Dunkelheit
Der eisige Wind zerzauste ihr langes kastanienbraunes Haar. Zitternd zog die junge Frau mit der linken Hand den Kragen ihres Mantels enger, während sie den Griff ihres Aktenkoffers in ihrer Rechten noch fester umklammerte und ihren Schritt beschleunigte. Kurz vor Mitternacht lag die Straße Menschenleer vor ihr, nicht einmal Autos oder Busse waren zu sehen oder zu hören. Die einzigen Geräusche die sie hörte waren ihre eigenen: Das Klappern ihrer Absätze auf dem Asphalt, welches durch die nur sporadisch beleuchtet Straße hallte, und ihr schnelles Ein- und Ausatmen, während sie beinahe im Laufschritt die letzten Meter bis zu ihrem Appartement zurücklegte. Plötzlich hörte die junge Frau ein Geräusch hinter sich. Es war der Klang schneller Schritte, die sich auf sie zubewegten. Kalter Schweiß rann ihr den Rücken hinunter und die Panik, die in ihr emporstieg, lähmte sie, so dass ihre Schritte ungewollt langsamer wurden. Hinter ihr kamen die Schritte immer näher, gleich würde sie eingeholt werden. Abrupt blieb die junge Frau stehen und wartete darauf, dass ihr Verfolger sie einholte und das tat, was er ihr in den letzten Wochen mehrfach prophezeit hatte: Sie umbringen.
Die Schritte kamen immer näher. Sie stand reglos da und wartete mit geschlossenen Augen auf das, was jeden Moment kommen würde: Ein Messer an ihrer Kehle, so wie er es ihr versprochen hatte. Nur noch wenige Meter und er würde sie eingeholt haben. Mit einem Gefühl der Erleichterung, ja beinahe mit der Sehnsucht eines Sterbenden, wartete sie auf den Tod. Die Schritte hatten sie nun erreicht.
„Ziemlich frisch für diese Jahreszeit, nicht wahr?“, fragte eine freundliche männliche Stimme direkt neben ihr. „In den letzten Tagen ist der Wind zunehmend eisig geworden. Zu eisig für Oktober, wenn Sie mich fragen“, fügte der Mann hinzu.
Langsam öffnete die junge Frau ihre Augen und blickte in ein freundlich wirkendes Gesicht eines Mannes mittleren Alters. „Stimmt“, antwortete sie zögernd, nicht recht wissend, was dieser Smalltalk sollte. „Jetzt setz endlich deine Drohungen um!“, dachte die junge Frau bei sich, „Ich will, dass es endlich ein Ende hat.“ „Bei dieser Kälte freut man sich auf sein Zuhause und auf eine warme Tasse Tee“, setzte der Mann die Unterhaltung fort. „Wie wahr“, gab die junge Frau zaudernd von sich. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“ fragte der fremde Mann, „Weil Sie allein, mitten in der Nacht auf der Straße stehen. Oder habe ich Sie erschreckt?“, fügte der Mann schmunzelnd hinzu. Sein Schmunzeln und sein freundliches Wesen führten dazu, dass ihre Anspannung nachließ. „Mir geht´s gut. Danke der Nachfrage. Ich war nur etwas außer Atem, weil ich schnell gegangen bin. Bin nicht gut in Form“, antwortete sie lächelnd, erleichtert weil der freundliche Mann offensichtlich nicht ihr Stalker war. Er konnte es einfach nicht sein. Er machte nicht den Eindruck, als wäre er ein Psychopath. Er wirkte nett.
„Freut mich zu hören, dass das nicht an meiner Person liegt.“, sagte der Mann, „Ich hatte schon befürchtet, Sie in Angst versetzt zu haben.“ „Nein, nein. Das hat absolut nicht mit Ihnen zu tun“, antwortete die junge Frau.
„Dennoch sollte eine junge Frau wie Sie nicht allein unterwegs sein. Es ist nicht ungefährlich“, sagte der Mann mit einer besorgten Stimme.
„Da haben Sie gewiss nicht ganz Unrecht“, winkte sie ab, „aber ich bin schon fast zu Hause.“
„Soll ich Sie begleiten?“ fragte der Mann, „Nur um sicher zu stellen, dass Sie auch gut zu Hause ankommen.“
„Vielen Dank für Ihr Angebot, aber das ist wirklich nicht nötig. Mein Appartement liegt gleich um die Ecke“, gab sie mit einem Lächeln zurück.
„Gut, wie sie meinen. Einen schönen Abend Ihnen noch“, sagte der Mann und machte sich wieder auf den Weg.
Sie rührte sich nicht von der Stelle sondern schaute seiner immer kleiner werdenden Gestalt hinterher, die sich mit schnellen Schritten von ihr entfernte und um die Ecke bog.
„Verflucht!“, sagte sie mit ärgerlicher Stimme zu sich selbst, „Du warst bereit, dich kampflos zu ergeben. Du hast nicht einmal einen Moment darüber nachgedacht, dich zur wehren. Stattdessen standest du da, und hast darauf gewartet, dass dieser Mistkerl gewinnt! Was sagt das bloß über dich aus?“ „Dass ich verzweifelt bin“, antwortete sie sich selbst im selben Atemzug.
Langsam setzte sie sich wieder in Bewegung. Nach wenigen Minuten hatte sie die Stufen zu ihrem Wohnhaus erreicht. Sie holte ihren Schlüssel aus der Aktentasche heraus und schloss die Haustür auf. Im Foyer des Wohngebäudes blieb sie vor ihrem Briefkasten stehen und holte die Post heraus. Dann ging sie weiter zum Treppenhaus, vorbei an dem modernen Aufzug, stieg die Stufen bis in die achte Etage hinauf, öffnete ihre Appartementtür, verriegelte sie hinter sich und blieb für einen Moment an ihr angelehnt stehen.
Dunkelheit umhüllte sie. In dieser Dunkelheit fühlte sie sich ängstlich und beschützt zugleich. Angestrengt horchte sie, ob im Appartement irgendwas zu hören war. Nichts. Stille. Langsam löst sie sich von der Tür und begab sich ins Wohnzimmer, ohne dabei jedoch das Licht anzumachen. Sie bewegte sich in der Dunkelheit, so wie die Tage zuvor auch. Plötzlich nahm sie hinter sich eine Bewegung war. Noch eher sie sich umdrehen konnte, spürte sie einen festen Griff auf ihrem Arm und ein Messer an ihrer Kehle. Im Dunkeln flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr: „Ich sagte doch, dass es für eine Frau nicht ungefährlich sein kann.“ Es war die Stimme des freundlichen Mannes von der Straße. "Endlich hat es ein Ende" dachte sie und die Dunkelheit nahm von ihrem Körper besitz.