Die Zensur
Die Zensur
„Eine nette und ruhige Schülerin, diese Petra.“ sagt die Deutschlehrerin Frau Heller zu Frau Wehner, Lehrerin für Mathematik der Unterstufe.
„Und so brav und ordentlich.“ stimmt diese ihr zu.
„Ja, das kann ich nur bestätigen.“ mischt sich nun Herr Opitz, der Heimatkundelehrer, ein.
So wurde im Lehrerzimmer noch eine Weile über die Schülerinnen und Schüler der Erstklässler gesprochen. Indessen klingelt es zur nächsten Unterrichtsstunde.
Für Petras Klasse steht die erste Zeichenstunde an. Frau Seiler, die Lehrerin betritt das Klassenzimmer und begrüßt die Kinder.
Alle sehen ganz gespannt nach vorn. Auch Petra. Diese Lehrerin kennen die Kinder noch nicht. Es ist ihre erste Zeichenstunde in der Schule.
Petra hat sich schon so auf diese Stunde gefreut, malt sie doch leidenschaftlich gern.
Frau Seiler möchte, dass alle Kinder ihre Malsachen auspacken und ein Bild zeichnen. Sie dürfen malen, was sie wollen, was ihnen lieb ist. Die fertigen Bilder sollen später an der Wand des Klassenzimmers aufgehängt werden.
Sofort entsteht ein reges Treiben. Oh je, einige haben gar keine Malstifte mit oder nur ganz wenige Farben. Andere Schüler wiederum packen Tuschkästen und große Buntstiftkisten aus.
Frau Seiler hat zum Glück auch noch Stifte und Papier bereit gelegt. Und nach und nach kehrt Stille ins Zimmer ein. Die Kinder sind ganz in ihre Aufgabe vertieft. Nur ab und zu läuft Peter mal zur Marlies oder Anne hin zur Ina, um die Farben zu tauschen.
Die Lehrerin geht langsam durch die Bankreihen, um sich anschließend an ihren Tisch zu setzen.
Petra malt ganz angestrengt. Die Zungenspitze lugt keck aus ihrem rechten Mundwinkel heraus, so als wollte sie mit ansehen, was da auf dem weißen Blatt Papier entsteht.
Da kann man ein Haus erkennen, mit Blumen im Vorgarten. Mit viel Phantasie sieht man einen braunen Hund im Gras sitzen oder ist es doch ein Kaninchen? Drei kleine Männchen werden Hand in Hand gezeichnet, eines davon kleiner in der Mitte stehend. Oben rechts aus der Ecke des Blattes leuchtet die Sonne grell, als beobachtet sie das ganze Geschehen.
Die Lehrerin steht auf und begibt sich zu einem weiteren Gang durch das Zimmer. An jedem Platz bleibt sie stehen, schaut auf die Bilder, nickt ab und zu, gibt Lob und Ratschläge. So erreicht sie schließlich Petra.
Stolz zeigt diese ihre Zeichnung.
Lächelnd betrachtet die Erzieherin das Machwerk, doch plötzlich verzieht sie das Gesicht.
„Nein! Aber so geht das doch nicht!“ Entrüstet mit dem Kopf schüttelnd nimmt sie es an sich.
Drrrrrrrrring!
Das Pausenklingeln beendet die Zeichenstunde. Die Lehrerin sammelt, immer noch kopfschüttelnd, die bemalten Blätter ein, verabschiedet sich und verlässt hastig den Klassenraum in Richtung Lehrerzimmer. Die Kinder und vor allem Petra bleiben ratlos zurück.
„Seht euch das doch nur mal an! Das ist doch unnormal! Das ist wider jeder Erziehungslehre!“
Aufgebracht zeigt Helga Seiler das Kunstwerk von Petra ihren Kolleginnen.
Viele nicken. „Das kannst du so nicht stehen lassen, Helga! Wenn wir es den Kindern in diesem Alter nicht einbläuen, dann lernen sie es nie!“ Ursel Wehner vertritt ihre Meinung rabiat. Auch Sonja Heller: „Wir sind dazu da, ihnen den richtigen Weg zu zeigen. Wo kommen wir hin, wenn jeder macht, was er will!“
Nur Kirsten, die Referendarin, wendet ein: „Aber das ist doch künstlerische Freiheit! Wieso sollten wir das einengen?“
Lehrer Opitz setzt noch einen drauf: „Wenn das mal nicht eine Sache für den Rektor ist!?“
Die Lehrerinnen haben sich vor dem Schreibtisch des Schulleiters versammelt und warten auf seine Reaktion.
„Man hole mir bitte die Schülerin!“ fordert er die Umstehenden auf.
Wenig später betritt Petra sein Zimmer und sieht ihn offenherzig an.
Er fragte das Kind „Was ist das?“ und zeigt aufs Papier.
Sie schaut und sagt „Na, die Sonne.“
Fragend sieht er das Mädchen vor sich an.
Sie, ihren Blick offen zurücksendend, spricht selbstbewusst:
„Meine Sonne ist pink!“