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Eine Nacht in Sankt-Petersburg

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24.08.2006
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Eine Nacht in Sankt-Petersburg

Eine Nacht in Sankt-Petersburg

Ich war zu Gesprächen über die wirtschaftliche Lage nach Russland eingeladen worden. Vier Tage dauerten die Konferenzen im dortigen Wirtschaftsministerium, doch trotz und gerade wegen unterschiedlicher Sichtweisen waren die Diskussionen ziemlich erfolgreich verlaufen. Während wir über den Akten diskutierten, hatte es in Sankt-Petersburg kräftig geschneit und die Kuppeln und Häuser waren reichlich mit Schnee bedeckt. Die Gehwege aber waren wegen der vielen Fußgänger und Autos zur Weihnachtszeit immer noch schneefrei. An meinem letzten Tag machte ich noch einen Bummel über den Weihnachtsmarkt, bevor ich abends wieder zurück nach Rom fliegen würde.

Unten am Marktplatz waren die Weihnachtsbuden aufgebaut, ein Kinderkarussell war die große Attraktion für Jung und Alt und Weihnachtsmänner liefen herum und schenkten allen Schokolade oder Plätzchen. Die Erwachsenen hatten rote Wangen vom Glühwein und die Kinderaugen strahlten im warmen Licht des Weihnachtsmarktes vor Vorfreude.

Ich schaute ich mir die Tücher und Stoffe an, Holzschnitzereien und Glaswaren in fast jeder Größe und Form und weiße Weihnachtsengel mit Silberhaar fand ich an jedem Stand. Die Luft war klar und kalt und ein wundervoller Duft von gerösteten Maronen, Glühwein und Zimtsternen durchzog den Markt. Ich kaufte mir eine Tüte Maronen, und während ich mir wie immer die Zunge verbrannte und pustete, entdeckte ich jenes seltsame rote Fläschchen.

„Sankt-Petersburger Liebesnächte“ stand auf dem leicht vergilbten Etikett. Mir war es gleichgültig, was darauf stand, denn ich wollte lediglich einen kleinen Likör zum Aufwärmen. Also kaufte ich ihn kurzerhand und schlenderte gemütlich weiter. Die leuchtende Stadt war mir während meines Aufenthaltes ein bisschen ans Herz gewachsen, und ich trank einen Schluck aus dem kleinen Fläschchen, gegen mein bisschen Wehmut. Es schmeckte ahnlich einem Kirschlikör. Mir wurde bald warm und meine sentimentalen Gedanken verflüchtigten sich mit einem Mal. Die Gesichter der Besucher und die vielen Dächer des Marktes überzogen sich, je weiter ich ging, mit einer sanften roten Farbe. Die Stände löschten mit jedem vierten oder fünften meiner Schritte ihre Lichter und nach und nach schlossen die Leute auch die hölzernen Ladenklappen. Über den roten Dächern leuchteten bald nur noch die Sterne und der volle Mond war fahl und gelb. Manche der silbrigen Sterne bewegten sich sehr schnell, aber nicht mit langem Schweif, wie bei den Sternschnuppen. Flugzeuge sind das, dachte ich, obwohl ich auch nicht ein einziges grünes oder rotes Licht blinken sah.

Ein Reiter trabte an mir vorbei. In Sankt-Petersburg gibt es zur Weihnachtszeit oft Kutschfahrten und hin und wieder sieht man einzelne Pferde durch Straßen geführt werden, und so dachte ich mir nichts dabei. Der Reiter ritt ein gutes Stück an mir vorbei, dann drehte er plötzlich um und kam zurück. Er hatte einen dunklen Umhang an und eine große schwarze Kapuze auf.
„He da“, rief er, "Geselle!"
Ich schaute hoch, doch der Mond blendete mich. Ich konnte nur eine ovale schwarze Fläche erkennen, da wo sein Kopf saß.
„Verlaufen, Gesell?" fragte er mich mit melodischer Stimme. Sein "Gesell" fand ich irritierend, doch hätte ich irgendwie auch kein anderes Wort von ihm hier in dieser verschneiten russischen Nacht erwartet. Es war ein ganz eigenartiges Gefühl in mir, als zittere ich und wäre ganz wach.
"Ja", sagte ich zu ihm. "Ich wollte eigentlich zu meinem Hotel unten in der Stadt. Ich muss mich verlaufen haben."
Er schwieg ein paar Sekunden und musterte mich wohl. "Na dann komm doch einfach mit. Ich reite ins Dorf hinunter. Zum Offizierskasino.“
Seine Stimme klang freundlich und warm und wenn es auch ein bisschen fremd für mich war, dass für ihn Sankt-Petersburg nur ein Dorf sei, so vergaß ich meine Zurückhaltung, reichte ihm die Hand und er zog mich zu sich hinauf. Er achtete darauf, dass ich richtig saß und mich am Sattel festhielt. Dann preschten wir mit einem Schlag davon als sei der leibhaftige Teufel hinter uns her. Die Silhouetten der Häuser rauschten an uns vorbei, und ich war die meiste Zeit nur damit beschäftigt, mich an ihm und dem Sattel festzuhalten. Ich kann nicht genau sagen, wie lange wir ritten, es muss eine gute viertel Stunde gewesen sein, da hielt er plötzlich vor einem mit Fackeln beleuchteten Haus. Das Pferd schnaubte und keuchte wild und sein Dunst trat in heftigen Stößen heraus.
„Steig ab“, sagte der Reiter ruhig. Ich fühlte mich wie in Watte gepackt von dem kalten Wind. Ich stieg ab und ging mit ihm zu einer großen weißen Tür.
Er klopfte an. Ein paar mal lang, ein paar mal kurz. Die Tür öffnete sich knapp.
Ja?", zischte es misstrauisch.
"Ich bins", sagte mein Reiter.
"Endlich!", hörte ich den anderen sagen. Er öffnete die Tür. "Bravo!", sagte er und lächelte. Dann schaute er mich fragend an.
"Ein Freund,", sagte mein Reiter. "Er wird uns helfen." Der andere nickte, ließ uns ein, und stellte ein paar mächtige Balken zur Verstärkung dagegen. Er machte ein weiteres Gatter auf, und wir kamen in das Hausinnere. In schnellem Schritt liefen wir durch die langen Flure, die alle paar Meter mit Fackeln bestückt waren. Vor einer kleinen braunen Tür hielten wir. „Geh hinein und warte“, sagte mein Reiter und entfernte sich.

Ich schaute mich um. Der Raum war dunkel, und über einem altertümlichen Bett brannte eine kleine Fackel. Nach und nach erkannte ich an den Wänden verschiedene Decken und Stoffe. Ein Schminktisch stand neben dem Bett und auf einem Stuhl, lag ein heller Stoff. Plötzlich sah ich mein Gesicht in einem Spiegel. Ich wirkte wie eine Figur von vor mehr als 200 Jahren, mit einer Barock-Perücke und einer roten Jacke mit Goldknöpfen. Ich betastete die Perücke, fühlte meine Jacke, und in mir stieg langsam Panik auf. Was war geschehen, was sollte das?

Die Tür öffnete sich und ein Mädchen in Offiziersunform trat ein. Ihre Augen leuchteten im Fackelschein und in der einen Hand trug sie eine Kopfbedeckung. Ich erkannte ihre sanfte Wölbungen hinter der Uniform.
„Nun zu dir, du schöner unbekannter Mann", sagte sie in ruhigem Ton. Ich erkannte die Stimme. Es war die Stimme ... meines Reiters.

„Ich heiße Elisabeth“, sagte sie und gab mir ihre Hand, "Ich bin die Erste, wenn du es so willst!", sagte sie. Ich meinte ein verstecktes Grinsen in ihrer Stimme zu hören.
"Roswora-Benini", sagte ich räuspernd und versuchte die Hacken zusammenzuschlagen. Mein Ton überraschte mich, denn meine Stimme klang viel tiefer als sonst. Noch mehr allerdings überraschte mich, dass ich die Hacken zusammenschlug. Ich, der ich nie bei einem Wehrdienst gewesen war.

"Mirko Roswora-Benini", sagte ich und ergriff ihre ausgestreckte behandschuhte Hand. "Ich bin Volkswirtschaftler an der Universität von Rom und hier in Sankt-Petersburg zu wissenschaftlichen Gesprächen eingeladen."
"Sie kommen von Rom mein Herr?", fragte sie ungläubig.
Ich nickte. „Jawohl“, sagte ich. Abermals überraschte mich mein Wortschatz. Jawohl, das hatte ich noch nie gesagt.
"Rom“, sagte sie. „Rom - das ist aber von sehr weit her, Herr Roswora-Benini. Sehr weit. Da reitet man doch bestimmt sehr sehr lange. Und jetzt bei dem Wetter? Bei so viel Schnee? Kann es sein, dass sie mir etwas auf meine Nase binden wollen? Kann es sein? Doch weil Sie so ein Hübscher sind, lasse ich sie gern gewähren und deute es für mich um: es ist ihr Charme, mit dem Sie mich umgarnen wollen, nicht?"
Sie hob ihre weiße Barock-Perücke und fuhr sich ein paar Mal mit der Hand durch ihr darunter hervorquellendes blondes Haar. Sie schüttelte den Kopf, dann schaute sie mich an. Ich konnte nicht anders und musste den Duft ihres Parfums tief einsaugen.
"Ja?", fragte sie mit tiefer Stimme und stützte ihre Hand auf die Hüfte.
"Erstens komme ich von Rom, Elisabeth“, sagte ich, „aber ich bin nicht geritten. Ich bin geflogen.“
Sie lächelte mich seltsam an und leckte sich über ihre Unterlippe.
„Und zweitens?“, fragte sie mich.
„Zweitens“, sagte ich, „zweitens, sind Sie sehr bezaubernd, Elisabeth".
Sie nickte als hätte sie das schon tausend Mal gehört.
"Danke“, sagte sie. „Das ist originell, dass Sie das so sehen, Herr Roswora. Zu mir fliegt man, weil man nicht anders kann. Sie sind ein gut geübter Charmeur!“
Sie schaute mich aus ihren blauen Augen tief an.
„Mögen Sie vielleicht etwas zu trinken?" fragte sie und ging zu dem Stuhl auf dem der seidig glänzende Stoff lag. Sie nahm ihn sanft in ihre Finger. Dann drehte sie sich zu mir um.
"Wir haben sogar Champagner."
Ich wollte gerade etwas sagen, leckte mir selbst über die Lippen, da sie merkwürdig trocken waren, da wurde es plötzlich heller und heller um mich herum. Das Bild des Marktes von Sankt-Petersburg zwängte sich unnachgiebig durch und Elisabeths hübsches Gesicht verwischte mehr und mehr. Ich roch ihr betörendes Parfüm immer weniger, denn der Geruch von Zimtsternen überlagerte es. Das letzte was ich sah, war ihr Blick. Verwirrt und ungläubig sah sie mich an.

Ich fühlte die Realität auf dem Markt. Es war kälter geworden und der Schnee fiel auf mein Gesicht und meine Jacke. Mich fröstelte. Ein Mädchen von einem der Stände schaute mich im Lampenlicht fragend an. Hatte ich etwa die ganze Zeit hier gestanden? Vor ihr? Und wieviel Zeit war vergangen? Sie lächelte mich verhalten an, so wie man Menschen anschaut, die lange geträumt haben oder etwas Dummes begangen hatten.
Ich überlegte und dann fragte ich mich, wer sie wirklich war, die mich da anlächelte.

 

Hallo Covellin,

das Ende deiner Geschichte kam nach dem etwas seltsamen Verlauf überraschend für mich – ich fragte mich während des Lesens, wohin der Reiter deinen Protagonisten wohl bringt und was das alles zu bedeuten hat –; es riss mich jedoch nicht vom Hocker, ja ich fand es beinahe etwas enttäuschend, dass da am Ende nicht "mehr" war, falls ich alles richtig verstanden habe.

Ansonsten erschienen mir einige Punkte nicht ganz glaubwürdig:

Die Gehwege aber waren wegen der vielen Fußgänger und Autos zur Weihnachtszeit immer noch schneefrei
Wirklich, wenn es überall kräftig geschneit hat? Ich stelle mir da eher ziemlich viel Matsch vor.
Unten am Marktplatz waren die Weihnachtsbuden aufgebaut, ein Kinderkarussell war die große Attraktion für Jung und Alt und Weihnachtsmänner liefen herum und schenkten allen Schokolade oder Plätzchen
Meines Erachtens gibt es in Russland keine Weihnachtsmänner, sondern es ist "Väterchen Frost", der die Geschenke bringt, oder? Die Weihnachtsatmosphäre auf dem Marktplatz kommt ansonsten aber ganz nett rüber.
"Wir haben sogar Champagner.
In Russland hätte ich eher Wodka erwartet. :D

Ich hoffe, du kannst mit meinen Anmerkungen was anfangen. Hab die Geschichte gerne gelesen. :)

Viele Grüße
Michael

 

Hallo Michael,

danke erstmal für dein Feedback, denn auch Kritisches ist ja wichtig. So dachte ich mir beinahe selbst, dass das niemand vom Hocker reißt.
Na ja, die Welt ist "verdorbener" geworden und Drogen, die einen in ein anderes Jahrhundert versetzen, das kennt man mittlerweile.
Vielleicht kommt die Geschichte somit 40 oder 50 Jahre zu spät?

Immerhin konnte ich dich ein bisschen auf dem Weihnachtsmarkt einzaubern.

Ich gebs zu, ich hab nicht recherchiert, wer in Russland die Geschenke bringt, daran hatte ich nicht gedacht, dass es Väterchen Frost ist.

In Russland hättest du eher Wodka erwartet, ganz recht. Ich dachte, zur königlichen Atmosphäre passt Champagner. Ob damals die Frauen schon
Wodka tranken wie heute?

Für mich selbst ist es eine Kurzgeschichte, die ich vielleicht mit etwas altem Stil geschrieben habe. Ich sollte besser Neueres lesen.

Straßen haben Matsch, klaro.

Danke nochmals fürs Lesen und
zur Spannung darfst du dich wieder in den King vertiefen.

Schönen Gruß covellin

 

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