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Ein Märchen.

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22.02.2009
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Ein Märchen.

„Ein Märchen."


Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie noch heute.
„Logisch“, sagte das Rotkäppchen. „Und was bitte schön soll jetzt geschehen?“
„Deine Geschichte ist zu Ende, Liebes“, entgegnete Jacob Grimm in einem senilen Ton. „Du wirst von nun an deine Wege selbst in Angriff nehmen.“
„Aber ohne euch bin ich nichts als ein Gefüge aus archaischen Wörtern auf staubigem Papier, gefangen in einer sich unendlich wiederholenden Geschichte!“ Entsetzt warf das Rotkäppchen ihr Käppchen von scharlachrotem Sammet zu Boden.
„Darin besteht nun einmal die Natur der Geschichten“, versuchte Jacob sie aufzuheitern. Er wusste nicht was er sagen sollte. Er hatte sich das selbst eingebrockt. Er warf einen verächtlichen Blick zu Wilhelm, seinem Bruder.
„Danke!“, schimpfte er. „Du hast mich auf die Idee gebracht. Das ist einzig und allein deine Schuld!“
„Na hör mal“, erwiderte Wilhelm. Der Versuch, sich von dem gebrechlichen Bett aufzurappeln, misslang ihm.
„Schließlich hast du die Feder in die Hand genommen.“
Jacob seufzte. Stimmt. Er erhob sich von dem Stuhl und stützte sich auf den mit zahlreichen vergilbten Pergamentrollen übersäten Tisch. Er war schlichtweg zu alt, als dass er sich mit einem frechen Mädchen mit roter Mütze abgeben würde. Eine Strähne seines langen, schlohweißen Haares hing ihm über das Gesicht. Behutsam strich er sie hinter seine Ohren und dachte nach.
„Gib mir etwas Zeit, Liebes, lass mich nachdenken.“
Eine Träne kullerte dem Rotkäppchen über die Backen, flog durch die Luft, und zersprang dann in alle Richtungen.
„So habt ihr das wohl mit allen gemacht“, kreischte es. „Mit allen anderen Figuren! Mörder! Heimtückische Spieler mit dem Leben!“
Die grellen Schreie des Mädchens verstummten, als Jacob das Pergament zusammenrollte. Eine bleierne Stille legte sich über die Gemäuer des alten Schlosses.
Er atmete schwer.
Die Sekunden verstrichen, wie sie auch die letzten achtzig Jahre verstrichen waren. An ihm vorbeigehuscht waren sie, leicht, fein und kaum bemerkbar, und dennoch hatten sie ihre Spuren hinterlassen.
Schrecklich.
Das Rotkäppchen war in der Tat ein eigenartiges Mädchen für die Hauptfigur eines Märchens. Das war ihm noch nie passiert. Doch was sollte er tun, wenn sich seine eigene Fantasie gegen ihn auflehnte?
„Du lässt die Sache doch nicht etwa auf sich beruhen? Das kannst du diesem armen Mädchen doch nicht antun!“, dozierte der im Bett liegende Wilhelm.
„Was soll ich dann deiner Meinung nach unternehmen?“
„Weisst du Jakob“, begann er mit einer kehligen Stimme. Er räusperte sich. „Das Leben besteht lediglich aus Geschichten. Jede Geschichte stammt aus einer anderen. Sie beschreiben den Lauf der Dinge und führen diesen unaufhaltsam weiter in die Unendlichkeit. Auch wir sind ein Bestandteil einer Geschichte, ja ganz recht Jacob. Auch wir. Und unser Erfinder hat es gut mit uns gemeint.“
Wilhelms azurblaue Augen funkelten vielsagend zu Jacob.
Jacob seufzte erneut und betrachtete seine knöchrigen Finger.
„Ich denke, du bist dir sehr gut darüber im Klaren, was noch zu erledigen ist.“ Wilhelm schloss die Augen und lächelte zufrieden. Sein Atem ging stoßweise.
Jacob wusste es.
Dann griff er entschieden zu dem zusammengerollten Pergament, tauchte die Feder in die Tinte und begann in feinen Lettern zu schreiben.
Das Rotkäppchen, mit dem Rücken zu ihnen, schnellte überrascht herum. Ihr tränenverschmiertes Gesicht erhellte und sie strahlte plötzlich.
„Du hast es dir doch anders überlegt, wie?“
„Ja, allerdings.“
Durch das mächtige Fenster fielen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne und tauchten den Raum in ein schillerndes Farbenspiel. „So“, sagte Jacob. „Ich bin fertig.“
Er warf einen Blick zu Wilhelm, der ihm zulächelte. Er sog einen letzten tiefen Atemzug in sich hinein und spürte wie Energie sein Blut durchströmte.
Dann erlosch das Bewusstsein beider Brüder.

Weit entfernt, in einer anderen Welt, erwachte das Rotkäppchen aus einem tiefen Schlaf. Es befand sich in einem steinernen Raum auf einem hölzernen Bett. Es richtete sich auf. Inmitten des Raumes stand ein gebrechlicher Tisch mit zahlreichen Pergamentrollen darauf. Es stand auf und blickte auf das große offene Pergament in der Mitte.

Wir wünschen dir ein glückliches Leben in der Hoffnung auf ein gnädiges Urteil von dir, was uns betrifft.
Die Gebrüder Grimm

Das Rotkäppchen begriff. Die Rollen waren getauscht.
Ihre Geschichte war geschrieben, nun sollte sie das Märchen der Gebrüder Grimm verfassen.
Schmunzelnd nahm sie die Schreibfeder zur Hand und begann zu kritzeln.
Es waren einmal die Gebrüder Grimm.

 

>... unser Erfinder hat es gut mit uns gemeint<, so ist es,

lieber svenhintermann,

grüezi & herzlich willkommen auf kg.de!

Da hastu uns einen schönen Erstling auf einer und einer halben Seite Manuskript vorgelegt. Mir gefallen die Mittel romantischer Ironie - wenn das Publikum sich in einen Text einmischt, das Geschöpf/der Prot plötzlich sich verselbständigt, sich quasi vom Autor emanzipiert und ein Eigenleben anfängt, oder - wie in Deinem Fall - Geschöpf und Schöpfer die Rollen tauschen und, konsequent durchgehalten, nachher nicht mehr eindeutig ist, wer welche Rolle da spielt.

Besonders interessant find ich, dass die Grimm-Brüder Kleinkrämerseelen (Schuldzuweisung) zu sein scheinen, da rührt sich ein wenig meine Kleinkrämerseele (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

>Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie noch heute<, ist schon fast naturgesetzlich vorgetragen. >„Logisch“, sagt< das kluge Rotkäppchen zu dem eigentlichen Standardschluss eines jeden Volksmärchens, denn es kennt den messerscharfen Schluss, alle Menschen seien sterblich, Caesar sei ein Mensch und also ... Wäre da nicht eher der Konjunktiv II angesagt? >Und wenn sie nicht gestorben wäre, dann lebte sie noch heute<. Doch wäre noch anzubringen, dass das Personalpronomen "sie" sich eigentlich aufs Rotkäppchen bezieht und durch ein "es ersetzt werden müsste. (Weiter unten >Entsetzt warf das Rotkäppchen ihr> SEIN Käppchen ...< usw.)

Dann sollte das persönliche Pronomen (Du, Sie, Ihr, Euch) in der Anrede groß geschrieben werden - Höflichkeit gebietet es.

>Er wusste nichtKOMMA was er sagen sollte.<

>Er war schlichtweg zu alt, als dass er sich mit einem frechen Mädchen mit roter Mütze abgeben würde.< Die Grimms hätten sicherlich keine würde-Konstruktion gewählt: "Er war schlichtweg zu alt, als dass er sich mit einem frechen Mädchen mit roter Mütze abgibt< oder >abgäbe<, je nachdem, wieviel Zweifel oder Ironie Jacob selbst verspürte.

>Eine bleierne Stille legte sich über die Gemäuer des alten Schlosses.< Reichte es nicht , dass sich die bleierne Stille "über das (alte) Schloss< legte?

>Die Sekunden verstrichen, wie sie auch die letzten achtzig Jahre verstrichen waren. An ihm vorbeigehuscht waren sie, leicht, fein und kaum bemerkbar, und dennoch hatten sie ihre Spuren hinterlassen<, erscheint mir sehr aufwändig formuliert. Mir fällt aber so einfach jetzt auch nix ein, evtl. "Die Zeit verflog wie in all den Jahren zuvor und hinterließ ihre Spuren ..."

Wie dem auch sei: mir gefällt's!

Gruß aus Westfalen

Friedel

 

Danke für das eminente Feedback, hat mich sehr gefreut, deine Einwende gefallen mir!

Ein Dankeschön aus Zürich
Sven

 

Mir auch,

sven.

Sieh aber - bis auf Groß/Kleinschreibung, Zeichensetzung und einiges mehr, was gar nicht vorkam (ha, noch binnich jeck, ohne Jeck zu sein) - das meiste als Vorschlag an.

Bin auf Dein nächstes Werk gespannt!

Bis bald

Friedel

 

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