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Ein Neuanfang?
Die Tränen liefen erbarmungslos über Merles Gesicht, wischten all den Staub und Schmutz, der sich in den letzten Tagen auf der Haut gesammelt hatte fort. Sie kullerten dick und schwer über die Wangen, liefen übers Kinn und tropften auf ihren Pullover. Merle fröstelte, als einige der kalten Tropfen sie am Hals berührten.
Zusammengekauert wie ein verängstigtes Kind saß sie da. In einer Ecke zwischen einer stinkenden, überquellenden Mülltonne und einer Hauswand, nicht weit von der langen, staubigen Straße entfernt, die sie nun kennen und hassen gelernt hatte. Wäre sie nur nicht so überstürzt aufgebrochen! Hätte sie sich mal vorher überlegt, wohin es gehen sollte.
Der Rucksack der neben ihr stand, war fast leer. Das Brot und die große Flasche Cola hatten nun mal nicht lange gereicht und das letzte Geld hatte sie diesen Morgen ausgegeben, als sie sich ein trockenes Brötchen gekauft hatte. Seitdem hatte sie nichts gegessen, ihr Magen fühlte sich flau und leer an und ihr war schwindlig. In ihrem Portemonnaie waren nur noch ein paar Fotos von ihrer Familie und ihren Freunden zu finden. Merle hatte es nicht über sich gebracht, sie zu Hause zu lassen. Vorsichtig nahm sie eins nach dem anderen in die Hand, doch die sonst so fröhlichen Gesichter schienen sie allesamt nur vorwurfsvoll anzuschauen. Warum, Merle? Warum läufst du vor deinen Problemen davon?, schienen sie zu fragen. Wir hätten dich nicht im Stich gelassen.
Felix, ihr Freund, schaute besonders gekränkt. Oder sollte man besser sagen: "Ihr Ex-Freund". Sie warf einen schmerzvollen Blick auf das Bild. Wäre das alles nicht passiert, wären sie jetzt immer noch das glücklichste Paar der ganzen Schule. Doch Merle unterdrückte die Erinnerungen, wollte nichts mehr von all dem wissen.
Wütend auf sich selbst riss sie das letzte Foto aus dem kleinen Fach hinter ihrem Personalausweis. Nach kurzem Zögern warf sie auch diesen in die dreckige schwarze Mülltonne neben sich.
Ein Obdachloser, besoffen und scheinbar nur halb bei Bewusstsein, torkelte die schmale Gasse entlang. Er hatte eine Flasche in der Hand, aber Merle konnte nicht erkennen was es war. Nie wieder Alkohol! Nun kamen die Erinnerungen doch hoch, Bild für Bild, Szene für Szene. Da waren sie und Tamara auf der Schultoilette, mit einer Flasche Wodka in der Hand. Und Merle, wie sie Tamaras Kuss erwiderte.
Unwillkürlich drückte sie sich noch enger an die Hauswand. Der Mann sah sie trotzdem. Mit einem schiefen, ekligem Grinsen kam er auf sie zu und ließ sich einfach neben sie plumpsen, die leicht schielenden Augen trüb und ausdruckslos. Merle rückte ein Stück von ihm weg. Der Fremde rückte nach.
Merle, wie sie nacheinander Felix und Tamara erklärte dass der Wodka Schuld gewesen war. Sie und Tamara, wie sie von der Schule flogen.
Hastig sprang sie auf. Ihre Gedanken rasten, alles schaltete auf Abwehr. “Lass mich in Ruhe, du dreckiger Penner!”, rief sie, schnappte sich ihren Rucksack und floh zurück auf die Straße. “Und du?”, lallte der Mann hinter ihr her. “Was bist du denn dann?” Merle hörte noch sein krächzendes Lachen.
Tamara hatte auch gelacht als sie sagte, Merle könnte nur einfach nicht dazu stehen. Doch es war ein ersticktes, freudloses Lachen gewesen.
Weiter, sie wollte weiter. Weg von allem, weg von jedem Ort, an dem Probleme auftauchten. Sie unterdrückte den Gedanken, dass dieser verfluchte Penner Recht hatte. Ja, er war ein Penner, aber was war sie denn dann?
Trotzig wischte sie sich die Tränen aus den Augen und strich sich das Haar glatt. Dann stellte sie sich an den Straßenrand, machte das Anhalterzeichen. Viele Autos fuhren vorbei, doch es dauerte trotzdem nicht lange, bis eines anhielt. Eine junge Frau und ihr Sohn saßen darin, Merle schätzte den Jungen auf drei oder vier Jahre. “Bis wohin soll ich di… Sie mitnehmen?”, fragte die Frau. Sie hatte wirklich überlegt, ob sie Merle duzen oder siezen sollte. Sie war siebzehn. War sie erwachsen? Was hieß das eigentlich, “erwachsen“?
“Egal, lassen Sie mich einfach irgendwo raus, ganz wie es Ihnen passt."
Hauptsache weg, fügte sie in Gedanken hinzu.
Die Fahrt war still und kurz. Die Frau hielt am Straßenrand und Merle bedankte sich. Kurz bevor sie die Tür zuschlug hörte sie den Kleinen neugierig seine Mutter fragen: “Mama? War das ein Penner?”
Sie hörte die Antwort der Mutter nicht mehr, doch das war ihr ganz recht.
So hatte sie sich einen Neuanfang nicht vorgestellt.