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Einfach Weg!
„Ihr versteht mich einfach nicht! Ich hasse euch“, schrie ich sie an und warf wütend meine Tür zu und schloss ab. Ich ließ mich auf meiner Couch nieder und sah fern. Jedes Mal wenn mich etwas aufregte, sah ich fern. Fernzusehen brachte mich auf andere Gedanken. Es beruhigte mich einfach wieder. Alle waren besser als ich. Besser, in jeder Hinsicht. Das bekam ich oft zu spüren. Zu oft. Ich wusste nicht weiter. Ich hatte einfach keine Lust mehr. Keine Lust Dinge zu tun, die ich nicht wollte und die mir nicht als richtig erschienen. Mein Rucksack, der blaue, war bereits gepackt. Das Wichtigste hatte ich darin verstaut. Handy, Geld, etwas zu essen und meine Zigaretten. Zigaretten waren für mich wichtig geworden. So wichtig, dass ich sie immer dabei hatte. Mindestens zwei Packungen. Wann wurde ich eigentlich süchtig? War ich süchtig? Ja, dachte ich. Es war wohl im September. Den vorigen. Da wurde ich 14. Ja, ich war 14 und rauchte. Das Gesetz verbat mir das. Aber das war mir egal. Mir war nun alles egal. Ich wollte weg. Einfach weg. Weg von zuhause, weg von der Schule, weg von meinem alten Leben. Ich mochte es nicht. In diesem Leben brauchte mich niemand. Niemand war für mich da. Niemand. Wer war da, als mein bester Freund starb? Niemand. Wer war da, als meine Großmutter von uns ging? Niemand. Und wer war da, als mein Vater, mein richtiger, uns verließ? Niemand. Alle verließen mich. Ich dachte ich verliere mich langsam selbst. Da war etwas, etwas das mich dazu antrieb zu gehen. Irgendwas. Irgendwas Eigenartiges. Ich verstand es nicht. Wollte ich es verstehen? Nein. Bestimmt nicht. Einfach nur weg, dachte ich. Ich wartete. Und wartete. Auf diesen verfluchten Bus. Er kam nicht. Gerade heute. Heute, an dem Tag, an dem ich beschloss, endlich weg zu
gehen.
Na endlich, da war er, es hatte ja lang genug gedauert, ich stieg ein und ließ mich auf einen Eckplatz fallen. Weg. Jetzt gab es kein zurück mehr. Nie mehr. Dachte ich. Um mich herum war alles still. Zu still. Ich fühlte mich so, als würde ich ständig beobachtet werden. Warum? Sah ich denn anders aus, als die anderen? Nicht nur, dass ich anders behandelt wurde. Nein. Man sah es mir jetzt auch noch an. Neben mir saß ein junger Typ, den ich nebenbei bemerkt ganz süß fand. Die Musik, die von seinen Kopfhörern aus dröhnte, war im ganzen Bus zu hören. Diese Musik war neu für mich. Ich durfte sie nie hören. Aber mir gefiel was ich da hörte. Der Typ machte
rhythmische Bewegungen und lächelte mich kurz an. Er stieg aus. Weg. Wo gerade noch dieser Typ gesessen hatte, lag nur noch ein Flyer. Ein Flyer mit vielen Farben und großer Überschrift: RAVE PARTY. Heute Abend, davon hatte ich schon gehört. Das größte Event in der Party-Szene. Da wollte ich. Da musste ich hin. Mein neues Leben sollte beginnen. Heute.
Es dröhnte laute Musik. Menschen. Überall Menschen. Ich kam mir ziemlich verloren vor, in dieser Masse. Hey, den Typen kenn ich doch! Das ist er. Der aus dem Bus. Sollte ich hin? Kannte er mich noch? Ich bewegte mich langsam auf ihn zu. Er lächelte mich wieder an. Er schlenderte zu mir rüber und meinte: „Hey, du bist ja auch hier. Coole Party, hmm? Bist du neu hier?” „Ja, also...hmm ja. Ich bin von zuhause weg.“ „Ja klar, das kenn ich. Hey, ich stell dir meine Freunde vor. Du wirst dich schnell einleben. Glaub mir, jetzt beginnt das richtige Leben.“ Mit gemischten Gefühl folgte ich ihm.
Ich wachte auf. Wo war ich? In einem Park? Bäume. Überall Bäume. Was war nur passiert? Ich richtete mich langsam auf. Ich lag auf einer Bank. Im Park, auf einer Bank. Der Typ, der mir noch immer nicht seinen Namen nannte, kam auf mich zu. „Hey! Na, hast du gut geschlafen? Du warst gestern ja wirklich schlimm drauf.“ „Was? Wie? Was hab ich denn getan?“ „Tja, Kleine, du warst total neben der Spur.“ Ich verstand kein Wort und versuchte mich zu sammeln. Mein Kopf. Es fühlte sich so an, als würde er sich drehen. In meinem Kopf, ein Bohrer. Oh mein Gott, ich fühlte mich schrecklich. „Kopfweh? Hier, nimm, dann vergeht es gleich, wirst sehen.“ Ich tat was er sagte und schluckte, was er mir gab. Es war eine kleine Pille, nicht größer als mein halber Nagel. Ich schluckte sie, der Typ gab mir etwas in die Hand. Eine Flasche, zum Nachtrinken. Es brannte in meinem Hals, aber es war mir egal. Ich hatte einen Freund, das war mir erst einmal das Wichtigste. Ein Freund, der mich nicht die ganze Zeit niedermachte. „Bereust du es?“, fragte er mich mit einer leisen, aber doch sanften Stimme. „Nein. Jetzt hab ich ja dich!“ Ich fühlte mich endlich nicht mehr allein. Nicht mutterseelenallein. Tom, das war er. Endlich wusste ich seinen Namen. Nächster Abend. Nächste Party. Das ging dann eigentlich fast einen Monat lang so. Tom und ich, wir waren uns nahe gekommen. Sehr nahe. Wir saßen auf einer Bank. In einem Park. Da sah ich es. Eine Vermisstenanzeige. Moment! Das Mädchen auf dem Bild sah aus wie ich. Das war ich. Ein uraltes Foto von mir hing an jedem zweiten Baum in diesem Park. Man vermisste mich. Man suchte mich. Man brauchte mich. Meine Familie brauchte mich. Ich war doch nicht unwichtig, dachte ich. Tom war bedrückt, doch er freute sich für mich. Ich hatte eine richtige Familie. Tom wollte mich nachhause bringen. Nur nachhause. Ich hatte mich sehr verändert. Durch ihn. Durch ihn, lernte ich lieben. Und ich wurde geliebt. Da standen wir nun. Vor meiner Haustür. Ich nahm seine Hand und hielt sie fest. Ich ließ sie nicht mehr los. Ich sah Tom an, ließ ihn nicht mehr los. Ich drückte die Hausglocke…