleichen Familie. Der 28-jährige Maurer ist der Vater, die feurige Spitzendessous-Trägerin die Mutter und der kleine Junge, der sein Unterhemd liebte, ist ihr Sohn.

ENDE


 

Hallo Rob,
Danke für Deine Hilfe, bei einigen "Korrekturen" gebe ich Dir recht, einige Sätze haben zu viele Wörter, die nur in die Irre leiten und nicht viel Sinn geben, sondern von mir vom "Gesprochenen" einfach nur getippt wurden (Beispiel Ecke - Wand).

Tut mir leid, dass Dir das Schicksal meiner Unterhemden nicht zusagt, ich finde dieses Thema sehr originell. Man schenkt abgetragenen Kleidungsstücken nur oberflächliche Beachtung und denkt normalerweise nicht, was solch ein lebloses Stück Stoff sagen würde, wenn es ein Gehirn hätte. Ich schon. Was wäre, wenn....

Dann fand ich das Ende, dass diese drei Unterhemden zur gleichen Familie gehören sehr romantisch und die Moral der Geschicht? Unterschätze Unterhemden nicht!

Zu Deiner Frage der Zielgruppe kann ich nur sagen, dass ich mich freuen würde, wenn Leser darüber schmunzeln und nach dem Lesen ihre Unterhemden mit einem Grinsen aus dem Schrank oder der Schublade ziehen würden. Altersgruppe von 12 bis 99, eine Kurzgeschichte zum Abschalten und mal um auf andere Gedanken zu kommen.
Ciaooo
Sandra

 

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