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Eine Stunde vor dem dreißigsten Geburtstag

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09.12.2015
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Eine Stunde vor dem dreißigsten Geburtstag

Ich ging wieder durch die Straßen des Landes aus dem Sigmund Freud und Franz Kafka stammten, weiter und immer weiter, bis ich mich im althistorischen Prag verlor. Es war einen Tag vor meinem dreißigsten Geburtstag, ein Alter vor dem ich mich närrischer Weise fürchtete.
An der Südseite vom Altstädter Rathaus setzte ich mich auf eine Bank und blickte weit nach oben auf dessen mächtig anmaßende Astronomische Uhr. Ich landete nicht zum ersten Mal an dieser Stelle, Anfang der Neunziger, wo ich das Gefühl hatte, keiner wusste so recht wo er hinwollte, ob nun im buchstäblichen oder übertragenen Sinne.
Das Rathaus selbst war ein sehr ansehnliches gotisches Gebäude, aber die Uhr erregte meine Aufmerksamkeit. Aus reinem Interesse hatte ich mich zuvor sogar ausführlich über sie informiert. Die Uhr besaß mehrere Zeiger: einen Sonnenzeiger, einen Mondzeiger sowie die Ekliptik für die Tierkreiszeichen. Als besonders auffallend empfand ich das den Tod symbolisierende Skelett zur rechten der Uhr – schon ein bisschen unheilverkündend.
Ich schaute auf meine Armbanduhr, um die Zeit beider Uhren miteinander zu vergleichen. In etwa musste es stimmen – auch wenn ich meine Augen noch so anstrengte, war es schwierig auf die Entfernung die römischen Ziffern zu lesen.
Obwohl es relativ spät war, waren noch viele Menschen unterwegs auf dem Platz, liefen in alle Richtungen, Paare, Familien, Einzelgänger – so wie ich. Es gab noch reichlich mehr Bänke auf dem Platz, aber es schien als wäre ich der einzige, der auf einer von ihnen Platz genommen hatte. Alle anderen waren unterwegs, bewegten sich unter der gigantisch hohen Uhr vorwärts, die ebenfalls vorwärts lief. Diese war in der Lage die Sekunden ewig in die Länge zu ziehen, konnte aber auch jahrzehntelange Ereignisse voller Schmerz und Trauer aber auch Glück und Frieden wie lediglich eine Stunde erscheinen lassen.
Ehrfurchtvoll blickte ich erneut zur schwarzen Uhr mit den goldenen Ziffern hinauf, die etwas Magisches ausstrahlte und fast wie eine Gottheit erschien. Ich steckte die Hände in die Manteltaschen und atmete tief aus. Es war kalt, die Beine zitterten. Ich wippte mit den Füßen auf und ab.
Dann schlug es neunzehn Uhr und ich beobachtete das übliche Szenario oben am Zeitobjekt: der Hahn krähte, die Apostelfiguren gingen umher, der Tod riss an seinem Seil.
Die Apostel würden noch zwei Mal an diesem Tag umhergehen. Sie taten es jeweils bis einundzwanzig Uhr, dann hatten sie frei.
Ein alter Mann in dunklem Mantel mit Schnauzbart setzte sich unvermittelt neben mich und betrachtete ebenfalls die vorbeiziehenden Menschen.
Der Mann weckte mein Interesse, ich schaute bemüht unauffällig mehrmals zu ihm hinüber. Er saß da wie angewurzelt, strahlte jedoch etwas ganz Besonderes aus, wie ein Philosoph, ein moderner Prophet, der über alles und jeden vollkommene Klarheit besaß.
Ich ärgerte mich über meine Menschenscheu, überwand mich; »Hallo«, sagte ich freundlich in klarstem Tschechisch und lächelte ihn zaghaft an.
Er drehte mir den Kopf zu, als bemerkte er mich erst jetzt. »Ahhhh, junger Mann!«, sagte er, als kenne er mich von jeher. Und schon schaute er wieder auf die Leute, die den Platz bevölkerten, als hätten sie nichts Besseres zu tun – genau wie ich nichts Besseres zu tun hatte.
»Merkwürdig diese Menschen, hm?«, ließ er verlauten. Er hob den Kopf zur Rathausuhr. »Und diese Uhr erst!«
Ich runzelte die Stirn, schaute erst ihn an, dann gerade aus zum Getümmel und schließlich wieder herauf zum allgewaltigen Zeitmesser.
»Darf ich fragen, wie lange Sie schon in Prag leben?«, sagte ich.
»Sie dürfen.«
Mehrere endlos erscheinende Augenblicke verstrichen.
Ich räusperte mich. »Ähm, und wie lange leben Sie schon in Prag?«
Er blickte mich mit einem merkwürdig intensiven, kritischen Ausdruck an, dann sah er wieder geradeaus »Ach, weißt du mein Junge, ich lebe schon so lange in der Stadt, dass ich zu vergessen scheine wie lange. Manchmal kommt es mir vor wie eine Ewigkeit, als habe ich selbst das alles erlebt, das Altern, das Verrosten, den Erhalt, von Zerfall bis Wiederaufbau alles durch. Es ist, als sei ich Prag.«
Er lächelte, wobei noch mehr seiner vielen Falten sichtbar wurden und seine Augen sich zu Schlitzen verengten. Ehrlichgesagt sah der Mann aus wie über hundert. Dafür gestikulierte er flott und saß aufrecht, strotzte vor Energie und Vitalität.
Minuten verharrten wir so schweigend in angenehmer Stille.
Als sei seine Zeit hier abgelaufen, stand er plötzlich auf und sagte »Mach´s gut, mein Junge!«, wieder als kannte er mich schon sein Leben lang.
Instinktiv sagte ich: »Warten Sie!«
Er beugte sich zu mir herab, um mir die Hand zu geben und mir einen letzten eindringlich-warmherzigen Blick zu schenken.
Letztlich ging er ein paar Schritte, ein bisschen wie ein Pinguin, torkelte, drehte sich noch einmal um und winkte mir für zwei Sekunden zu. Er wurde immer kleiner, während er zwischen all den Menschen geradeaus davonging und verschwand.
Es wurde zwanzig Uhr, wieder der Hahn, wieder die Apostel, wieder der Tod. Der Abend der Kuriositäten am Platze der Zauberuhr war jedoch noch nicht vorbei, hatte ich das Gefühl. Und wie hieß es doch in der Bibel: nach dem dritten Krähen des Hahns würde Petrus Jesus verraten, und das war erst das zweite Krähen.
Ich atmete kleine, in der Kälte kondensierte Luftwölkchen aus. Der Platz lichtete sich nun etwas, da es begann dunkel zu werden.
Als ich so dasaß, tauchte ein Mädchen vor meinen Augen auf und positionierte sich aufrecht wie eine Soldatin vor mir. Sie begann mitten auf dem Platz zu tanzen.
Das junge Mädchen um die acht Jahre bewegte sich in sehr unbeholfener Art und Weise, die jedoch zugleich wunderschön war; sie tat es mit so viel Leidenschaft und Freude, ohne sich annähernd um ihre Umgebung zu scheren. Sie tanzte zu einer imaginären Musik, doch ich hörte sie, es war als zaubere sie die Melodie durch ihren Tanz in meine Ohren. Kurz erschien mir der riesige Platz wie eine große Ballhalle, in der alle Menschen, in Kleider und Anzüge gehüllt, im Paartanz einen Wiener Walzer tanzten. Nur das Mädchen, das tanzte alleine. Sie war die Hauptattraktion des Abends; diejenige die im strahlenden Licht erschien.
Für einen Augenblick schloss ich die Augen und lauschte der Musik, mit der plötzlichen Eingebung, dass ich ihr Tanzpartner sein musste.
Ich öffnete die Augen, richtete mich von der Bank auf und starrte nach vorne … doch das wunderbare Irrlicht am Prager Abend war verschwunden.
Oft sollte ich mich ernsthaft fragen, ob dieses Traumwesen wahr war oder nur meiner Einbildung entsprang. Ich wusste es nicht.
Ich sollte dieses Mädchen später noch mehrere Male auf den Straßen Prags sehen, was einem Wunder für mich glich, und jedes Mal tauchte sie so wie ein Geist aus dem Nichts auf und verschwand kurz darauf genauso unvermittelt wieder. Und meine Jahre in Prag vergingen, aber immer trug das Mädchen die gleiche Kleidung und wurde kein bisschen älter.
Einundzwanzig Uhr. Letzter Auftritt: Hahn, die Apostel, Tod. Erst morgen früh würden sie wiederkommen und sich erneut an die Arbeit machen.
Eine junge Frau in langem Parka, blassen Jeans und Turnschuhen kam mit erhobenem Plakat daher und rief die Parole, die darauf stand: »Deutsche raus! Franzosen raus! Italiener raus! Russen raus! Alle raus! Samtene Revolution reicht nicht! Gebt uns unser Tschechien zurück! Ein für alle Mal!«
Ein Mann mittleren Alters, offensichtlich ein Tscheche, kam auf sie zu, griff nach dem Plakat und wollte es ihr entreißen. »Du weißt doch nicht was du tust, du Närrin! Solche Sprüche machen uns doch auch nicht besser als die!«
»Lass mich, du Vollidiot!«
Sie zerrten beide an dem Stück Papier. Ich schaute dem Treiben zu, wusste nicht, ob ich mich einmischen sollte. Das Plakat zerriss in der Mitte.
Die junge Frau fing an, jämmerlich zu weinen. Der Mann versuchte sie zu trösten. Sie haute ihm eine ins Gesicht herunter.
»Blöde Schnepfe!«, rief er und ging wütend vom Platz davon.
Das Mädchen ließ sich zu Boden fallen. Sie heulte immer noch unaufhörlich.
Ich lief auf sie zu.
Noch bevor ich fünf Meter an sie herantreten konnte, rief sie wehleidig und mit versagender Stimme: »Verschwinde!«
Ich tat, was sie sagte und schlenderte zurück zur Bank.
Als ich die Bank erreichte, mich umdrehte und setzte, war auch sie verschwunden. Ich fragte mich, ob ich verrückt zu werden begann und mir all die Personen und Geschehnisse nur einbildete, aber etwas tief in mir sagte mir, dass das nicht der Fall war.
Der Astronom zeigte zweiundzwanzig. Und was kam nun? Nichts mehr! Die Apostel, der Hahn und selbst der Tod hatten sich ins Frei verabschiedet. Mir wurde melancholisch zumute. Ich schaute auf den grauen Asphalt.
Doch ich würde die Bank bis zum Mitternachtsschlag nicht verlassen.
Jetzt war ich ganz allein auf dem Platz. Kaum ein Geräusch unterbrach die Stille; hin und wieder spielte der Wind mit ein paar Dosen und Plastikflaschen.
Ich ertappte mich dabei, dass ich doch noch auf eine spannende Begebenheit wartete.
Ich schaute mich um. Niemand kam. Jedes Detail um mich herum, versuchte ich mir in einsamem Spiel zu merken.
Zu meinem Bedauern verging die Zeit meinem Gefühl nach doppelt so langsam. Ganz eindeutig spielte mir die Astronomische Uhr einen Streich.
Dreiundzwanzig Uhr – eine Stunde vor dem dreißigsten Geburtstag.
Nichts geschah mehr. Lediglich mein Nacken wurde steif vom permanenten und erstarrten Hinaufschauen zum Freund oder Feind dort oben.
Die faulen Zeiger – konnten sie sich denn nicht schneller bewegen?
Ich seufzte und bemitleidete mich, Michal Jeschek, in Gedanken selbst.
Als es dann schließlich kurz vor Zwölf wurde, überkam mich bloße Furcht. Tiefste Schwärze hatte den Sieg über das Licht der Lampen rundherum sowie in meinem Innern errungen.
Trotzdem wünschte ich mir, es würde endlich Zwölf werden, nur weil das Warten eine größere Qual darstellte als jedes mögliche Ergebnis.
Tick, Tack.

Tick, Tack.

Tick, Tack.

Ganz langsam, endlich und leider, wurde es Zwölf.

 

Hallo Chico1989,

Ich habe deine Geschichte gelesen und muss sagen, dass ich ein bisschen traurig bin. Du baust nach einem nicht so prickelnden Einstieg Spannung auf und man ist neugierig, was dann kommt, wenn die Apostel zur Ruhe gekommen sind. Der Alte, das achtjährige Mädchen und die junge Frau mit dem Plakat – ich hatte das Gefühl, das sind sowas wie die Geister in Charles Dickens Scrooge. War aber Fehlanzeige. Ich hätte mit dem Zwölfuhrschlag noch was erwartet. Dass es dann einfach so aus war, hat mich nicht befriedigt.

Die Geschichte ist nicht schlecht geschrieben. Einige Ausdrucksfehler, Positionsfehler und fehlende Kommas habe ich gefunden, dazu aber gleich mehr.
Im Grunde eine schöne Geschichte, aber das Ende könnte mehr.

Prager Platz. Ich setzte [ich] mich auf eine Bank und blickte weit nach oben auf die mächtig anmaßende berühmte astronomische Uhr des Altstädter Rathauses.

Wenn dein Protagonist in Prag ist, dann ist das der Wenzelsplatz.
Das eine ich ist zu viel.

ein alter Mann in dunklem Mantel mit Schnauzbart setzte sich plötzlich neben mich und betrachtete ebenfalls die vorbeiziehenden Menschen.

Ich würde hier nicht plötzlich schreiben. Unvermittelt würde besser passen.

Der Mann weckte mein Interesse, ich Schaute bemüht unauffällig mehrmals zu ihm herüber.

schaute klein
Da du aus der Ich-Perspektive schreibst, kannst du nicht zu dem alten Mann herüberschauen. Da geht nur hinüber.

Dafür machte er eine gute Figur, gestikulierte flott und saß aufrecht, als strotzte er vor Energie und Vitalität.

Das fette ist mir zu umgangssprachlich.
Kennst du das Sprichwort: Es klingt wie eine Lüge, soll aber nicht wahr sein. In etwa so ist dein Satz aufgebaut. Der Alte macht eine gute Figur. Darin steckt schon, dass er relativ fit ist. Wieso erweckt er dann nur den Eindruck, als strotze er vor Energie und Vitalität?

Ich stieß Luft die Nüstern hinaus, die sich sichtbar vor mir ausbreitete, so kalt war es geworden.

Das klingt komisch. Wie breitet sich Luft vor einem aus? Du meinst, dass die Atemluft kondensierte und sich beim Ausatmen Wolken zeigten.

Ich schaute dem Treiben zu, wusste nicht, ob ich mich einmischen sollte.

Komma fehlt

Die junge Frau fing an, jämmerlich zu weinen.

Komma fehlt

Ich kam auf sie zugelaufen.

Wie soll das gehen? Von wo aus hast du das gesehen?
Ich lief auf sie zu.

Noch bevor ich fünf Meter an sie heran treten konnte, rief sie wehleidig, mit versagender Stimme: »Verschwinde!«

herantreten

Ich tat, was sie sagte, schlenderte zurück zur Bank.

Komma fehlt

Ich schaute herab auf den grauen Asphalt.

Das ist auch ein Positionsfehler. Du kannst nicht unten stehen und herabschauen. Ich würde das herab einfach weglassen.

Kein einziges Geräusch unterbrach die Stille. Nur hin und wieder spielte der Wind mit ein paar Dosen und Plastikflaschen.

Ich behaupte mal, dass es Geräusche macht, wenn der Wind mit Dosen und Plastikflaschen spielt. Da kannst du nicht vorher behaupten, dass kein einziges Geräusch die Stille unterbrach.

Lediglich mein Nacken wurde steif vom permanenten und erstarrten Heraufschauen zum Freund da oben, dem Feind, dem Meister, dem Lehrer, wie auch immer.

Und noch ein Positionsfehler. Wenn du unten stehst, kannst du nicht heraufschauen, nur hinauf.

Wie gesagt, das Ende macht mich nicht glücklich. Sonst eine schöne Geschichte.

Schönen Gruß
khnebel

 

Hallo khnebel,

erstmal danke für deine detailreiche Kritik. Die Positions-, Ausdrucks- und Kommafehler werde ich gleich morgen berichtigen. Sowas fällt mir schwer, da bin ich blind und sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Ja, die drei sollen schon so etwas wie Geister sein. Auf jeden Fall soll es ein magischer Abend sein, eine Ode an die Zeit und daran wie man sie wahrnimmt. Deshalb das mit der Uhr, dem Dreißigsten und den drei Personen, die auftauchen und gleich wieder verschwinden. Dass dich das Ende traurig stimmt und dich mit unerfüllten Erwartungen zurücklässt tut mir leid. Vielleicht war ich zu fasziniert von dem Gedanken es mit Punkt Zwölf abrupt abzubrechen. Ich mache mir darüber nochmal Gedanken.

Viele Grüße

Chico

 

Ergänzung an khnebek,

ich war noch nie in Prag; deshalb der nicht erwähnte Wenzelsplatz. Ich stelle mir Prag sehr schön vor. Den Rest mit der Uhr habe ich recherchiert. Ich hoffe sonst ist es einigermaßen plausibel in Bezug auf die Location.

Lg

 

Hallo Chico 1989,

leider lässt mich deine Geschichte enttäuscht zurück.

Das liegt an vielen Gründen.

Der erste ist der, dass ich mir nicht sicher bin, was genau du aussagen wolltest. Geht es um deinen Protagonisten, der sich vor dem 30. fürchtet? Oder geht es um die Vergänglichkeit an sich? Oder gar um noch etwas anderes?

Ich komme mit der Stimmung, die du durch das Betrachten der astronomischen Uhr erzeugen möchtest, nicht ganz klar. Soll es eine sanfte beruhigende Stimmung sein, Gelassenheit, Einsamkeit, in sich ruhen? Oder ist dein Protagonist furchtbar unter Strom? Zum Ende, also zu Nulluhr hin, sieht es ganz so aus, als sei er in großer Unruhe.

Was aber fehlt, ist so eine Art Verankerung seiner Gedanken. Du lässt ihn all seine visuellen Eindrücke schildern, aber es gelingt mir nicht, daraus in sein Innerstes zu schauen. Das, was er darüber mitteilt, ist leider recht flach und untauglich, über ihn etwas auszusagen. Ich weiß einfach nicht, was mit ihm los ist.

Du hast und dies ist Punkt zwei meiner Bemängelung leider deinem Protagonistin nicht genügend Tiefe gegeben, um ihn richtig kennenlernen zu können. Er wirkt schlicht unreif auf mich. Vielleicht wolltest du gerade diesen Effekt erzeugen, aber dazu hätte ich ihn dann gerne klarer in seiner Unreife gesehen.

Ein dritter Punkt ist dein Schreibstil. Du möchtest vermutlich bedeutungsschwanger daher kommen und das gelingt dir leider nicht. Deine Sätze wirken seltsam verschwurbelt und hinterließen bei mir sehr oft das Gefühl, du willst jetzt eine besondere tragende Stimmung erzeugen. Nur manche Sätze wirken wie mit der Brechstange erstellt.
Nachfolgend habe ich dir einige Sätze rausgesucht, die mich arg rausgehauen haben.
Khnebel hat ja schon im Bereich Grammatik einiges geschrieben, so dass ich das auslasse und mich nur auf deinen Schreibstil konzentriere.

bis ich mich geradezu inmitten des althistorischen Prag verlor
Das gilt jetzt auch für sehr viele andere deiner Sätze: da sind mir viel zu viele überflüssige Worthülsen drin. Versuche alles aus deinem Text rauszuwerfen, das nicht zur Bedeutung der Geschichte beiträgt und vor allen Dingen werde präziser in deiner Wortwahl und Ausdrucksweise.

"Geradezu" ist hier z.B. das Wort, welches ersatzlos rausgestrichen werden kann.

Aber mich stört an diesem Satz auch noch dieses inmitten von etwas verloren sein. Was soll das genau bedeuten. Man verliert sich meist gerade nicht in mitten von etwas, sondern weiß meist gar nicht, wo genau man sich befindet. Diese Ortsangabe mit "inmitten" ist daher kontraproduktiv. Warum schreibst du nicht: ..."verlor ich mich im althistorischen Prag."

Ich landete hier schon ein paar Mal als End- und Ruhepunkt, auf dieser Bank, während ich ziellos durch Prag irrte.
Das geht nicht. Man kann nicht während man ziellos durch Prag irrt, irgendwo als End-und Ruhepunkt landen. Eins nach dem anderen.

aber die Uhr an sich erregte
an sich bitte streichen.


dann hatten sie scheinbar Feierabend
scheinbar bitte streichen, denn entweder hatten sie Feierabend oder sie hatten nicht.

Der Mann weckte mein Interesse, ich schaute bemüht unauffällig mehrmals zu ihm herüber.
Ich weiß nicht, wie lange du schon schreibst, aber hier taucht ein typischer Anfängerfehler auf: Du schreibst im ersten Teil deines Satzes, um was es geht. Da interessiert sich dein Protagonist für jemanden. Aber im zweiten Teil wiederholst du es inhaltlich. Das machst du an sehr vielen Stellen in deinem Text. Ich sage dazu deswegen Anfängerfehler, weil man als Anfänger meist meint, der Leser müsse zwingend zu seinem Erkenntnisglück gebracht werden, indem man ihm stets wiederholt, was er zu erkennen hat.
Wie wäre es, wenn du dich in all diesen Fällen, für die treffendere Satzpartie entscheidest und alle Dopplungen gnadenlos rausstreichst?
In obigem Fall würde ich das bemüht unauffällige Hinüberschauen lassen.

An dieser Stelle kann ich auch gleich ganz gut darstellen, was mir noch an vielen Stellen in deinem Text fehlt: Es ist das anschauliche Darstellen.

Wenn jemand bemüht unauffällig hinüberschaut, dann ist das bereits das Resümee des Autors für ein Verhalten, das jedoch vielfältige Formen haben kann.
Dein Prota könnte so tun als betrachte er die astromonische Uhr weiterhin und dabei ganz leicht den Kopf so drehen, dass er aus den Augenwinkeln diesen Mann anschauen kann. Er könnte ganz schnell ruckartig schauen und sich sofort wieder in die Ausgangsposition drehen. Er könnte etwas zu Boden fallen lassen und es dann umständlich so aufheben, dass er dabei einen Blick auf den Mann werfen kann und so weiter. Jeder Mensch kann auf seine individuelle Weise unauffällig Schauen.

Und genau das zu schildern, wäre die Königsdisziplin. Sicherlich hast du den alten Spruch: Show, don't tell, schon gelesen. Genau das ist hier damit gemeint. Beschreibe die Filmsequenz wie dein Protagonist unauffällig mustert, dann bekommt deine Geschichte Lebendigkeit. Ganz automatisch.

Er saß da wie angewurzelt, strahlte jedoch etwas ganz Besonderes
Hier baut sich in meinem Leserkopf kein Bild auf. Was ist denn das Besondere an diesem Mann? Was strahlt er aus? Und woran erkennt dies dein Protagonist? Woran spürt er es? Wie spürt er es? Und wie sieht das aus, wenn jemand angewurzelt sitzt? Hat er seine Füsse so fest auf den Boden gestemmt, als sei er damit verklebt? Auch hier: Show...

Ehrlichgesagt sah der Mann aus wie über hundert. Dafür machte er eine gute Figur, gestikulierte flott und saß aufrecht, als strotzte er vor Energie und Vitalität.
Wenn jemand eine gute Figur macht, dann versteht jeder Leser etwas anderes darunter. Beschreibe das intensiver.
Wie gestikuliert man flott und wieso, wenn er doch gar nichts sagt, gestikuliert er denn überhaupt? Ist da eventuell ein Logikfehler enthalten?

Wenn jemand vor Energie und Vitalität, also beides ja nur Floske,l nur so strotzt, woran erkennt man das? Und erst recht frag ich mich das, wenn jemand aussieht wie hundert. Das ist viel zu ungenau, was du da beschreibst. Versuche das präziser zu fassen.
Sicherlich hast du eine ganz spezielle Person vor deinen Autorenaugen. Die Kunst besteht darin, diese Person lebendig werden zu lassen, damit wir Leser sie so sehen können wie auf einer Fotografie oder besser noch wie in einem Film.
Das Wort "ehrlichgesagt" würde ich ehrlichgesagt ersatzlos streichen. :D

Als sei seine Zeit hier auf dieser Bank abgelaufen
hier auf dieser Bank würde ich streichen. Der Leser, der übrigens kein Depp ist und meist verärgert reagiert, wenn er das Gefühl bekommt, der Autor hält ihn für einen, weiß ja aufgrund der Schilderung, dass die beiden auf einer Bank sitzen. Das muss also nicht nochmals erwähnt werden. Es sei denn, der Autor hält den Leser für einen vergesslichen Alzheimerprototypen.

Ich stieß Luft die Nüstern hinaus
Sicherlich wolltest du das schlichte Körperteil Nase nicht verwenden. Aber Nüstern sind jetzt eher als Lacherfolg geeignet, weil halt jeder mit Nüstern die Pferdenasenlöcher verbindet.

Und auch hier ist es die Frage, wie wichtig es dem Autor ist, dass ausgerechnet es die Nasenlöcher sind, die die Luft ausstoßen? Es geht doch um die Erwähnung, dass es mittlerweile lausig kalt geworden ist und der Atem zu Dampf wird. Ist es nicht eigentlich egal, ob dieser Dampf auf dem Mund oder der Nase tritt? Du könntest auf diese Weise das Wort Nase vermeiden und trotzdem weiß der Leser, dass es kalt ist.

es war als zaubere sie die Melodie durch ihren Tanz in meine Ohren herbei
Ein wirklich schöner Satz, wenn nicht das Wort "herbe"i so stören würde. "Herbei" bitte streichen.

starrte zielgerichtet nach vorne …
zielgerichtet starrt man für gewöhnlich immer, das ist dem Starren innewohnend. Ergo bitte zielgerichtet streichen.

doch das Mädchen war verschwunden, wie ein magisches Wesen, ganz plötzlich, wie ein wunderbares Irrlicht am Prager Abend, wie eine Halluzination.
Da wiederholst du munter ein und denselben Sachverhalt. Wie wäre es mit: ..."doch das Mädchen war verschwunden, wie ein magisches Wesen." Besser noch: "Das magische Wesen war verschwunden."

Ich hatte ehrlichgesagt keinen blassen Schimmer.
ehrlichgesagt weg damit.

Ich schaute dem Treiben zu, wusste nicht ob ich mich einmischen sollte. Das Plakat zerriss in der Mitte.
Der Satzteil "ich schaute dem Treiben zu" ist eher ein Hinweis auf eine Varieteeveranstaltung, Zirkus, dem sog. bunten Treiben der Schausteller etc. Hier streiten sich zwei heftig. Daher würde ich einfach formulieren:" Ich wusste nicht, ob ich mich einmischen sollte. Das Plakat..."

An dieser Stelle ist vielleicht der kurze Hinweis richtig, wenn ich dich bitte, unbedingt, präzise und exakt zu formulieren.

Sie heulte immer noch unaufhörlich.
Zuviel der Heulerei. Ich würde schreiben, ganz schlicht: "Sie heulte."

Erst wenn sie nach einer Stunde immer noch heult, dann würde ich schreiben. 'Sie heulte immer noch."
Und wenn ich am nächsten Morgen meinen Freunden übertrieben erzähle, was ich erlebt habe, würde ich berichten: "Sie heulte unaufhörlich."
Manchmal haben einfach Sätze mit einfachen Handlungen mehr Effekt.

Doch ich würde die Bank nicht verlassen, bis zu mei-nem dreißigsten Geburtstag zum Mitternachtsschlag würden die Bank und ich eins sein.
Benötigst du wirklich inhaltlich den zweiten Satzteil? Ich würde ihn streichen.

überkam mich eine Angst, wie ein Schock, ein Infarkt, ein Pulsieren des Selbst.
An dieser Stelle rächt es sich, wenn du in der Wortwahl und Darstellung schlampst.

Treffende Worte für den Zustand des Protagonisten zu finden, ist an dieser Stelle absolute Voraussetzung, denn ich glaube, es ist eine Schlüsselszene in der Geschichte.

Du aber bietest dem Leser ein Büffet an und er soll sich dann aussuchen, ob er ne Bockwurst (eine Angst), mit Senf und Brot (wie ein Schock), ein Hummer (ein Infarkt), oder einen undefinierbaren Eintopf (Pulsieren des Selbst) auswählen will. So entsteht keine Aussagekraft in dieser Geschichte. Was genau passiert zu diesem Zeitpunkt mit deinem Protagonisten?

Klar, das ist überhaupt nicht einfach, solch einen Angstaggregatzustand zu schildern. Da hast du dir wirklich sehr viel vorgenommen. Aber um diese Arbeit herummogeln, rächt sich, weil der Leser dann nicht mitgenommen wird in die Welt deines Protagonisten.

Eine nie gekannte Furcht umhüllte mich, tiefste Schwärze, welche es geschafft hatte mich mit ihren fantasielosen Komplimenten einzulullen.
Sorry, aber auch dieses Satzungetüm von Aneinanderreihungen ist nicht geeignet, etwas zu erzeugen. Nie gekannte Furcht ist noch am ehesten zu verstehen. Tiefste Schwärze? Und was sollen die phantasielosen Komplimente dabei? Soll ich mir vorstellen, dass phantasielose Komplimente den Protagonisten so einlullen, dass er nur noch Schwarz sieht? Welcher Art phantasieloser Komplimente sind den gemeint? Welche zu seinem Können , seinem Charakter, seinem Aussehen, seinem Wasweißich. Gerade das Wort "Komplimente" taucht hier völlig überraschend auf, denn für Komplimente benötigt es immerhin zweier Personen, den Absender und den Empfänger sozusagen. Dein Prota ist aber doch allein. Kannst du nachvollziehen, wieso ich auch hier aus der Geschichte geworfen wurde.

Ich hoffe, ich habe dich nicht gänzlich entmutigt. Vielleicht auch erst Mal eine Nacht oder zwei drüber schlafen, bevor du meine Kritik nochmals liest?
Es ist jedenfalls noch eine Menge zu tun an diesem Text. Nur Mut! :)

Lieben Gruß

lakita

 

Moin Lakita,

Puh. Jetzt viel Kritik. Aber gut, ich verstehe jeweils was du meinst. Man schreibt ´nen Text dahin und denkt: gar nicht schlecht und dann führt einem jemand seine Fehler vor Augen und man denkt: Scheiße, stimmt, der hat recht. Morgen mehr zu deinem Kommentar. Auf jedenfall geht es morgen an die Korrektur.

Und danke.

Viele Grüße,

Chico

 

Nachtrag:
khnebel: Ist es wirklich der Wenzelsplatz? Hab nochmal gegoogelt und unter Wenzelsplatz steht nichts vom Altstädter Rathaus, an welcher sich ja die Uhr befindet. Deshalb habe ich die Formulierung hier nochmals umgeschrieben.
lakita: Was ich ohne grossartiges Nachdenken korrigieren konnte, habe ich korrigiert. Mit der inhaltlichen Show-don´t tell-Problematik in dieser KG muss ich mich nochmal mit freierem Kopf auseinandersetzen (immer diese stressige Realität nebenbei). Ach, du Show-don´t Tell bist mir auch ein Dorn im Auge "Fäuste ball".

Lg, Chico

 

Moin Maria,

stimmt, das Vergnügen hatten wir noch nicht. Habe aber schon mehrere deiner Beiträge bei anderen KGs gelesen und fühle mich sehr geehrt. Die Dreißig stehen mir bald bevor, aber ich glaube es gibt Schlimmeres. Also zehn Jahre schreibe ich ca. schon, wobei die ersten Jahre eher für mich waren, um Gemütszuständen wie Liebeskummer Ausdruck zu verleihen. Vielleicht bin ich einfach sehr untalentiert :p Tut mir Leid, dass die Geschichte dich nicht berührt. Deine Kritik werde ich mir zu Herzen nehmen, auch wenn ich noch nicht weiß wie ich sie inhaltlich umsetzen werde, jedenfalls bei dieser KG.

Lg,

Chico

 

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