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Die Wiedervereinigung

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20.02.2013
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Die Wiedervereinigung

Prolog:

„Deutschland.
Grauhaarige Kleinstädter reden über Autofarben. Isolationshaft im parkenden Volkswagen. Drüber der Nachthimmel, blau; die Sonne ging ohne Untergang. Hinten die Altstadt. Verkehrsschilder nicht weit weg. Führen nicht weit weg. Neonlichter weisen den Weg zu Postamt und Apotheke. Sonnenloser Sommer, Winter ohne Schnee.
Ein Hundertwasserhaus in Schlachtschiffgrau.
Deutschland.“​

Kostja legt den Stift weg, ehe er noch beschließt, seinen Namen darunter zu setzen.

Vor den aufsteigenden Wolken der Zementfabriken schieben sich dunkle Punkte, vielleicht noch nicht ausgestorbene Adler, vielleicht Flugzeuge, die zwecks Landung am Flughafen in die Tiefe sinken. Vielleicht Tauben, die aus der Stadt flüchten. Wer kann es ihnen verübeln?
Dresden ist selbst an seinen besseren Tagen das schwarzweiße, rauschende Standbild eines defekten Fernsehers. Der Zug rast in wahnwitzigem Tempo durch die Landschaft, während die Strommasten immer wieder den Rahmen des gleichen Porträts formen: Dresden bei Dämmerung. Dresden bei Dämmerung. Dresden bei Dämmerung. Kostja würde am liebsten die Fensterscheibe seines Abteils zerschlagen, auf dass die sich ihm bietende Szenerie sich mit ihr verflüchtigt, sich als von Kinderhand schlecht gemaltes Bild herausstellt. Ist die ihm entgegen blickende Tristesse ein Gemälde? Oder nur ein Spiegelbild der eigenen Seite?
Die hässliche Frau mittleren Alters neben ihm erleidet einen Hustenanfall. Die Wolke aus verpesteter Atemluft wandert, durch die beißende Kälte sichtbar, zu Kostja herüber und löst sich vor seinem Gesicht auf. Das Grau der Großstadt zwingt ihn zum Blinzeln. Seine Augen fühlen sich gerötet an, aber er wagt es nicht, die Hände aus der schützenden Wärme der Innentaschen seiner Jacke zu nehmen. Bald, mit dem Honorar in seinem Besitz, würde ein Besuch beim Arzt sein erstes Anliegen.
Zeit für Reflektion. Kopf in die Lehne pressen, Augen sanft schließen.

Körper:

Privatdetektiv Kostja Skrzypietz. Der Titel war das Beste an ihm, so vieldeutig, so interessant. Welchen Beruf konnte ein Mann schon noch ausüben, der die Magie in sich trug, die man sich als Kind erhofft hatte?

Eines Morgens, wenn in seinen Adern mehr Wodka als Blut floss, war er über den Zaun eines Kindergartens zu den im Sandkasten mit Autos spielenden Dreijährigen geklettert. Zwei riesige Augenpaare, eines elektrisch blau, eines stählern grau, zu ihm blickend.
„Frisst Sand.“, hatte er gesagt und sich selbst eine Handvoll in den Mund geschaufelt, „Lauft morgen vor ein Auto. Fasst in die Steckdose. Nehmt Mutters Vibrator mit in die Badewanne. Ihr werdet nie in den Burgen wohnen, die ihr hier baut. Für euch kommt kein Brief aus Hogwarts. Ihr werdet nie Harry sein, ihr werdet nie eine Sally haben. Ich bin Peter Pan, hört auf mich. Überspringt alles, was nach dem Tag mit den Schultüten kommt! Glaubt nicht ein Wort, das die großen Männer von sich geben. Ihr sitzt gerade in Nimmerland. Grabt euch ein und verlasst es ja nicht!“

„Nimmerland? Ist das Ihr Ernst?“, kicherte Theo Breminger und krallte seine Fingernägel in den Stoff seiner Anzughose. Als Kostja ihm dann erzählte, wie die Betreuerinnen ihn hatten gewaltsam aus dem Sandkasten entfernen müsste, übertönte er mit seinem Gelächter sogar die frenetisch zwitschernden Spatzen in den Apfelbäumen.
„Wie ist es weitergegangen?“
„Die Frauen haben die Polizei gerufen. Den Rest des Vormittags saß ich in der Ausnüchterungszelle.“
Das exakt gleiche Lachen schlug Kostja ins Gesicht. „Und dann?“
„Verwarnung und Bußgeld natürlich.“
„Und dann?“
„Wie meinen Sie das?“
„Wie ist es weitergegangen?“
Kostjas irritierter Blick wich zur Seite aus. Statt den schwarz getönten Brillengläsern und weißen Zähnen verwöhnte nun das perfekte Grün des sie umgebenden Gartens seine Sehzellen. Darüber der wolkenlose Himmel. Saß er in einem Gemälde von Cézanne? „Nun… Seitdem vermeide ich betreffende Straße. Die Kinder weinen, wenn sie mich sehen.“
„Herrlich!“ Die Sonnenbrille, in der sich bisher das Sonnenlicht so stark gespiegelt hatte, dass Kostja sich wie von zwei Scheinwerfern beleuchtet gefühlt hatte, nahm der Schnösel jetzt ab. Als Kostja in die strahlend blauen Augen seines Gegenüber sah, änderte sich sein Gefühl jedoch kein bisschen. Hoffentlich hatte Theo sie nicht von seinem Vater geerbt, da Kostja so Schwierigkeiten hätte, zu seinem Auftraggeber Augenkontakt herzustellen. Was ein Jammer wäre. Personen, die einen Detektiv zum Enthüllen von Geheimnissen anheuerten, waren meistens selbst das faszinierendste Geheimnis.
Menschen lassen sich lesen. Er wusste das, er arbeitete nach diesem Prinzip. Die dunklen Augen der Dorfbewohner beherrschte er, sie stellten keine Herausforderung dar, anders als die blauen Kaleidoskope, mit denen Theo Breminger ihn traktierte. „Sie sind sich doch der Risiken bewusst, Herr Skrzypietz?“, wechselte er das Thema. Er sprach den Namen korrekt aus, anders als die meisten Deutschen.
„Welche Risiken?“
„Wissen Sie das nicht? Ich war im Glauben, ein Detektiv führe ein gefährliches Leben.“
„Ich habe Übung. Das Schnüffeln, das Weglaufen, steckt in meinen Genen. Der Storch hat mich über der Straße fallen lassen, ich habe meine Eltern selbst recherchieren müssen. Das war mein erster Job.“
Der junge Mann schenkte ihm einen langen Blick und lehnte sich zurück. Der Sonnenschirm legte sein Gesicht in Schatten. Seine Augenhöhlen waren jetzt nicht mehr als die dunklen Flecken eines Rorschachmusters, worüber Kostja Erleichterung verspürte, gleichzeitig aber Furcht vor der Sekunde, in der das Blau ins Licht zurück kehrte. „Wenn wir nur mehr Zeit hätten. Wir würden einen renommierteren Profi anheuern, verzeihen Sie mir. Doch die Uhr tickt. Wenn der Kuckuck nach draußen springt, ist es aus und vorbei.“
Kostja nickte. Einer der Spatzen schrie jetzt besonders laut.
„Kein verletzter Stolz?“
„Nein. Es ist ein Job. Sie sind der Anwalt meines Klienten. Mein Ego steht hinten an.“
Theo richtete sich in seinem Liegestuhl auf. „Ich glaube, Sie haben das Zeug dazu, den Job zu meistern.“, meinte er besonnen und verbarg seine Augen wieder hinter der Sonnenbrille.
„Mag sein.“
„Wenn Sie dem Dämon Alkohol fern bleiben?“
„Ich trinke nie nach der Mittagszeit. Ich arbeite nie vor der Mittagszeit.“
„Das muss genügen. Vater vertraut auf mein Urteil, ich vertraue auf meinen Instinkt, und mein Instinkt sagt, Sie werden sie finden.“
„Wer ist sie?“
Der Snob stand auf und wies mit dem Arm auf die majestätische Villa, die auf der anderen Seite des Gartens in den blauen Himmel ragte. „Folgen Sie mir.“

„Nächste Haltestelle: Dresden Hauptbahnhof. Ankunft in 5 Minuten. Die Deutsche Bahn dankt, dass Sie mit uns gefahren sind.“ Die Maschine, aus dessen Mund die Durchsage kommt, ist sie ein Computer oder ein Mensch? Die hässliche Frau neben ihm rutscht unruhig auf der Sitzbank umher, aber Kostja bleibt ganz ruhig. Er weiß, was am Bahnhof auf ihn wartet. Er ist auf die jüngere Frau fixiert, die schlafend in der Ecke der gegenüberliegenden Bank kauert. Nach einigen Sekunden starrt er wieder aus dem Fenster.

Theos Vater hatte es nie in die Tagesschau geschafft, aber in der Branche galt er als Koryphäe des vergangenen Zeitalters. Ein Mann, der als Wirtschaftslegende aufblühte, als Patriarch jedoch verwelkte. Seine Kinder verstarben früh, die meisten als Säuglinge, die Mütter wurden verstoßen. Je faltiger seine Haut, gebrechlicher seine Knochen und fauliger sein Gehirn, desto mehr zog er sich zurück in sein prunkvolles Anwesen, das er nach dem Krieg erworben hatte. Der frühere Eigentümer war während der Invasion der Sowjets ums Leben gekommen. Adam Breminger würde keinen Krieg brauchen, um vom Tod eingeholt zu werden.
Bodenfließen, bernsteinfarben, verwandelten Theos Schritte in Explosionen innerhalb eines Vakuums. Kostja, dicht hinter ihm, verursachte weniger Lärm, er schlich wie er es zu tun pflegte. Die Vorhänge schirmten den Raum von einem Großteil der Sonne ab, nur ein schmaler Streifen gleißenden Lichts fiel auf den Schoß des alten Mannes.
Theo gab dem Detektiv Weisung, vor der Frontseite des Krankenbetts stehen zu bleiben, und beugte sich dann zu dem nackten Körper herunter, der auf dem weißen Laken aufgebahrt war. Kostja glaubte, in den Schlitzen der geschlossenen Augen einen blauen, fast verblassten Schimmer wahrzunehmen. Bewegten sich die Lippen des Alten? Es musste so sein, denn Theo richtete sich erst nach vielen quälenden Minuten wieder auf. „Mein Vater wartet seit zehn Jahren auf diese Chance. Sein Wunsch ist es, der ihn ans Leben klebt. Auch wenn es sein letzter sein sollte.“
„Ein Wunsch?“
„In der Dämmerung dieses Jahrzehnts gab es diesen Tag, in dem sich das Gesicht einer ganz bestimmten Person in sein Gedächtnis brannte. Er will sie finden, und er will sie haben, ehe er abtritt.“
Kostja fröstelte. Die Wände aus Marmor isolierten den Raum von der Wärme des Spätsommertages. „Wer ist es?“
„Er sah sie nie persönlich. Er kennt sie aus Videos.“
„Ein Filmstar?“
„Fast.“
„Ein Model?“
„Es wird wärmer.“ Theo seufzte, als eine Antwort ausblieb. „Herr Skrzypietz, Sie sind sich absolut sicher, dass Sie ein Kind unserer Generation sind?“
„Oh… Oh. Ich verstehe.“
„Wunderbar. Vaters Gedächtnis ist seit geraumer Zeit beeinträchtigt, aber wir haben ein Bild von der Dame vorliegen. Waren Sie als Ermittler schon einmal im Erotikmilieu unterwegs?“
„Nein.“
„Dann wird das Ihre Jungfernfahrt.“ Der Sohn strich über die Stirn des Vaters wie einen unwahrscheinlich kostbaren Schatz. „Seine Uhr nähert sich der letzten Runde. Ich empfehle Ihnen ein schnelles Agieren, wenn Sie an dem Honorar interessiert sind.“
„Von welcher Summe sprechen wir?“

„Eine Milliarde Euro.“ Theo trommelt mit den Fingerspitzen auf dem Koffer, den er auf seinen Schoß abgelegt hat. Er war plötzlich einfach da, Kostja hat ihn nicht eintreten sehen. Das Grau vor seinem Fenster hat ihn stärker hypnotisiert als er ertragen kann. Der Zug ist zum Stillstand gekommen. „Sie sehen, mein Vater hält sein Versprechen.“, fügt der Schnösel hinzu.
Kostja ist anderswo. Er würde ihn so gerne anschreien. Ich weiß Bescheid, aber ich fragte nicht danach. Stattdessen krümmt er sich nach vorne. In seinem Rucksack kramt er nach dem Porträt.

„Ein Porträt?“
„Das Bild wurde einige Wochen vor dem Verschwinden der Frau geschossen. Betrachten Sie ihre Karriere als eintägiges Feuerwerk. Sie liefert Bildmaterial, über das die Männerwelt heute noch sabbert, an einem einzigen Arbeitstag, und taucht dann unter. Die Anfrage nach neuen Werken ist gigantisch, aber ich habe keine wirtschaftlichen Hintergedanken. Vater will diese Frau besitzen, das ist sein letztes Begehren. Wenn ich seine Asche ins Meer streue, will ich das in der Gewissheit tun, ihn mit einem finalen Tribut loszulassen. Ich schulde ihm das Happy End.“ Theo drückte dem Detektiv eine silbern laminierte Kreditkarte in die Hand. „Zu Ihrem eigenen Wohl prüfen Sie besser nie den Kontostand. Kaufen Sie. Was immer für die Erledigung des Jobs nötig ist, kaufen Sie es.“
„Sie vertrauen mir?“
„Nein. Aber ich glaube an Sie.“ Theo reichte ihm die Hand. „Sie erhalten Ihr Honorar bei der Rückkehr.“

Es ist still geworden im Abteil. Eine Durchsage zerbricht die gläserne Haube des Schweigens, die Theos Präsenz des über den Raum gelegt hat.
„Abfahrt in 5 Minuten. Bitte wählen Sie einen Sitzplatz. Die Deutsche Bahn bedankt sich, dass Sie sich für unseren Service entschieden haben.“
Wie oft hatte er die die Stimme aus Metall gehört?

Nächster Halt: Berlin.
Nächster Halt: Oranienburg.
Nächster Halt: Schwerin.
Nächster Halt: Hamburg.

Das Taxi fuhr seitlich auf den Bürgersteig, um auch noch den letzten bezahlbaren Meter aus der Fahrt heraus zu quetschen. Kostja stieg eilig aus, spannte seinen weißen Regenschirm über sich, um sich vor der himmlischen Sinflut zu schützen, und schlug die Wagentür mit aller verbliebenen Kraft zu. Der Versuch, eine Zigarette anzuzünden, scheiterte kläglich: Die Regentropfen rannen durch den undichten Schirm, auf Kostjas durchnässte Wollmütze, von dort auf das Gesicht des Privatdetektivs, von den Lippen die Zigarette hinab bis zur Spitze, wo sie das aufbäumend glühende Feuer just in der Sekunde auslöschten, in der es geboren wurde.
Die fünfzig Meter, die ihn und das Hotel voneinander trennten, gestalteten sich zur eigenen Odyssee. Einen pochenden Herzschlag nach seinem ersten Schritt setzten die Sturmböen ein, die Winde rissen seinen Schirm aus der Hand und fegten ihn außer Reichweite, die Kälte schlug ihre Klauen tief in Kostjas Lunge und höhlte sie aus, bis er nach Luft schnappend zusammenbrach. Die nächste Böe schlug seinen Mantel auseinander. Die offenen Innentaschen entleerten sich, Geldbeutel, Kreditkarte, Notizbuch, Adressbuch, Handy, das Porträt, alles nahm der Sturm in seine Gewalt. Kostja zwang sich zum Aufstehen, um das Seine zurück zu gewinnen.
Das Adressbuch entglitt seinen Fingern, als er es greifen wollte, das nasse Papier riss und schwamm in den Pfützen zwischen dem Pflasterstein davon. Als er den Geldbeutel entdeckte, realisierte er zu spät, dass er geöffnet war. Ein buntes Konfetti aus Geldscheinen wirbelte in die Höhe, für immer verloren, wie die Kreditkarte, deren silbernes Glitzern in auf den Stein hämmernden Kaskaden unterging. Die Welt wurde Opfer der Apokalypse wie ein frisches Gemälde, über das ein Eimer Wasser gegossen wird. Die Farben und Formen verschwammen untereinander, Symmetrien lösten sich auf, aus Architektur wurden Flecken, aus dem Himmel wurde ein Ozean, aus dem Ozean ein Himmel. Nur auf eines noch richtete die Welt ihre Scheinwerfer, ein von Holzrahmen umschlossenes Foto, auf das Kostja zu stolperte, sogleich er es ins Auge fasste. Den Sturm mit seinem eigenen Körper abschirmend, strich er über das zerbrochene Glas, hinter dem ihm eine junge Frau entgegenblickte, deren herzförmige Sonnenbrille ihre Augenpartie vor den Blicken der Welt schützte.
Penny Lane. Dolly Alley. Winnie Jean. Mandy West. Namen sind nur Variablen.

Nächster Halt: Bremen.
Nächster Halt: Osnabrück.
Nächster Halt: Münster.
Nächster Halt: Duisburg.

Der Putz an den Wänden der Wohnheime bröckelte, während im Innern des Gebäudes die Einzimmerwohnungen vor gesichtslosen Einwohnern überquollen. Die Statistiken sprachen von Millionen, die Straßen sprachen von ein paar einsamen Gestalten, die zur nächsten Haltestelle eilten. Einer von ihnen war Privatdetektiv. Kostja hatte den ganzen Morgen lang Mut trinken müssen, um sich in den Stunden nach der Mittagszeit durch den Magen der grauen Bestie Ruhrgebiet zu winden, ohne von ihr verdaut zu werden. Die knirschenden Worte eines Informanten unter einer Laterne führten ihn zum Club TRUEBLUE, ein zylinderförmiges Gebäude mit der Aura des Postmodernen. Die Sonne balancierte auf dem Horizont, als würde sie sich nicht verabschieden wollen. Die Nacht war noch nicht geboren, und dennoch strömten die Dämonen Electro und Trap aus den rot umrahmten Fenstern und Türen wie Geysire, flossen auf die Straße hinaus und spülten Kostjas Tapferkeit fort wie Sand.
Ollie Block war der Name, den sie hier übernommen hatte. Ihre Vergangenheit war ein Aufsatz voller Fehler, Zusätze und Korrekturen: Kein Informant, war er noch so überzeugt von seiner Theorie, hatte ihm eine klare Definition der Frau geben können. Der Kontaktmann in Duisburg enthüllte ihm jedoch das Asyl der Schönheit.
„Sie lebt dort?“, hatte Kostja nachgehakt.
Der riesige dunkle Mantel des Informanten verbarg jegliche Gestik oder Mimik seines Trägers. „Sie versteckt sich. Fragen Sie nicht, vor wem, die Schlampe weiß es gar nicht. Vor allen Männern der Welt, schätze ich. Machst du Filme wie sie, wird es immer einen Kerl geben, der dich jagt. Aber das muss ich Ihnen ja nicht erklären.“

Theo klopft mit der freien Hand im Takt von Beethovens Neunter auf sein Bein, während er das Porträt betrachtet und mit der jungen Frau abgleicht, die schlafend mit heran gezogenen Knien auf der Bank kauert. Vorhin hat sie gefriert und sich über die ausgefallene Klimaanlage beklagt. Für den frühen September ist es sehr kalt. Kostja hätte ihr seine Jacke gegeben, hätte er sich nicht vor dem Kontakt mit ihr gefürchtet.

Eintausend junge Seelen, die auf den leuchtenden Bodenfließen einen Regentanz aufführten, auf dass eine Sinflut kommen und das der Stadt das Grau abwaschen würde. Eintausend Volt, die durch ihren Körper jagten. Eintausend Herzschläge in der Minute, SCHNELL und LAUT, ein mehrere Stunden anhaltender elektrischer Schlag, bis du zu Staub zerfällst, das ist TRUEBLUE, das ist Kostjas Albtraum. Münder von attraktiven, unerotischen Frauen taten sich unmittelbar vor seinen Ohren auf und brüllten ihm Dinge zu, die er nicht verstand. Eine Hand legte sich kurz auf seine Schulter, vielleicht ein Tänzer, vielleicht ein Betrunkener, doch als Kostja nach hinten blickte, war die Person schon wieder im menschlichen Ozean verschwunden.
Der einzige Barkeeper schenkte ihm nur für den Bruchteil eines Herzschlags seine Aufmerksamkeit, bevor er sich zwei Mädchen in knappen Shorts widmete. Zu einer von ihnen beugte er sich nach vorne und küsste sie. Kostja stützte sich frontal an die Theke und legte den Kopf nach hinten. Ein roter Schriftzug blitzte ihm entgegen; unlesbar. War es das Event dieser einen Nacht?
Neben ihm schrien vier Mädchen ihre Begeisterung aus der Lunge, während sechs identisch aussehende Jungs sie belagerten wie Schaulustige eine Unfallstelle. Kostja zwang sich, die Augen starr nach vorne gerichtet zu halten.

„Ich erwarte ein detailliertes Protokoll von Ihnen.“, meint Theo mit dem Ausdruck klinisch reiner Glückseligkeit im Gesicht. Seine blauen Augen funkeln in das tote Abteil hinein. „Eine Geschichte wie diese schreit nach einem Protokoll.“ Kostja schüttelt den Kopf.

„Für acht Euro gibt’s so viel Sie wollen. On the Rocks? White Russian?“ Kostja brachte ein Kopfschütteln zustande und streckte sich über die Theke. „Ich möchte jemanden treffen! Jemand Besonderes! Sie wird gesucht! Seit zehn Jahren!“ Die von ihm abgenötigte Lautstärke schmerzte seinem Hals, aber er verzog keine Miene. Er war so nah am Ziel.
„Jeder will das.“, erwiderte der Barkeeper irritiert.
„Ollie Block!“
„Nie gehört.“
„Penny Lane!“
„Nein!“
„Dolly Alley! Winnie Jean! Mandy West!“ Die Summe der Namen machte den Unterschied. Der Arm des Barkeepers wies auf eine Treppe, die in ein höheres Stockwerk führte.
Mit einem majestätischen Glockenschlag aus dem Nichts wurde Mitternacht eingeläutet, die Menschen schrien auf, Kostja wusste nicht mehr, ob in Ekstase oder aus Todesangst. Eine unsichtbare Hand aktivierte die Nebelmaschine. Der hämmernde Bass und die abgehackten Gitarrensounds synthetisierten sich in einen akustischen Hornissenschwarm. Kostja löste sich von der Theke und eilte zur Treppe, so schnell ihn seine zitternden Beine trugen.

„Ich wusste, mein Glauben an Sie wird Früchte tragen. Ich möchte Ihnen, Herrn Skrzypietz, im Namen meines Vaters von tiefstem Herzen danken.“

Die Treppenstufen waren so sehr beleuchtet, dass die untere Hälfte des Detektivs im roten Glühen verschwand, und als er zurück blicken wollte, war die Blendung so stark, dass er beinahe stolperte. Der Lärm auf der Tanzfläche nahm nicht ab, nur die Frequenz änderte sich. Die Menschen feierten weiter, als das Glockenläuten schon lange verstummt war. Kostjas Hände suchten nach einem Geländer, doch es gab keines. Kapitulierend ging er in die Knie und tastete sich auf allen Vieren nach oben.

„Ich hoffe, das Honorar ist eine befriedigende Vergütung der Unkosten, die Sie auf sich nehmen mussten.“ Theo öffnet den Koffer und schiebt ihn auf den Schoß seines Gegenübers. Kostja sieht nach unten: Silberne Kreditkarten. Hunderte. Ihm wird übel.

Endlich erreichte er die verschlossene Tür und klopfte. Das Holz war dunkel, fast schwarz, und beanspruchte das komplette Blickfeld des dicht davor stehenden Mannes für sich. Sein Atem schlug gegen die Tür.

Theo legt den Kopf schief wie ein Kind in Anbetracht eines Mysteriums. „Sie sehen aufgewühlt aus. Hatten Sie während dem Job Probleme?“

Kostja wartete und drückte sich gegen die Tür, während er bereute, nicht betrunken zu sein wie der Rest des TRUEBLUE. Jeder schrie hier, nicht auf Kinder vielleicht, sondern ohne Ziel, was vielleicht nichts anderes war. Die Tür öffnete sich.

Kostjas Blick wandert von den silbern glitzernden Kreditkarten zu Theos

leuchtend blaue Augen, die ihn anstarrten. Die Frau war klug, sie hatte die Tür nur um einen schmalen Spalt geöffnet, aus dem sie ihn irritiert musterte. Ihr Name war eine Variable, doch ihr Gesicht eine Konstante, klinisch reine Schönheit. Kostja gefror in ihrem Blick. Elektrischer Saphir, ein funkelndes Kaleidoskop, das ihn traktierte. „Was wollen Sie?“

Nächster Halt: Arnsberg.
Nächster Halt: Jena.
Nächster Halt: Chemnitz.
Nächster Halt: Dresden.

„Dreitausend Euro.“, wiederholt die junge Frau mit Nachdruck und rückt ihre beim Schlaf verrutschte Sonnenbrille zurecht. Theo hat sie mit einem Kuss auf die Lippen aus ihrem langen Schlaf geweckt. „Für eine Nacht.“, fügt der Schnösel hinzu und reicht ihr die Hand, „Mein Vater wird sein Versprechen halten, auch wenn es sein letztes sein sollte. Sie erhalten Ihr Honorar bei der Rückkehr.“
„Und wo ist er?“
Theo streckt den Arm zur Tür des Abteils aus. „Folgen Sie mir.“ Den Arm um ihre Schultern gelegt, führt er sie behutsam nach draußen, wie einen unwahrscheinlich kostbaren Schatz.

Epilog:

Kostja blinzelt, und er ist wieder allein. Der Zug fährt weiter.
Die Kälte breitet sich im Abteil aus, schleicht in seine Lungen und höhlt sie aus, bis er auf der Sitzbank zusammensinkt. Ohne es zu bemerken, landet sein Kopf in dem Schoß der hässlichen Frau. Ihr faltiges Gesicht schaut auf ihn herab. „Schlimmen Tag gehabt, wa‘?“, murmelt sie mit aller Mütterlichkeit der Welt und streichelt seinen Kopf. Kostja antwortet nicht. Seine Augen sind auf das Fenster gerichtet, die Szene jetzt kopfüber betrachtend, doch das Bild hat sich nicht geändert. Vor den aufsteigenden Wolken der Zementfabriken schieben sich dunkle Punkte, vielleicht noch nicht ausgestorbene Adler, vielleicht Flugzeuge, die zwecks Landung am Flughafen in die Tiefe sinken. Vielleicht Tauben, die aus der Stadt flüchten. Wer kann es ihnen verübeln?

 

Hallo Sticks!

Die Geschichte ist gut und farbig geschrieben. Kostja wird dadurch lebendig. Ich kann seinen Charakter einschätzen, kenne seine Weltanschauung. Am Ende kann ich sagen, ja, der Kostja, da hat der Erzähler eine interessante Figur erschaffen.
Aber aus der Sicht des Krimilesers hängt an der Figur dann einfach zu wenig dran. Die Spannung, das Abenteuerliche, bleiben auf der Strecke.

„Sie sind sich doch der Risiken bewusst, Herr Skrzypietz?“, wechselte er das Thema. Er sprach den Namen korrekt aus, anders als die meisten Deutschen.
„Welche Risiken?“

Ja, welche Risiken? Es gibt keine, in der Geschichte. Alles geht so verdammt glatt.
Selbst aus der Hamburg-Szene entwickelt sich nichts. Kostja verliert in Hamburg Adressbuch, Geld und Kreditkarte. Für seinen Job und auch für ihn persönlich jedoch bleibt es ohne Folgen. Warum wird es dann erzählt?

Dennoch, eine lesenswerte Geschichte.


Ein paar Dinge, die mir nebenbei aufgefallen sind:

„Wenn wir nur mehr Zeit hätten. Wir würden einen renommierteren Profi anheuern, verzeihen Sie mir. Doch die Uhr tickt. Wenn der Kuckuck nach draußen springt, ist es aus und vorbei.“
Mit dem Angebot eines unbegrenzten Budgets und einer fetten Erfolgsprämie lässt sich keine professionelle Detektei finden?

Eine Durchsage zerbricht die gläserne Haube des Schweigens, die Theos Präsenz des über den Raum gelegt hat.
Hinter „des“ fehlt etwas oder es muss raus.

Wie oft hatte er die die Stimme aus Metall gehört?
die die
Eine Stimme aus Metall ist mir zu abstrakt.

Die Wolke aus verpesteter Atemluft wandert, durch die beißende Kälte sichtbar,
Beißende Kälte im Zugabteil? Das wirft mich aus den Text.
Vorhin hat sie gefriert und sich über die ausgefallene Klimaanlage beklagt.
Aha. Aber diese Info kommt erst Seiten später!
gefroren

sie stellten keine Herausforderung dar, anders als die blauen Kaleidoskope, mit denen Theo Breminger ihn traktierte. „Sie sind sich doch der Risiken bewusst, Herr Skrzypietz?“, wechselte er das Thema.
Kostja Gedanken und Theos Rede durch Zeilenumbruch trennen.

Das Schnüffeln, das Weglaufen, steckt in meinen Genen.
stecken

Als er den Geldbeutel entdeckte, realisierte er zu spät, dass er geöffnet war.
Er realisiert da nix, er erkennt, entdeckt, stellt fest.

auf dass eine Sinflut kommen und das der Stadt das Grau abwaschen würde
… und der Stadt das Grau abwaschen würde

Jeder schrie hier, nicht auf Kinder vielleicht, sondern ohne Ziel, was vielleicht nichts anderes war.
Das „vielleicht“ ist hier fragwürdig und wie kann man auf Kinder schreien?

leuchtend blaue Augen, die ihn anstarrten. Die Frau war klug,
Leuchtend

Lieben Gruß

Asterix

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey Asterix,

Erst einmal vielen Dank dass du dir die Zeit genommen hast, die Story durchzulesen.

Die Geschichte ist gut und farbig geschrieben. Kostja wird dadurch lebendig. Ich kann seinen Charakter einschätzen, kenne seine Weltanschauung. Am Ende kann ich sagen, ja, der Kostja, da hat der Erzähler eine interessante Figur erschaffen.

Darin scheinen sich alle bisherige Kritiker einig zu sein; dass Kostja die große Stärke der Geschichte zu sein scheint. Was gar nicht meine Intention gewesen ist, aber mich umso mehr freut, weil ich mich mit Protagonisten generell schwer tue.

Ja, welche Risiken? Es gibt keine, in der Geschichte. Alles geht so verdammt glatt.
Selbst aus der Hamburg-Szene entwickelt sich nichts. Kostja verliert in Hamburg Adressbuch, Geld und Kreditkarte. Für seinen Job und auch für ihn persönlich jedoch bleibt es ohne Folgen. Warum wird es dann erzählt?

Da muss ich dir wohl oder übel recht geben. Eine meiner Schwächen ist es, dem Helden ernstzunehmende Hindernisse in den Weg zu legen. Das kann man einmal als Arthouse-Kniff tarnen, aber beim zweiten Mal wird's auffällig. Danke, dass du's so ungeniert offen gelegt hast.

Mit dem Angebot eines unbegrenzten Budgets und einer fetten Erfolgsprämie lässt sich keine professionelle Detektei finden?

Die Story baut ein bisschen auf dem Ignorieren vom Realismus. "Bigger than life", oder eher "Lower than life".

Eine Stimme aus Metall ist mir zu abstrakt.

Interessant. Wirkt es zu sehr wie ein Fremdkörper in einer eher nüchternen Sprache?

___________

Auch darüber hinaus ein Dankeschön auf die Hinweise auf Fehler in der Grammatik und Stilistik; ich werde den Text trotzdem nicht ändern, einfach weil ich eine leichte Phobie habe, eine abgeschlossene Geschichte zu editieren.

Jedenfalls - abermals - ein Danke für deine Zeit, die du meiner Geschichte gewidmet hast!

Liebe Grüße,
Sticks

 

Hallo Sticks,

die Handlung scheint mir etwas zu dünn: nur eine erfolgreiche Suche?
Aber sprachlich und rhythmisch ist der Text teilweise sehr gelungen, manchmal zu übertrieben: Nur ein paar Beispiele dafür:


Isolationshaft
Es gibt auch negativen Kitsch, zu übertrieben
Hinten
Wo ist vorne ...? die Altstadt. Verkehrsschilder
nicht weit weg
Von wo?. Führen
nicht weit weg
Wiederholung nicht spannend: Führen ins Grau?
Der Ansatz dieser Einleitung ist gut, aber einige Details müssten schärfer sein.
Was ist das Thema der Geschichte? Deutschland? Die Farbe Grau? Ein gescheiterter Dichter?
In welchem Zusammenhang steht diese Einleitung zur Handlung?
Sind die Orte, die genannt werden, wichtig? Dresden? Warum gerade Dresden?

Dresden bei Dämmerung. Dresden bei Dämmerung. Dresden bei Dämmerung.
Das passt gut.
Kostja würde am liebsten die Fensterscheibe seines Abteils zerschlagen, auf dass die sich ihm bietende Szenerie sich mit ihr verflüchtigt, sich als von Kinderhand schlecht gemaltes Bild herausstellt.
Schöner Satz

Eines Morgens, wenn in seinen Adern mehr Wodka als Blut floss,
Muss immer in Krmis bei irgendeiner Person Alkohol im Blut fließen?
, „Lauft morgen vor ein Auto. Fasst in die Steckdose. Nehmt Mutters Vibrator mit in die Badewanne. Ihr werdet nie in den Burgen wohnen, die ihr hier baut. Für euch kommt kein Brief aus Hogwarts. Ihr werdet nie Harry sein, ihr werdet nie eine Sally haben. Ich bin Peter Pan, hört auf mich. Überspringt alles, was nach dem Tag mit den Schultüten kommt! Glaubt nicht ein Wort, das die großen Männer von sich geben. Ihr sitzt gerade in Nimmerland. Grabt euch ein und verlasst es ja nicht!“

Sehr gelungene Szene

Menschen lassen sich lesen.
Menschen kann man lesen? (Blumenberg: Lesbarkeit der Welt)

Dämon Alkohol
Begriff wird zu oft verwendet; phrasenhaft und zu didaktisch

Das nur wenige Anmerkungen. Ich meine, dass der Text gute sprachliche Ansätze hat, die manchmal übertreibend über das Ziel hinausschießen. Eine Straffung wurde das Vergnügen des Lesers an der Lektüre erhöhen.
Herzliche Grüße
Wilhelm

 

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