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Ein sonderbarer Traum
Ein sonderbarer Traum
Es ist ein warmer, sonniger Nachmittag im September. Auf dem Fußweg schlendert ein Mädchen zu der Tischlerei am Ende der Gasse. Ihre Jacke ist bis zum Hals geschlossen, darunter bewegt sich etwas. Gleich ist sie da. Nach der Schule geht sie oft in die Tischlerei ihres Großvaters und schaut ihm bei der Arbeit zu. Dabei erzählen sie sich Geschichten. Manchmal erzählt sie auch von ihren Träumen, doch heute hat sie ein Problem
Als sie in die Tischlerei kommt, erklingt die Glocke über der Tür. Herr Müller, der mit seinem Bart und Brille aussieht wie ein Weihnachtsmann, schaut kurz auf, um zu sehen wer da kommt.
„Hallo, Lilli, warum so zugeknöpft bei diesem schönen Wetter?“
Lilli erwidert das „Hallo“ und fragt ganz aufgeregt: „Weißt du, was ich gestern im Park gefunden habe?“
Großvater bemerkt das Zappeln unter ihrer Jacke und tippt: „Ein Meerschweinchen, das ausgesetzt wurde?“
„Nein, diesmal ist es eine Katze, schau wie süß sie ist.“ Dabei nimmt sie das Kätzchen vorsichtig aus ihrer Jacke, setzt es auf ihren Schoß und beginnt das schwarze, samtweiche Fell zu streicheln. „Mami war nicht gerade begeistert, als ich gestern mit dem Kätzchen nach Hause kam. Ich soll sie heute gleich ins Tierheim bringen, aber ich möchte gern ihr Zuhause finden!“
Lilli streichelt die Katze und sieht Großvater zu, wie er einen Stuhl repariert.
„Kann ich dir was erzählen?“ fragt sie nach einer Weile. „Ich hatte letzte Nacht einen sonderbaren Traum“.
„Wohl wieder von deinem Bauernhof geträumt“, wirft Großvater lächeld ein, „na dann, erzähl' mal.“
„Also, ich war wieder auf meinem Bauernhof und hatte die kleine Katze gefunden und du wirst es nicht glauben, aber die Katze konnte sprechen. Dann hat sie mir erzählt, dass sie bei einer alten Dame, in der Stadt, wohnt.“ Lilli unterbricht kurz und setzt sich aufrecht hin. „Ich will ihr natürlich gleich helfen, ihr Zuhause wieder zu finden und schlage vor, sie in die Stadt zu bringen. Also nehme ich die Katze in meine Jacke und schwing mich auf mein schnellstes Pferd. Wie der Wind reiten wir Richtung Stadt. Doch das Pferd stürzt und ich falle zu Boden. Da fühle ich etwas Feuchtes an meinem Bauch und denke sofort an die Katze.“
Großvater schaut gespannt von seiner Arbeit auf. „Und dann?“
Lilli berichtet weiter, „doch als ich die Augen öffne, liege ich vor meinem Bett. Die Decke um die Beine gewickelt und die offene Wärmflasche auf meinem Bauch. Puh, zum Glück nichts weiter passiert!“
Beide lachen und die Katze schnurrt zufrieden.
Großvater überlegt, ob er Lilli sagen soll, dass heute eine Frau hier war, die ihre Katze vermisst. Doch er hat eine bessere Idee. Er ist nun fertig mit dem Stuhl und fragt: „Hast du Lust, den Stuhl zurück zubringen? Es ist gleich da vorn um die Ecke“.
Lilli, die noch immer mit der Katze schmust, überlegt kurz. „Aber was mach ich mit ihr?“und deutet dabei auf die Katze.
„Nimm sie einfach mit, es ist doch nicht weit“, rät Großvater „aber mach vorsichtig!“
So geht Lilli mit dem Stuhl vor ihrem Bauch und der Katze in der Jacke über die Straße. An der Eck bleibt sie kurz stehen und schaut nach den Hausnummern. Da ist es ja schon. Sie stellt den Stuhl vor die Tür. Die Katze fängt an zu zappeln und steckt den Kopf aus der Jacke. Lilli klingelt, das Kätzchen wird immer unruhiger. Dann geht die Tür auf. Eine ältere Dame, mit weißem, lockigem Haar und im dunkelblauen Schürzenkleid, öffnet vorsichtig die Tür. Plötzlich ruft sie vor Freude: „Meine Mauz, meine Mauz ist wieder da!“ Mit einem Satz ist das Kätzchen aus der Jacke und springt der Frau in die Arme. Lilli ist erstaunt. Sie wollte doch nur den Stuhl abgeben.
Großvater! denkt sie und rennt, ohne sich zu verabschieden, zurück. Empört reisst sie die Tür der Tischlerei auf und will ihn zur Rede stellen. Aber Großvater schlurft gemütlich in die Küche. Statt einer Türe gibt es als Trennung zur Werkstatt nur einen Holzperlenvorhang, der sich leise klappernd hinter Großvater zusammenschließt.
„Woher wußtest du, dass es ihre Katze ist und hast mir nichts gesagt!“ fragt Lilli aufgebracht und setzt sich auf die Werkbank. Aus der Küche hört sie Geschirr klappern und Großvater sagt:
„Ich habe es nur vermutet, da du mir von deinem seltsamen Traum erzählt hast. Die alte Dame hat mir den ganzen Vormittag von ihrer Katze erzählt hat, die seit gestern verschwunden ist.“ Großvater kommt mit zwei Tassen Tee zurück und setzt sich vor Lilli auf einen Stuhl. „Du kannst stolz sein. Die Katze hat ihr Zuhause und die alte Dame und deine Mutti sind zufrieden. Was willst du mehr?“ Lilli küsst Opa auf die Wange und fügt noch hinzu:
„Aber eigentlich bist du ja der Held.“