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Edgars Geburtstag

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19.02.2014
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Edgars Geburtstag

Seine Gattin Pia hatte die heruntergekommene Diskothek bei einem Maklertermin entdeckt, und nun sollte sie für einen einzigen Abend zu neuem Leben erweckt werden. Zwei Nachmittage lang hatte sie unter Zuhilfenahme einer Freundin dafür gesorgt, dass die Schwachstellen der Einrichtung den Gästen nicht allzu sehr ins Auge stachen. Die schäbige Fototapete hinter der Tanzfläche verschwand unter meterlangen Bahnen blutroter Kunstseide, die schnapsverklebten Plüschsofas wurden mit Tagesdecken verhüllt, und eine ganze Armee von blinkenden Gläsern, die sich nun im Spiegel über der Bar imposant verdoppelte, hatte sie kurzerhand bei Ikea gekauft. Auch die Chromverkleidung der Ausschank glänzte wie neu – genau wie es die Politur am Etikett versprochen hatte. Ihr stechender Geruch überdeckte zudem die Muffigkeit des gesamten Mobiliars sehr vorteilhaft. Am Ende tauchten die stark abgedimmten Spots die wenig verbliebenen Schandflecken (etwa die abgeschabten Barhocker oder die mit uralten Plakaten verklebten Wände in den Sitznischen) in ein gefälliges Licht. Punkt sieben wusste sie, dass die Operation Überraschungsparty gelungen war, und sie gönnte sich einen ersten Cocktail. Die Location würde Edgar gefallen. Ein paar Minuten später, kaum hatte sie sich in der Garderobe ihr glitzerndes Kleid übergestreift, trafen die ersten Besucher ein.
Die Begrüßung jedes einzelnen Gastes nahm Pia selbst in die Hand.
„Er weiß von nichts!“, schwor sie jedem, der es wissen wollte. „Wir haben ausgemacht, dass er Punkt neun mit dem Lieferwagen kommt. Er glaubt, er muss hier einen Frisiertisch abholen, den ich für unser Schlafzimmer entdeckt habe!“
Dabei strahlte sie über das ganze Gesicht und drückte jedem Mädchen eine Sektflöte in die Hand, während sich die lachenden Männer vom angemieteten Barmixer ein Bier reichen ließen.
Es hatte Jahre gedauert, bis sich Pias und Edgars Freundeskreise aneinander gewöhnt hatten, und immer noch konnte man kaum von einer Verschmelzung sprechen. Ihre eigenen Leute hatten, das musste auch Pia zugeben, einen Zug zum Praktischen, und nicht nur Edgar, sondern jeder, der ab und zu ein Museum oder ein Theater von innen sah, hätte sie für materialistisch oder sogar borniert gehalten. Die Frauen prahlten mit teuren Kleidern und Schuhen, die Männer fuhren, obwohl kaum einer über fünfunddreißig war, solide Wägen der oberen Mittelklasse. Edgar behauptete, es sei kein Zufall, dass sie immer ihre Autoschlüssel vor sich auf dem Tisch liegen hatten. Seine Freunde liebten es im Gegenzug über philosophische Theorien oder Kunstprojekte zu reden, an die sie sich, wenn man sie ein Jahr später darauf ansprach, nicht einmal mehr erinnerten. Gemeinsam war den beiden Gruppen lediglich die verhohlene Geringschätzung der jeweils anderen. Und doch hatte man auch auf diesem sensiblen Terrain Fortschritte gemacht, und als Edgars Trauzeuge letztes Jahr eine von Pias besten Freundinnen heiratete, sahen sie darin ein gutes Omen für ihre eigene junge Ehe. Nun aber gruppierten sich Pias Freunde geschlossen um die Bar, während es sich Edgars alte Studienkollegen im Hintergrund auf den knarrenden Sofas gemütlich machten, als hätte man es vorher so abgesprochen.
Pia hatte auch einen DJ organisiert und ihn zuvor über Edgars Musikvorlieben unterrichtet, doch zum Aufwärmen legte er unverfängliche Soulklassiker auf, die man so oft gehört hatte, dass sie problemlos unter der Wahrnehmungsschwelle dahinplätscherten. Jeder schien auf den eigentlichen Beginn der Party zu warten, anstatt einfach selbst damit anzufangen. Die Männer orderten ein zweites Bier und Pia schickte einen zweiten Sektkorken an die Decke. Nervös veranlagte Gäste trommelten mit den Fingern auf die Tischplatten. Wo blieb Edgar? Pia zuckte mit den Schultern, doch ihr Lachen bekam vom Sekt einen hysterische Unterton, den ihre Freundinnen noch von früher in Erinnerung hatten. Ein paar Leute tuschelten sogar, doch sobald Pia hinzutrat, um für gute Laune und Zuversicht zu sorgen, signalisierte ihr die geschlossene Front eines Lächelns, dass alles in bester Ordnung sei. Erst um halb zehn wurden die Leute richtig ungeduldig und nervten Pia mit Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Verdammt, wo blieb Edgar? Der DJ hatte seine Soulnummern durch und ging zu Drum and Bass über, doch niemand hatte Lust, sich auf die Tanzfläche zu stellen.
Als endlich die erlösende SMS auf ihrem Display aufblinkte, hätte sie am liebsten geheult vor Erleichterung. Stattdessen klatschte sie in die Hände und bedeutete dem DJ die Musik abzustellen. Alle Gespräche verstummten, ohne dass jemand einen Finger an die Lippen legen musste. Dann tippte sie ihre Antwort: „Bin schon unten. Die schwarze Tür.“ Gleich dahinter nahm sie Aufstellung, um ihm im nächsten Moment um den Hals zu fallen, denn genauso hatte sie sich die Begrüßungsszene in den letzten Wochen immer wieder ausgemalt: Edgar trat durch die Tür, sie würde ihn küssen, dann der Lichtschalter, ein kurzer Schreckmoment, und endlich würde er ihr gerührt in die Arme fallen und alle klatschten …
Jemand drückte auf ihr Kommando den Generalschalter, und so verharrten alle lautlos im Dunkeln und warteten auf den Höhepunkt des Abends.
Als sich die Tür öffnete und Pia hervorsprang, um den Mann, der ein wenig nach Schweiß stank, zu umarmen, wollte sie eigentlich „Überraschung“ rufen, doch sie schaffte kaum die erste Silbe. Denn Armend hatte nicht immer als Möbelpacker gearbeitet. Davor hatte er viel Zeit in abgelegenen Gegenden verbracht, an die er heute nicht mehr gerne erinnert wurde. Und er hatte Dinge getan, für die das Selbe galt. Und doch konnte man auch in diesen konfusen Jahren das eine oder andere lernen. Zum Beispiel, dass man nicht immer nachdenken durfte, bevor man handelte, denn die Dauer eines Gedanken machte den Unterschied, ob man nachher lebte oder tot war; und ob man das Richtige tat, konnte man sich meistens auch hinterher noch überlegen. Klar, Kriege erforderten viel Planung und Nachdenken, aber Armend war bloß Soldat und kein General gewesen. Und er war am Leben geblieben, das war die Hauptsache.
Natürlich war es für ihn kein riesiges technisches Problem, ihr den Halswirbel zu brechen. Im Vergleich zu früheren Angreifern bog sich dieser Gegner unter seinem Ellbogen wie Pappe. Pias Freundinnen sagten, es hätte sich angehört, als würde man eine Salzstange knacken. Andere behaupteten, einer der Männer auf den Sofas hätte im entscheidenden Moment tatsächlich in eine Brezel gebissen, sie glitt ihm sofort aus der Hand und zerbarst auf den Fliesen in mehrere Teile, doch was machte es für einen Unterschied? Als Pia zu Boden fiel, stieß der Mann einen Fluch aus, den niemand verstand. Er wirkte im Gegenlicht der Kellertreppe fast wie Edgar, trotz seines Arbeitsoveralls. Dann tastete er nach dem Lichtschalter, und als er die fremden Menschen in ihren schönen Kleidern sah, war er ehrlich überrascht: zwei säuberlich isolierte Grüppchen zu beiden Seiten des Raumes, die sich feindselig anstarrten, als wären auch sie in irgendeiner Weise verantwortlich für das, was eben vorgefallen war.

 

Hallo baronsamedi,

die Geschichte hat mich wirklich gut unterhalten. Stilistisch rund, spitzt sie sich offensichtlich auf einen noch unbekannten Twist zu, den ich dann, im Gegensatz zu deiner letzten Geschichte, mit einem amüsierten Lächeln zur Kenntnis genommen habe. Es war sehr unterhaltend.

Jedoch eine (Art gut gemeinte) Warnung: Ob eine Geschichte bei dem Leser ankommt, ist im Falle deiner letzten beiden Erzählungen stark vom Geschmack desselben abhängig (Nimm mich als Beispiel: Mit "Gran Canaria" konnte ich gar nichts anfangen, "Edgars Geburtstag" hat mich angesprochen), besonders durch die absurden Wenden. Das macht das Ganze eben zu einer recht unsicheren Angelegenheit, einer Wundertüte.

Nombreux

 

Hallo Nombreux, danke für dein Feed back. Es tut gut, auch mal was Positives zu lesen, auch wenn die Kritik einen letztlich weiter bringt. Gran Canaria scheint prinzipiell niemandem zu gefallen, und ich bereue, dass ich sie überhaupt hier reingestellt habe. Bei meiner ersten Geschichte Bennos Geheimnis gab es zumindest eine positive Rückmeldung.
Ich stelle mir zwischendurch immer wieder mal vor, wie ich hinterher hier zerrissen werde. Es ist ein guter Ansporn beim Schreiben, man denkt dann mehr an den Leser, an sein Bedürfnis nach Spannung und Unterhaltung.

 

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