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Eine Erinnerung

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09.02.2015
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Eine Erinnerung

In dieser Straße war ich zuvor noch nicht gewesen. Wir gingen an einer hohen Mauer entlang. Die Backsteine hatten verschiedene Farben; schmutzige Gelb-, Ocker-, Brauntöne herrschten vor. Hier und da hatte jemand etwas mit dicken, schwarzen Buchstaben darauf geschrieben. Ich begleitete meinen Vater zu einer Autowerkstatt wo er ein seltenes Ersatzteil für seinen Wagen zu finden hoffte. „Was ist da hinter der Mauer?“ fragte ich ihn.
„Das weiß niemand so genau“, antwortete er und verzog unangenehm berührt das Gesicht. „Und das ist auch besser so.“
„Aber warum?“
„Das verstehst du noch nicht.“ Seine Stimme schnitt mir scharf das Wort ab.
Nach einer Weile fragte ich: „Wo sind wir hier, Papa?“
„Wir sind im Süden. Du weißt, dass man im Süden immer besonders gut aufpassen muss. Hier brennt die Sonne so stark. Zu lange unter der Sonne und du verglühst.“
Auf der anderen Straßenseite befanden sich rußgeschwärzte Fabrik- und Industriebauten. Hier und da stieß ein alter gemauerter Schornstein in die Höhe. Ich erinnere mich, dass die Straße immer stiller wurde. Menschen waren gar keine mehr zu sehen; über Pflastersteine rumpelnd verschwand ein Lastwagen in einer Einfahrt; danach hörte ich nur noch den Wind, der plötzlich aufsprang und mir feinen Staub ins Gesicht trieb.
„Ich habe Angst“, sagte ich.
„Hab keine Angst“, erwiderte mein Vater.
Ich nahm seine Hand.
Da waren in einiger Entfernung zwei Gestalten auszumachen. Die eine Person stand unbeweglich da, in einen hochgeschlossenen, dunklen Mantel gehüllt. Beim Näherkommen erkannte ich hinter dem Mann ein Tor, das so weit offen stand, dass ein erwachsener Mensch gerade noch hätte durch den Spalt schlüpfen können.
Der andere Mann saß auf einem niedrigen Schemel seitlich des Tores. Er rang fahrig die Arme. Sein graues Haar hing ihm lang und zerwühlt auf den Rücken.
„Guck da nicht hin“, flüsterte Vater und zerrte mich an seine linke Seite, so dass er nun zwischen mir und der Mauer ging.
Weil ich nichts begriff, begehrte ich auf. „Warum soll ich nicht hingucken?“ „Sei still!“ zischte Vater so eindringlich, dass seine Angst und Nervosität mich verstummen ließen.
Als wir die beiden Männer passierten, schielte ich zu ihnen hinüber, ohne den Kopf zu bewegen. Eine Pelzmütze begrenzte das dunkel-schmutzige Gesicht des Stehenden. Aus zusammengekniffenen Augenlidern fixierte er den Sitzenden, der in Lumpen gekleidet war. Die Textilien, es mussten viele Schichten sein, bildeten eine Spindelform um seinen Körper. In diesem Moment schoben sich Wolken vor die Sonne und verschatteten die Straße. Kurz blickte ich in den dunkel verhangenen Himmel hoch; die drückende Masse über uns schien jederzeit herabstürzen zu können. Dann bemerkte ich, dass durch den offenen Türspalt ein Lichtschein nach draußen fiel und ein schwach sichtbares Muster auf den Gehsteig zeichnete.
Hier bricht meine Erinnerung ab. Ich sehe kein Bild mehr, ich weiß nicht, wie unser Weg, der Tag weiter verliefen, ob wir an unser Ziel gelangten, das gesuchte Ersatzteil für unser Auto erhielten. Später dachte ich mir aus, dass der Mann im dunklen Mantel Kinder anlockte, die durch das offen stehende Tor hinter die Mauer traten und nie wieder hervorkamen. Der Sitzende war ein Vater, der sein Kind wieder zurückhaben wollte.

Als ich zwölf Jahre alt war, starb mein Vater. Mit meiner Mutter zog ich in die Karbidsiedlung. Hier hatten einst die Arbeiter der Fabrik gewohnt. Schmal und spitzgiebelig pressten sich die Häuschen aneinander. Bei uns regnete es durchs Dach, die Kellerwände waren mit Schimmel und Salpeter überzogen. Im Hof wucherte das Unkraut.
Auf der Straße lernte ich zwei Brüder aus der Nachbarschaft kennen. Sie nannten sich Znarf und Mada. Jemand erzählte, dass sie aus Böhmen kämen. Ich hatte von diesem Ort nie gehört, aber der Klang des Namens hauchte etwas Traumhaftes, Tiefdeutsches, Geschichtliches aus. Der 15jährige Znarf war so groß, dass er den Kopf einziehen musste, wenn er durch die Haustür wollte. Mit seinen leicht gebeugten Schultern sah er aus, als hätte er seinen Körper noch gar nicht zur vollen Größe gestreckt. Besonders beeindruckte mich sein breiter, massiger Rücken. Manchmal stand er da, die Arme an eine Hauswand gestützt, und dehnte und wölbte ihn nach allen Seiten. „Der macht keinem was“, sagten die anderen Kinder. So behäbig er sich die meiste Zeit bewegte, geschah es doch, dass er die dünnen, fettigen Haare nach hinten strich, ein Kind am Nacken packte und fauchte: „Jetzt wirst du gewaschen“. Dann schleifte er sein Opfer zu einem kleinen Brunnen mit brackigem, wohl seit Jahren darin stehendem Wasser und tauchte den Kopf des Kindes unter. Eine Schar von Zuschauer sammelte sich um die Szene, Znarf genoss das angstvolle und neugierige Starren der Meute. Die Spannung wuchs, es dauerte endlose Sekunden, bis er den zappelnden Körper schließlich losließ. Alle grölten über das nach Luft schnappende, triefende Kind.
Auch seinen eigenen Bruder verschonte Znarf nicht. Es hatte geregnet, und er drückte ihn mit dem Gesicht in eine Pfütze, zog ihn hoch und stippte ihn wieder ein. Dabei schüttelte er sich vor Lachen; vergnügt klopfte er Mada auf den Rücken, als dieser Wasser hustete.
Mada war vier Jahre jünger als Znarf und reichte ihm bis zu den Rippen. Auffällig war sein flackernder Blick; er sicherte ständig in alle Richtungen. Die Angst staute das Blut in seinem Gesicht, ließ es rot leuchten, die schwarzen Locken schienen zu zittern.

Die Brüder hatten eine Bande gegründet, sie hieß „die Vigilanten“. Das gefiel mir, das klang kraftvoll und kämpferisch. „Wir säubern die Stadt“, sagte Znarf. „Es gibt so viel Dreck, so viel Gesindel. Wir sind die, die aufstehen und dagegen kämpfen. Wenn du mitmachen willst, dann halte dich bereit.“
Eines Abends standen sie bei uns in der Tür, es war schon dunkel. „Kommst du mit?“ fragte Znarf. Mutter schaute erschrocken. „Wohin, warum?“ fragte ich. „Kommst du jetzt, oder kommst du nicht?“ wiederholte Mada. Sie hatten etwas von einem Einstand gesagt. Es wurde ernst. „Wer sind die?“ flüsterte Mutter. Ich beachtete sie nicht.
Mit 80, 90 Stundenkilometern rasten wir durch die Stadt. Bodenwellen und Schlaglöcher schüttelten uns durcheinander. In den Kurven ächzte der kleine, alte Wagen. Ich erkannte die Straße wieder. Da war jene Backsteinmauer, an der ich als Kind, sieben oder acht Jahre alt, an der Hand meines Vaters entlanggegangen war. Seither war ich nie wieder dort gewesen. Und dann sah ich im Lichtkegel der Scheinwerfer jene zwei Gestalten wieder. Der Sitzende gestikulierte wie damals, als würde er den Stehenden, der wohl das Tor bewachte, um Einlass bitten. Dieser rührte sich nicht.
Wir stiegen aus. Znarf stieß dem Bettler die Faust an den Oberarm. „Wir haben dir jemand mitgebracht.“ Mit einer Kopfbewegung winkte er mich heran. „Jetzt zeig mal, was du kannst. Mach den fertig, die verwanzte, alte Sau.“
Aus dem Kofferraum nahm er eine grob zugehauene Holzkeule und reichte sie mir. Ich hielt sie in der Hand und bewegte mich nicht. Es ist noch heißer hier als früher, dachte ich. „Mach wenigstens einen Schweigeschlag!“, fuhr Znarf mich an. „Einmal draufhauen, damit du dabei gewesen bist. Ich übernehme dann den Rest, du Kind.“ Ich hasste mich dafür, feige zu sein – so war ich es nicht wert, ein Vigilant genannt zu werden. „Und er?“ fragte ich und nickte in Richtung des Türstehers. „Kümmer dich nicht um ihn“, flüsterte Znarf. Ich holte zur Seite aus und traf den Alten ohne große Wucht an der Schulter. Er kippte vom Schemel. Breitbeinig stellte ich mich über ihn. Er jammerte und stöhnte. Ekel erfüllte mich: Die schmutzverkrusteten Kleider, der Gestank, die eitrigen Augen, der Schorf auf der Haut. „Los“, knurrte Znarf. Da schloss ich die Augen und hob die Keule hoch über meinen Kopf. Meine Bewegung ähnelte der beim Holzhacken im Hof unseres Karbidhäuschens: Ich legte alle Kraft in den Schlag und schwang sogleich zurück nach oben. Der Schädel des Alten barst mit jenem Geräusch, das entsteht, wenn man ein trockenes Brötchen bricht. Ich hörte einen Schrei. Wieder und wieder schlug ich zu, bis schließlich das Holz splitterte. Keuchend vor Anstrengung warf die Waffe von mir und drehte mich weg, den Blick auf mein Opfer vermeidend. „Mann, jetzt bist du dabei!“ Znarf hieb mir so heftig auf die Schulter, dass ich zwei Schritte nach vorn stolperte. Das eiserne Tor war braun vor Rost. Wie damals warf das Licht, das durch den Spalt drang, ein Muster auf den Gehsteig. Ich sah zu dem großen, schlanken Mann im Pelzmantel hin. Bewegungslos wie er dastand, ging eine Anmutung von Stärke und Macht von ihm aus. Da hob er den Arm und winkte mich mit zwei Fingern zu sich heran.
Ich gehorchte.
Er neigte sich tief zu mir herunter. Sein fremdes, dunkel-schmutziges Gesicht war meinem ganz nah. Die schmalen, geschlitzten Augen, die Spitznase, der dünne Bart drängten auf mich ein. Der Mann hatte alles mit angeschaut. Was würde er jetzt mit mir tun?
Seine Stimme klang abgehackt und mechanisch, als entstammte sie einer anderen Welt. „Du hast deine Aufgabe erfüllt. Ich danke dir für das, was du getan hast. Ich gehe jetzt und schließe diesen Eingang. Er war nur für ihn bestimmt.“
Mada stand neben mir und murmelte: „Aber wir wollten hier rein.“ Der Wächter wandte sich ihm zu und starrte ihn an. Mada blickte in Richtung des leblosen Körpers und wich stumm zurück.
Jemand zog mich am Arm. Ich ging mit, willenlos, ich sah das Auto, Mada hielt mir die Tür auf, ich kletterte auf den Rücksitz, der Wagen fuhr los.
Ich habe vergessen, was ich in den darauf folgenden Tagen dachte oder fühlte. Wenige Zeit später zog meine Mutter mit mir ganz überraschend, ohne Vorbereitungen, auch ohne, dass ich den Grund erfuhr, in eine andere Stadt. Znarf und Mada habe ich nie wieder gesehen.

Vor kurzem jedoch bin ich nach Jahrzehnten einmal in meine Heimatstadt zurückgekehrt. Aber ich erkannte nichts wieder. Überall sind Hochhaussiedlungen entstanden. Zudem ist die Stadt sehr gewachsen, hat die umliegenden Dörfer und Felder verschluckt. Ich fuhr in den Süden, suchte die Backsteinmauer, das Tor, wo sich damals alles abgespielt hatte. Doch ich hatte keinen Erfolg. Allem Anschein nach existierte nicht einmal mehr die lange, gerade Straße. Die Viertel durch die ich kam, schienen fast ausschließlich von jungen Leuten bewohnt zu sein. Sie bewegten sich auf eine andere Art als ich; schneller, kantiger, herrisch, als wollten sie die Luft vor sich teilen. Etwas Drohendes ging von ihnen aus. Viele rauchten. Ich ging am Rand des Gehsteigs, vermied Blickkontakt. Die Straßenzüge dehnten sich. Ich verlor jede Orientierung und wagte nicht, jemanden zu fragen. Ein Taxi brachte mich schließlich ins Hotel zurück. Am gleichen Abend noch reiste ich ab.

 

Hey jo Chrisjo.

Willkommen bei den Wortkriegern.

Ich vermute mal, das das ein Anfang einer größeren Geschichte werden soll. Denn aus meiner Sicht, sind für eine Kurzgeschichte zu viele Dinge offen geblieben.

Inhaltlich komme ich auch nicht so recht klar. Der Einstieg mit dem Vater soll die Gegend mystifizieren. Spannung aufbauen. Fragen aufwerfen. soweit ist das inhaltlich ja auch in Ordnung.
Dann kommen die beiden Bolz-Brüder und hier ist es mir unverständlich, warum dein Protagonist da überhaupt mitmachen will? Sie wollen "aufräumen" - ok. Na schön. Aber er fährt nur mit um einen umzubringen. Und da wirds unlogisch: Wieso wird ihm beim Besuch der Gegend mit dem Vater die Erinnerung verweigert, aber bei einem traumatischem Ereignis, dass er zum ersten mal einen tötet kann er sich an alles erinnern.
und er steckt das so locker flockig weg, Mama zieht um. Er sucht die Gegend nochmal - nicht gefunden, naja, dann nicht.
Hab ich halt mal einen umgenietet - ist ja nich so schlimm.

Mag ja sein, dass in dem Kontext der Geschichte so etwas normal ist, weil es in einer komischen Zukunft, in einer Fantasy-Welt oder in einem sonst irgendwie skurrielen Universum spielt - aber das kann ich aus der Geschichte nicht rauslesen.

Apropos dein Protagonist :)
Der bleibt irgendwie farblos, charakterlos. ein mitfühlen, mit leiden, mitfiebern kann so aus meiner Sicht nicht stattfinden, weil man sich überhaupt nicht in ihn reinversetzen kann. Das fängt mit der Banalität an, dass ich nach der ganzen Geschichte nicht weiß, wie er überhaupt heist. Kein Name, keine Herkunft.
Znarf und Mada sind dagegen Charaktäre mit Namen und Herkunft. Auch wenn man sie nicht leiden mag - aber sie sind nicht so farblos wie dein Protagonist.

Die Erzähl-Sprache klingt "hölzern" - mit fällt grad kein besseres Wort ein. Irgendwie passt das auch zur skurrilen Geschichte, ist aber gewöhnungsbedürftig.

soweit mein kurzes Feedback.
Ich hoffe Du kannst damit etwas anfangen.

gruß
pantoholli

 

Danke Pantoholli für das Feedback. Die Kritik nehme ich erst mal dankend an und denke darüber nach. Eine Erklärung an dieser Stelle.
Ich wollte die Geschichte nicht in einem Duktus/Stil schreiben, den ich für mich"Psychologischer Realismus" nenne; d.h. der Leser wird mitgenommen, nimmt teil am Innen-, Gefühlsleben der Hauptfigur, identifiziert sich mit ihr, die Figur hat nachvollziehbare Motive, ich baue ein stimmiges Setting auf, Umgebung, soziales Umfeld, man erfährt etwas über ihre Vergangenheit etc.
Nein, ich wollte, dass die Geschichte sich auf einer anderen Ebene mitteilt, auf eine andere Weise funktioniert - ohne, dass man den Psychologischen Realismus vermisst. Wenn es nicht geklappt hat, dann ist es natürlich schade.
Beste Grüße
Chrisjo

 

Hallo chrisjo,

das, was du 'Psychologischen Realismus' nennst, also im weitesten Sinne die Identifikation mit dem Protagonisten, habe ich überhaupt nicht vermisst. Mir gefällt die distanzierte Herangehensweise.
Auch deine Erzählsprache gefällt mir, sie erzeugt Atmosphäre die zur Story passt. Hart vielleicht, oder kalt. Das passt auch zum Abstand von der Hauptfigur.

Ich habe mich (trotz der Sonne, die nicht ganz ins Bild passt) in einem Industrie-, Chemie-, oder vielleicht Bergbauviertel einer Stadt wiedergefunden? Den ersten Abschnitt finde ich schlüssig und spannend, mit einer Anmerkung:

Eine Pelzmütze begrenzte das dunkel-schmutzige Gesicht des Stehenden.

Ich dachte es sei so heiß?

Danach erschließt sich mir der Sinn nicht ganz. Ich habe zwar die eine oder andere Interpretation vor Augen, aber keine passt so ganz. War das Absicht?

„Du hast deine Aufgabe erfüllt. Ich danke dir für das, was du getan hast. Ich gehe jetzt und schließe diesen Eingang. Er war nur für ihn bestimmt.“

Eingang, oder eigentlich Ausgang? Und warum den Bettler töten, er war doch schon jahrelang am ein-, oder eben heraustreten gehindert worden war? Warum nicht einfach die Türe schließen?

Und was hat es mit dem Muster auf sich?

Wenige Zeit später zog meine Mutter mit mir ganz überraschend, ohne Vorbereitungen, auch ohne, dass ich den Grund erfuhr, in eine andere Stadt.

Das erscheint mir sehr unlogisch. Der Protagonist ist alt und kräftig genug, um jemanden zu erschlagen, und außerdem unerzogen genug seine Mutter in ihren Sorgen unbeachtet stehen zu lassen. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass er nicht eine Erklärung eingefordert hätte.

Alles nachdem er wieder ins Auto steigt wirkt ein bisschen so, als wäre dir die Luft ausgegangen. Ich schließe mich Pantoholli an, für eine Kurzgeschichte sind zu viele Dinge offen geblieben.

Liebe Grüße,

lebenslaeufer

 

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