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Ebola
Rita wacht früh auf an diesem Morgen. Aber es macht ihr nichts aus, den Tag schon früher zu beginnen als sonst. Es ist ein besonderer Tag. Sie geht ins Bad, putzt die Zähne. Sie lässt das Duschen heute ausfallen, es ist eh nicht nötig. Es wäre sogar paradox.
Sorgfältig zieht sie ihre Krankenhaustracht an und macht sich auf den Weg. Die Sonne scheint, es ist viel zu warm für Oktober.
Erst waren es ein paar Einzelfälle in Westafrika, Sierra Leone, am anderen Ende der Welt. Die Menschen nahmen es ungerührt zur Kenntnis. Sierra Leone ist weit weg und als Urlaubsland total uninteressant. Dann erkrankten die ersten helfenden Ärzte und kamen zur Behandlung ins Ausland. Immer noch blieb das Weltinteresse gering. Erst als es den ersten Erkrankungsfall in den USA gab und wie immer, wenn im Land des Großen Sheriffs etwas passiert, wurde die Welt aufmerksamer. Für Europäer war es aber immer noch jenseits der Komfortzone, bis es zu einem Vorfall in Madrid kam. Eine Krankenschwester erkrankte, weil es eine Lücke im Sicherheitssystem gab. Nur eine Unachtsamkeit, nur eine kleine Nachlässigkeit und schon ist der Prozess der Hygiene gestört und die verhängnisvollen Vorgänge nehmen ihren Lauf. Immer noch glaubten die Menschen daran, dass Ebola nur die trifft, die die Erkrankten behandeln. Aber diese Menschen haben Feierabend und gehen raus unter Leute und die Erkrankten kommen auch erst dann ins Krankenhaus, wenn sie Symptome haben, aber sie haben vorher schon Hunderte anderer Menschen infiziert, ohne dass es jemand bemerkt hat. Wie naiv die Menschen doch sind, sie glauben wie immer daran, dass es sie nicht treffen wird. Rita lacht kurz auf. Sie ist nicht naiv und sie wird alle, die ihr das immer unterstellt haben, eines Besseren belehren. Der arrogante Oberarzt, der sie vor den Patienten immer abkanzelt, die zickige Stationsvorsteherin, die ihr über den Mund fährt, ja sogar der Assistenzarzt meint, sie bevormunden zu müssen, als sie einer Patientin etwas mehr Schmerzmittel geben wollte als auf dem Krankenblatt stand.….
Rita denkt wieder an den Chemie-Lehrer Herr Wenig, wie so oft. „Rita,“ hat er gesagt, „bleib nach der Unterrichtsstunde noch etwas da und ich zeige Dir nochmal, wie man sich das Periodensystem ganz leicht merken kann.“ Und Rita blieb. „Schau…“, sagte Herr Wenig…
Vorgestern kam der erste Ebola-Patient nach Frankfurt, wo die Quarantänezustände so vorbildlich sind, dass sie nun die Kranken aus aller Welt herbringen. Erst zieht man sich den luftdichten Anzug an, dann sprüht man sich mit einem Desinfektionsspray ein, durchwatete eine virusvernichtende Lake.
Ebola – was für ein wunderschöner Name. Er klingt nach einer afrikanischen Schönheit, nach einer rassigen, kräftigen, selbstbewussten Frau, die voll im Leben steht. Und das tut Ebola auch. Es steht voll im Leben von kräftigen, selbstbewussten, schönen Menschen und reißt sie aus selbigem. Niemand denkt daran, dass sich die Seuche so ausbreiten wird wie die Pest, aber genau das wird sie und sie endlich dahinraffen: die Besserwisser, die arroganten Schnösel, die Belehrer, die Ignoranten, die Missbraucher.
Rita nimmt den Bus. Sie benutzt die Haltestelle, die erst vor kurzem vor ihre Neubausiedlung gebaut worden war und fährt die 8 Stationen bis zur U-Bahn. Dort steigt sie in die U8 bis zum Klinikum, jeden Tag dieselben Menschen mit denselben Smartphones und derselben Kopfhaltung. „Head-Down-Generation“, weil jeder nur noch nach unten auf seine persönliche Welt blickt statt wie früher dem anderen in die Augen oder tunlichst daran vorbei. Jetzt hat jeder die perfekte Ausrede, sich nicht mehr ansehen zu müssen, sich keine Gedanken mehr um den Mitreisenden machen zu müssen, er ist ja beschäftigt mit seinem eigenen Kosmos, der doch wieder nur mit anderen vernetzt ist, diese aber dahinter unsichtbar macht und man sich so mit seinen Ängsten und Schwächen nicht mehr konfrontiert sieht. Wie praktisch. Rita sieht ihre Mitmenschen weiterhin an, sie hasst diese modernen Kommunikationsmittel , mit denen das Leben so viel leichter schien, aber in Wirklichkeit nur mehr Hektik und Stress verbreiteten. Sie sah die zunehmenden Fälle des Burn-Outs in der Klinik. Als man noch auf Post wartete oder eben keine Anweisung bekam, wenn der Chef im Büro nicht zu erreichen war, da hatte man noch Zeit und die Prozesse dauerten eben länger. Schlechter gelebt hat man deshalb nicht, gesünder! Und wieder versteckt sich jeder hinter seiner Geschäftigkeit, Beschäftigtkeit, Leerlauf ist undynamisch und damit out. Sollen sie sehen, was es ihnen hilft. Sie können so schneller ihre Symptome googeln, aber auch das wird zu spät sein, denn bis dahin, hatten sie schon Kontakt zu Hunderten Anderer.
Rita steigt an ihrer Haltestelle aus, betritt das Krankenhaus und geht auf ihre Station. Der Ebola-Patient liegt in Raum 2003, abgeschirmt und abgeschottet wie der BND und doch so leicht zu betreten, wenn man wie sie als Krankenschwester auf genau dieser Station arbeitet. Einmal die Firmenkarte am elektronischen Leser durchgezogen und mit einem energischen Summton öffnet sich die erste Tür, dahinter die zweite, aus dickem Stahl, als ob das etwas nutzen würde, als ob das etwas entgegenzusetzen hätte, gegen Entschlossenheit, gegen Disziplin und gegen einen festen Vorsatz.
Sie nimmt ihren Schutzanzug entgegen und zieht ihn bedächtig an. Das feine, sündteure Material raschelt leise. Sobald man ihn komplett angezogen hat und auch den astronautenähnlichen Helm aufgesetzt, fühlt man sich wie von einer anderen Welt. Aber statt auf Aliens zu treffen, tritt man nur einem Menschen entgegen, der Hilfe braucht und der Angst hat. Als Rita sich das erste Mal in dem kompletten Anzug im Spiegel sah, erschrak sie vor sich selbst. So fremd, so irreal, so absurd. Rita zieht sich die doppelten Handschuhe aus reissfestem Latex an. Egal, was man nun berührt, es fühlt sich künstlich an, unwirklich. Die Welt ist nun mal nicht steril. Dreck, Bakterien, Viren, Schlamm, Schmutz - wohin man auch sieht, normal, gewohnt. Erst diese Sterilität macht die Welt künstlich. Rita fühlt sich wohl in dieser Kunstwelt. Der Schutzanzug ist wie eine Rüstung, man geht geschützt durch die Welt. Er verleiht Autorität. In diesem Anzug sehen alle gleich aus, egal ob Chefarzt oder Krankenschwester. Schade, dass dieser weiße Tarnmantel nur auf dieser Station normal ist und nicht in der Außenwelt. Er ist das Smartphone der Mäntel.
Sie durchläuft die verschiedenen Sicherheitsstufen und lässt sich mit der hygienischen Flüssigkeit besprühen, die dem Anzug eine weitere Schutzhülle verleiht. Sogar durch den Gesichtspanzer riecht sie den beißenden Geruch dieser Lösung, die aus was weiß für Chemikalien besteht.
In Chemie war Rita nie gut, Wasserstoff steht im Periodensystem an 1.Stelle.
Und dann geht sie in das Zimmer Nummer 2003, wo der UN-Mitarbeiter, der sich in Guinea angesteckt hatte, liegt. Er schläft, wie meistens. Das Fieber liegt immer noch bei 39,2 und so dämmert er meistens lautlos vor sich hin. Der Oberarzt ist beim Patienten und führt die tägliche Untersuchung und Medikation durch. „Ah, Frau Welsch, schön, dass Sie da sind. Der Zustand des Herrn Smith ist unverändert. Wir geben ihm nochmal eine Dosis TKM, 4ml. Würden Sie die Injektion setzen?“ und damit ist er draußen und Rita allein. Sie besieht sich Herrn Smith, einen stattlichen Mann Mitte 50. Wenn ihn schon der Ebola-Virus so leicht dahinstreckt, wie leicht wird es erst bei den anderen gehen? Den Fetten, den Gestressten, den Allergikern, den Kindern?
Rita zieht in Zeitlupengeschwindigkeit die Handschuhe aus, erst das erste Paar, dann das zweite. Ihre Hände sind nun nackt und bereit, das Virus aufzunehmen und überall hinzutragen. Sie wird erst sich selbst anstecken und dann alle anderen. Sie wird ihre Hände mit ihrem Speichel befeuchten und viele Menschen damit berühren. Sie wird in die Sauna gehen, nur noch auf öffentliche Toiletten und ins Schwimmbad bieseln, sie wird ihre kranken Körpersäfte überall verteilen und sie wird Sex haben, mit jedem, der bereit ist. Sie wird in stehengelassene Gläser an der Bar spucken, sie wird husten und rotzen und sie wird nicht ins Krankenhaus gehen. Sie wird die Krankheit so weit verbreiten, dass der Rest ein Selbstläufer wird. Rita, die Ebola-Selbstmordattentäterin!
Wie gut, dass die Menschen trotz virtuellen Welten immer noch daran interessiert sind, ihre Körperflüssigkeiten auszutauschen. Sie schwitzen gemeinsam, sie schlafen miteinander, sie essen zusammen. Es wird so leicht, es muss nur jemand damit beginnen. 7 Milliarden Menschen! Einfach zuviel. Rita wird mit dem Zug reisen, solange es noch geht und ihren Virus verbreiten. Frankfurt-Berlin-München. Bis jemand reagieren kann, wird es zu spät sein.
Eine Ansteckung in Deutschland gilt als ausgeschlossen. Rita wird die Welt eines Besseren belehren. BELEHREN!
Rita beugt sich über Herrn Smith, sie öffnet langsam seinen Mund und schiebt ihre Zunge weit zwischen seine Lippen.