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Drang nach Freiheit

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17.10.2001
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Drang nach Freiheit

Manchmal wünsche ich mir, ich könnte fliegen.

Aber ich kann's halt nicht. Also denke ich auch nicht weiter darüber nach.

Na ja, das ist gelogen. Ich denke doch darüber nach, ziemlich oft eigentlich. Ich stelle mir vor, wie es wäre zu fliegen, während ich so am Zaun sitze und den anderen Vögeln dabei zuschaue, wie sie mit ihren zarten Flügeln den Himmel liebkosen. Ich beobachte dann, wie sie aufsteigen, wie ein gefiederter Christus ihre Flügel ausbreiten und sich dem Himmel entgegenstrecken. Meine Bestimmung hingegen ist es, hinter diesem Zaun in immer währender Knechtschaft zu leben.

Diener.

Das ist kein besonders tiefsinniges Wort, aber das ist es, was ich bin. Ein Diener für Mann, Frau und manchmal auch Kind. Jeden Sonntagmorgen kommt der stramme Junge des Alten in mein Gefängnis und schreit hämisch während er versucht, mich beim Hals zu packen und mich an sich zu drücken. Ich renne, er fängt mich trotzdem, drückt zu fest zu und ich habe Angst davor zu ersticken. Aber ich kann nichts machen, mein Leben ist nun mal das Leben eines Knechts.

Einmal kam er in meine Zelle und ich rannte mal wieder davon. Wie immer packte er mich, doch ich schlug mit meinem Schnabel und traf ihn unter dem Auge. Das Lachen verschwand aus seinen Augen und stattdessen trat Blut heraus. Er find an zu weinen und trat mich hart in die Seite. Der Schmerz in meinen Rippen verblieb den ganzen Tag ich und spuckte Blut und Schleim, aber das war es mir wert. Allein zu sehen, wie sich das Blut des Jungen mit seinen Tränen vermischte, war reichlich Genugtuung.

Man hatte mir auch einen furchtbar schandhaften Namen gegeben. Gallus domesticus, Haushahn. Gallus domesticus, so nennen mich ihre Wissenschaftler und Intellektuellen. Domesticus, das lateinische Wort, das mich als Diener klassifiziert. Gallus? Ich kannte noch ein ähnliches lateinisches Wort, nämlich Gallien. Gallien, von den Römern entdeckt, besiegt, erobert und versklavt. Gallus domesticus. Nun sag mir mal, wer hier besiegt und versklavt worden ist.

Die anderen Tiere um mich herum leben in Freiheit. Die Hunde des Bauern laufen frei auf dem Hof herum. Ich kann vom Zaun aus sehen, wie sie auch den Wiesen zwischen den Pferden und Kühen herumtollen, und beobachte, wie sie die Felder durchqueren und in den Wald laufen, um nach Hasen zu jagen. Auch bei ihnen ist Domesticus ein Teil ihres Namen, aber nicht Gallus. Die blöden Viecher fressen die Hasen nicht mal, brechen ihnen einfach das Genick und lassen die dann liegen, bis Bussarde sich ihrer bedienen und die Fliegen den Rest übernehmen. Sie haben ihre Instinkte fast völlig verloren.

"Warum fresst ihr die Hasen nicht?" habe ich sie gefragt.

"Ei, warum sollten wir? antwortete der dumme schwarze Labrador.

"Worin liegt der Sinn, wenn ihr sie einfach daliegen und vergammeln lasst?"

"Der Mann tut uns doch füttern, wir brauchen sie net fresse."

So verhielten sich die Hunde des Alten, sie waren dumme, verblödete Viecher.

Von mir sagen sie auch, ich wäre dumm. Man betrachtet mich als unwissendes Federvieh. Die Menschen haben das zuerst von mir behauptet, später übernahmen die Tiere deren Meinung einfach. Sogar die Kühe schauen auf mich herab und strecken ihre Nasen gen Himmel, wenn sie an mir vorbeitrotten.

Man sagt, der Kommunismus sei tot. Aber auf dem Hof, zwischen den Ställen, weht weiterhin die rote Fahne des Snobismus. Ich spiele einfach mit, tue so als wäre ich wirklich dumm, und warte.

Außer heute. Das Warten hat ein Ende.

Johann, der Bauer, der so tut als würde er mich besitzen, hat den Riegel meiner Zelle nicht richtig vorgeschoben.

Ich frage Bolle, das Schwein, ob er mit mir abhauen will.

"Nee", sagt der nur, "ick hab`s jut hier."

"Dur willst mir echt weismachen, dass du nicht wenigstens einmal in deinem Leben Freiheit kosten willst?"

"Wofür denn?" kam es aus dem Schweinerüssel. "Ick hab hier alles, watt ick brauch'."

"Ich meine ja nur, wir könnten doch wenigstens einmal sehen, wie es im Wald aussieht. Wir könnten sogar nachschauen, was dahinter liegt."

"Und was solln wir fresse? Fudder wächst nicht auf den Bäumen, weisste?"

"Ich lebe von dem, was die Erde mir gibt."

"Du träumst zuviel, Jungchen."

Und er trottete davon.

Ich war also alleine auf der Flucht. Auch gut, das fette Schwein hätte mir eh nur am Hintern gehangen.

Ich starrte das Tor im Zaun an. Um durchzukommen musste man bestimmt nur einmal richtig dagegen zu drücken. Also ging ich langsam darauf zu, behielt dabei das Haus des Alten im Auge. Nur noch ein paar Meter bis zum Tor. Ich gab Gas, schlug mit den Flügeln und rammte gegen das Tor. Es schwang auf. Ich war frei.

Ich machte mich sofort in Richtung Wald auf, der ausgestreckt vor mir lag. Zuerst musste ich aber über das Feld. Wie würde es im Wald riechen, dachte ich, wie wird sich die Luft im Wald anfühlen?

Die Hunde kamen aus dem Schatten der Veranda hervor und riefen mir nach.

"Hey, wo willste hin?"

"Der Alte wird sauer sein, wenn er dich erwischt!"

Tausend Dank für das Geschrei. Ich war schon auf dem Feld. Noch ein paar Hundert Meter und ich konnte mich im Dickicht des Waldes verstecken. Ich lief der Sonne direkt in die Arme, sie war mein Ziel, mein Versorger. Hinter mir hörte ich ein Tür zuschlagen.

"Wo willst du hin, Lester?" hörte ich den Alten rufen.

Ich wusste, ich konnte ihm davonlaufen. Er war alt, ich war jung. Seine Beine konnten ihn nicht so tragen wie meine Beine mich trugen. Ich begann, mit den Flügeln zu schlagen. Auf einmal kam mir der Gedanke, vielleicht doch fliegen zu können. Vielleicht konnte ich mich außerhalb der Käfiggitter und Stacheldrähte in die Luft emporheben und die Himmel ansteuern. Ich flatterte so fest ich konnte. Und hüpfte. Ich flog hoch, stieg auf und landete einen halben Meter weiter wieder auf dem Boden.

Ich hüpfte wieder, streckte die Flügel aus. Mein Körper zitterte als ich all meine Kraft zusammennahm und mich dem blauen Himmel entgegenstreckte. Ich blickte auf und sah über mir einen anderen Vogel. Ich schwöre, ich konnte ihn lachen hören als ich erneut auf den Boden plumpste.

Ich hatte den Alten gar nicht näherkommen hören. Als ich mich für den dritten Anlauf bereitmachte, packte er mich. Ich hatte das Feld gerade mal zur Hälfte überquert.

"Lester, komm her. Was ist denn in dich gefahren?" hörte ich den Bauern fragen.

Ich versuchte zu kämpfen, schlug ihm mit den Flügels quer über sein Gesicht, schnappte mit dem Schnabel. Seine Hände schlossen sich um meinen Hals und jeder Widerstand wurde zwecklos.

Mein Blick wurde vom Wald weg über das Feld und zurück zum Haus gerichtet, als er mich zum Stall und damit zurück in mein Elend trug. Der Alte lief forsch und ich ergab mich meinem Schicksal.

"Ich verstehe dich einfach nicht, Lester", sagte er. "Immer musst du Ärger machen."

Er trug mich über den Hof, aber nicht in den Stall. Ich war verwirrt. Stattdessen ging er mit mir hinter die Scheune. Wollte er mich etwa laufen lassen? Bei Gott, es kam mir so vor. Zum ersten Mal dachte ich daran, mit den Hunden zusammen umher zu tollen und Kaninchen zu jagen.

Was ich aber hinter der Scheune erblickte, liess mich erschaudern. Dort stand ein Holzklotz, und in dem Klotz steckte eine Axt. Das konnte er doch nicht machen! Ich war doch sein Knecht. Ich stand ihm doch zur freien Verfügung. Dann dämmerte es mir. Natürlich stand ich ihm zur freien Verfügung. Aber nicht als Arbeiter, wie die anderen.

"Jetzt ist Feierabend, Lester. Du bist sowieso zu fett geworden. Hier, runter mir dir."

Er drückte mich auf den Boden und ich versuchte ein letztes Mal zu entfliehen. Aber seine Hände hielten mich immer noch am Hals. Er schob meine Kopf auf den Holzklotz. Die Sonne hatte den ganzen Tag lang darauf geschienen, und das Holz fühlte sich warm an.

Ich dachte an mein Leben auf dem Hof. So schlimm war es eigentlich gar nicht gewesen. Nein. Wieder log ich mich selbst an. Wenn überhaupt entliess mich der Alte endlich in die Freiheit. Wenn ich weinen könnte, hätte ich es getan, und zwar vor Glück.

Ich suchte nach passenden Worten. Ich dachte daran, "Freiheit" zu brüllen, wie in dem Hollywoodfilm, von dem die Kinder einmal sprachen. Oder "Mein Leben liegt in deinen Händen". Stattdessen rief ich etwas anderes.

"Verdammter Hurensohn", waren meine letzten Worte, bevor die Axt auf meinen Hals niedersauste.

Der Alte sprach meine Sprache nicht. Alles, was er hörte, war ein Gackern.

[Beitrag editiert von: Rabenschwarz am 19.11.2001 um 15:24]

 

Hallo San,

da hast Du mir am Schluß doch tatsächlich ein breites Grinsen entlockt, nachdem ich alles mit gerunzelter Stirn gelesen hab.
Die Geschichte für Erwachsene aus der Sicht eines verbitterten, gebildeten Haushahns, mit Dialekt sprechenden Tieren, ist ungewöhnlich, irgendwie schräg, ich finde Deine Storys eigentlich alle ziemlich ungewöhnlich, teilweise seltsam, was aber durchaus nicht negativ gemeint ist. Dein Erzählstil ist gut, irgendwie "plastisch". Du malst schöne Bilder mit Deinen Geschichten, wenn auch die Motive z.T. recht ausgefallen sind.
Bei Deinen anderen Texten hatte ich immer den Eindruck, als ob etwas fehlt, den hatte ich hier nicht.
Witzige Idee, ich würd auf sowas wohl nie kommen.

vG Sav

 

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