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- 21.04.2002
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Edelweißpiraten
Das Erste, was ich sah, als ich mit dem „Teilbeschädigten“-Ausweis in der Tasche von der Nazi-Parteidienststelle zurückkam, waren Wolkenschwaden über dem Hauptbahnhof. Diesesmal hatte es nicht nur die Dortmunder Wohnviertel getroffen; auch der Hauptbahnhof stand in Flammen.
Ich rannte die Straße hinab, zu unserer ausgebombten Wohnung.
Die Parteischergen hatten gesagt, wir sollten doch froh sein, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben.
Das Erste, was ich wahrnahm, war die Wut darüber, das wieder Freunde von mir den Tod finden mußten; und dieses durch die, die wir für unsere Verbündeten hielten.
Ich stieg die Treppe hinauf zu unserer Wohnung, in dem brennenden Haus im Dortmunder Norden.
Unter eben jenem Dach fand ich meine Mutter, die durch das Feuer bis zur Unkenntlichkeit verkohlt war.
Mein Vater war schon vor Jahren an einer Lungenentzündung im Umerziehungslager gestorben
Ein Wisch Papier flatterte durch die Wohnung.
Es war mein Gestellungsbefehl.
Die Jungen aus meiner Straße hatten ähnliche Schreiben erhalten. Teilweise hatten auch ihre Eltern bei dem Angriff den Tod gefunden. So saßen wir also im Keller des ausgebomten Josephinen-Stifts und beschlossen, das Kriegsende abzuwarten.
Fressen gab es nur, wenn man Lebensmittelkarten hatte; oder sich etwas zu organisieren wußte. So plünderten wir das Vorratslager des Kohenförderbetriebes Karl Hösch, während um uns herum die Granaten einschlugen.
Während dem Einmarsch der Amis standen die Menschen jubelnd Spalier, während die Ami-Soladten in gebückter Haltung durch die Straßen Dortmunds „vorstießen“. Irgendwann wurde das Theater ihrer Vorgesetzeten den Soldaten zu langweilig, und sie gingen in Sieger- und Befreierpose durch die sie bejubelnden Menschenmengen.
Zwei Tage später setzte uns ein US-Militärkommando fest. Junge Männer im wehrfähigen Alter; warren wir für die Amis der üble Werwolf, die in der Nacht losschlagenden Nazis. Wie schon bei selbigen wurden alle Kerls in die Hörde, den Dortmunder Gestapo-Knast eingefahren. Wenigstens diesmal ließen sie die Mädels laufen.
Die Amis schlugen uns wie die Nazi-Wachen.
Das Fressen war so Scheiße wie bei den Nazis.
Dann kam Küppers. Man nannte ihn den „letzten Dormunder Kommunisten“. Küppers hatte es geschafft.
Er hatte das Massaker am Westdeutschen Widerstand überlebt, und nun war er in der Lage, auch den Dortmunder Epi-Latschern den Weg in die Freiheit zu öffnen. Die Russen hatten Küppers viel Macht verliehen, und er nutzte sie, um uns wieder in Freiheit zu bringen.
Wir bekamen Jobs.
Die alten Nazis wurden wieder unsere Vorarbeiter.
Eines Nachts trafen wir auf „Bismarck“, den Folterknecht der Hörde während der Gestapo-Herrschaft.
Wir schlugen in halb tot und warfen ihn in die Emscher. Irgendein Drecksack rettete ihm das Leben, und wir wußten schlagartig: es würde nie Gerechtigkeit geben.
Jetzt sind alle die Freunde tot, und ich lebe im Altersheim. Gestern sah ich „Bismarck“ wieder. Jetzt schleiche ich bei Nacht durch das Altersheim.
Ich habe Zeit. Der Beduine wartet siebzig Jahre mit seiner Rache, und denkt, er hätte sich damit beeilt. Eines Nachts werde ich sein Zimmer finden, die Beatmungsmaschine abstellen... und all die Stimmen meiner toten Freunde werden verstummen, als ob der Wind sie hinfortgetragen hätte.