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Einrichtung
Wenn es sein musste, machte er sich flüssig. Abends, wenn alle in ihren Zimmern waren, wenn Nadja die beiden Kleinen auseinandergebracht und Martin endlich das Radio ausgemacht hatte, legte Marcel sich ins Bett und zog die Decke bis unters Kinn. Immerhin konnte es sein, dass Nadja noch einmal hereinschaute, dann stupste sie ihren Finger auf seine Nase, das war so eine Art Gutenachtkuss, denn richtig küssen durfte sie ihn natürlich nicht. Sie hatte jetzt nicht mehr so oft Schicht an den Abenden wegen ihrer eigenen Kinder. „Die sehen mich ja sonst gar nicht mehr.“
Wenn ich es mir aussuchen könnte, dachte Marcel, wäre ich Nadjas Kind, ihr einziges Kind! Dabei hat sie drei. Und uns.
Waren Olaf oder Anna dran, dann öffneten sie die Tür nur halb, schauten herein und nickten Marcel zu, froh, dass es mit ihm keine Scherereien gab am Abend.
Sobald sie weg waren und es ruhig wurde, stand er auf. Marcel ging an das Fenster, lehnte sich gegen die Heizung und machte sich flüssig. Der alte Heizkörper war weiß gestrichen. Man konnte die Farbe mit dem Fingernagel abkratzen, sie fiel dann in leichten Schuppen ab. Darunter war wieder weiße Farbe. Oben an der Seite hatte die Heizung ein Ventil. Wenn Marcel sich flüssig machte, ließ er sich durch das Ventil an der Heizung in den Heizkörper tröpfeln. Klein und dünn wie er war, floss er durch die Rohre, aus der Heizung in seinem Zimmer in die Heizung in Justins Zimmer und weiter. Von der Heizung im Badezimmer fiel er das Rohr hinab, durch das Erdgeschoss in den Heizungskeller. Hier ließ er sich im heißen Wasser des Boilers treiben. Solange er flüssig war, konnte ihm die Hitze nichts, er rollte von der einen auf die andere Seite, einmal langsam, dann ganz schnell.
Ich bin ein Seelöwe im Zoo, dachte er. Er lag im Wasser und träumte. Träumte, er sähe alles aus der Ferne: Das große alte Gasthaus, in dem sie lebten, wurde ganz klein; es verschwand mit dem Kirchplatz, dem Kastanienbaum und dem ganzen Dorf zwischen den großen Straßen.
Marcel sah Autobahnen von oben, ihre Kreuze und Dreiecke, sie bildeten ein Netz, das die Dörfer verband und trennte. Dann die Vorstädte, die Industrieanlagen, die Städte, er sah Schienennetze, alte Halden, das Land, grau und grün, und dann das Meer, schwarze Ozeane, weiße Eiskuppen an den Polen. Endlich hatte er den Planeten vor sich. Die Erde war rund, sie stieß ihn von sich ab.
Ich bin ein Astronaut und reise durch das All, dachte er. Wie Blitze ziehen die Sterne an mir vorbei, und ich treibe zwischen ihnen, sicher im warmen Wasser meines Heizkessels.
Irgendwann hatte er genug. Er tauchte nach dem Rohr, das ihn in die Heizungsrohre im Erdgeschoss spülte. Durch den großen Aufenthaltsraum floss er schnell, aber im Büro hielt er sich innen an einem gebogenen Rohr fest. Hier konnte er hören, was die Erwachsenen sagten. Wie sie redeten. Über wen. Nadja und Olaf saßen noch beieinander. Sie sprachen über das Sommerfest morgen. Er hörte Nadja sagen, dass seine Mama nicht zum Sommerfest kommen würde, aber das wusste er längst. Marcel wollte wissen, wo Eva war. Aber niemand sprach über seine Schwester, nicht einmal, wenn er nicht da war.
Sie sprachen über Martin, ob sie ihm noch eine Chance geben würden. „Wo soll er denn hin?“, fragte Nadja. „Den nimmt doch keine Einrichtung!“
Es war still im Büro. Nadja hatte also recht, dachte Marcel: Niemand würde Martin nehmen. Jedenfalls keine Einrichtung.
Erst hatte er das Wort komisch gefunden.
„Nadja, wieso sagt ihr immer Einrichtung?“
Nadja dachte nach. „Was soll man sonst sagen? Früher hat mein "Heim" gesagt. Aber Heim, das klingt schrecklich, oder?“
Marcel fand nicht, dass „Heim“ schrecklich klang. Es war seine erste Einrichtung, und Paul sagte, er hätte Glück gehabt, dass er gleich hierhin gekommen war. Zu den Sexuellen, sagte er und lachte. Marcel lachte mit. Am Anfang hatte er darüber nicht lachen können.
Zuerst hörte er es von dem Mann in der Eisdiele: „Die Sexuellen kommen“, sagte der laut, als sie zu dritt hingingen, Martin, Paul und Marcel. Sie hörten es, und die zwei, drei Erwachsenen an der Theke auch. Marcel wollte weglaufen, aber Martin griff seinen Arm und hielt ihn fest. Es tat weh, und am nächsten Tag hatte Marcel einen blauen Fleck am Oberarm. Martin lief nie weg. Und wer mit Martin unterwegs war, lief auch nicht weg.
Die drei gingen in die Eisdiele und kauften Eis. Drei Kugeln jeder, wie die Cowboys und ohne mit der Wimper zu zucken. Zum Abschied winkte der Eisdielenmann den Kindern hinterher.
„Ist doch lustig“, sagte Paul, „die Sexuellen. Sind wir ja auch. Passt doch.“ Paul sagte auch, die Leute im Dorf hätten sie hier erst nicht haben wollen. Sie müssten dann ja ihre Kinder vor uns verstecken.
"Dabei gibt es im Dorf gar keine Kinder!", rief Paul. "Nur alte Leute!"
"Nein! Die Kinder sind einfach sehr, sehr gut versteckt." Martin lachte. Er war der älteste in Marcels Gruppe, bald zwölf. In der anderen Gruppe, oben im zweiten Stock, waren die Großen, zwölf, dreizehn und vierzehn Jahre alt - das heißt, vierzehn war nur Patrick. Mit vierzehn zogen sie hier aus.
"Mit vierzehn", erklärte Paul, "bist du eben kein Kind mehr. Ich will lieber Kind bleiben."
Martin war stark, aber klein für sein Alter. Er wollte nicht in den oberen Stock ziehen. Marcel glaubte, Martin hatte Angst. Er hatte es am schlimmsten gehabt, das wusste Marcel, weil die Erwachsenen im Büro davon sprachen.
Die Erwachsenen dachten, dass die Kinder sie nicht hörten. Aber Marcel hatte sich im Heizungsrohr festgesetzt. Alles hatte er gehört: Wo Martins Narben auf dem Rücken herkommen. Und ganz andere Sachen. Marcel sprach nie darüber. Er dachte diese Sachen nicht. Er stellte sie sich nicht vor. Er dachte nicht daran in Worten.
Er räumte das, was er wusste, vorsichtig in eine Ecke in seinem Kopf und fasste es nicht mehr an. Wenn er daran dachte, geriet es in Bewegung, und wenn es anfing, sich zu bewegen, dann würde es wachsen und am Ende würde es so groß werden, dass nichts anderes mehr in ihm wäre; er könnte an nichts anderes mehr denken, würde es vor sich sehen, immer: den kleinen Martin, seine Mutter, den Mann.
Ich weiß es, aber ich denke es nicht. Vor allem sage ich es nicht. Das ist das Wichtigste: nicht darüber sprechen, dachte Marcel.
Im Büro redeten sie kaum über ihn. Besser so. Sie redeten über Martin, weil er so schwierig war. Auch, weil sie ihn so mochten. Aber vor allem redeten sie über Martin, weil sie nicht wussten, wohin damit, mit ihm, mit allem, was ihm passiert war. Sie redeten darüber, damit es wegging, aber es ging nicht weg, es wurde mehr, breitete sich aus, je mehr man darüber redete. Mehr Leute erfuhren es, so wurde es größer und schlimmer. Das sollten die Erwachsenen wissen, fand Marcel, und nicht mehr über diese Sachen sprechen. Marcel behielt es für sich, alles. Es war bei ihm sicher. Man konnte ihm alles erzählen, denn er wusste, wie man es aufhebt. Ein warmer Ofen, wenn man es im Kopf behielt, aber ein Feuer, wenn man darüber sprach. Ein Brand, ein Waldbrand, wie neulich im Fernsehen, jemand ließ eine Zigarette liegen und drückte sie nicht aus oder nicht richtig aus, und der Wald brannte. Die Bäume stürzten ein, die Tiere mussten rennen, aus dem Wald heraus, aber das Feuer war schnell, kroch über den Boden, sprang von Ast zu Ast. Die kleinen Tiere waren nicht schnell genug, sogar die Vögel verbrannten in ihren Nestern. Sie hatten seine kleine Schwester gefragt, was los war, und sie hat alles erzählt. Eva hatte ihm versprochen, niemandem etwas zu sagen von uns, dass es ein Geheimnis bleibt. Und dann hatte sie doch alles erzählt. Ein Brand, und danach nichts mehr wie vorher.
Ich bin ihr nicht bös, dachte Marcel, sie ist ja noch klein. Sie hat geweint, da bin ich mir sicher, sie wollte bestimmt gleich alles löschen, aber da raste das Feuer schon über den Boden weg, kleine Eva, da war es zu spät.
Marcel war flüssig. Das Feuer war sicher aufgehoben in seinem Kopf. Er ließ das Heizungsrohr los. Das warme Wasser trieb ihn hinauf, spülte ihn hoch in den ersten Stock, zurück in sein Zimmer. Durch das Ventil tropfte er auf den Boden, formte einen kleinen Jungen, neun Jahre alt, bald zehn. Marcel stand vom Fußboden auf und legte sich ins Bett. Morgen war Sommerfest.
Zum Sommerfest kamen die Mamas. Nicht alle. Marcels Mama kam nicht, aber das machte nichts. Paul sagte, Marcel könne sich zu ihm und seiner Mama setzen. Du erkennst sie sofort, sagte er: Sie ist die hübscheste. Die Kinder drängelten sich vor dem Fenster im Treppenhaus, um auf die Straße zu gucken, und Marcel sah Pauls Mama: Sie trug etwas Blaues in den Haaren, ein Tuch oder ein Band, und ihre Sommerjacke war auch blau und an den Unterarmen fast durchsichtig. Das viele Blau passte zu den blauen Augen und zu der blassen Haut. Aber ihre Haare waren dunkel, fast schwarz. Das ist Marcel, sagte Paul. Marcel gab ihr die Hand. Die anderen Mamas waren dicker, auch ihre Kleidung dick und schwer, und sie rochen nicht so gut. Marcel aß Kuchen, lachte über einen Witz, den Paul erzählte, stolz, bei den beiden zu sitzen. Stolz, dass alle sahen, dass sie Spaß hatten. Mit seiner Mama wäre es nicht so gewesen, da hätte er einfach neben ihr gesessen und sich geschämt, und sowieso hätte Eva nicht mit gedurft. Pauls Mama drückte Marcel die Hand und sagte, dass es ihr ein Vergnügen gewesen sei und ob er nächstes Mal mitkomme, wenn sie und Paul Pizza essen gingen in der Pizzeria nebenan. Marcel sah kurz nach der Seite, nach Paul, ob es ihm auch recht war, es war ja seine Mama. Paul grinste nur. Er platzte fast vor Stolz!
„Ja, klar, gern!“, rief Marcel und lief zurück ins Haus.
Marcel lag schon im Bett, als er Fetzen von Geschrei hörte. Martin hatte wieder irgendetwas kaputt gemacht und dann noch etwas Gemeines gesagt, wohl zu Nadja. Marcel kniff die Augen zu und presste die Hände auf die Ohren. Wenn er dabei die Finger hin- und herdrehte, wurde aus dem Geschrei eine Art Zirkusmusik, eine kaputte Zirkusmusik, wie ein kaputter Zirkus schrien sie da unten. Geschrei regte ihn auf, immer, aber Paul meinte, das wäre ganz normal. Bei ihnen daheim wäre immer Geschrei gewesen.
Bei Marcel daheim wurde nicht geschrien. Er dachte an die Stille daheim in der Wohnung. Er dachte, dass er gern wüsste, wo Eva war, aber nicht wusste, wie fragen. Jetzt fehlte sie ihm besonders. Sie war immer so ruhig, und wenn er sie zum Kindergarten brachte, griff sie nach seiner Hand, bevor sie die Stadtholzstraße überquerten. Die beiden spielten zusammen auf dem Spielplatz, abends spät oder im Regen, wenn die anderen Kinder daheim waren beim Abendessen mit ihren Mamas. Sie rannten um die Wette, im Regen, im Dunkeln, und Marcel ließ sich von ihr fangen, oder er fing sie. Sie rollten im nassen Sand, Eva vor Vergnügen kreischend.
Zu Hause, in der Badewanne stehend, während ihr Bruder sie abtrocknete, fragte Eva dann: „Wann kommt Mama wieder?“, und Marcel antwortete: „Morgen oder übermorgen“, und stellte den Fernseher an. Er holte die große Bettdecke. Sie verkrochen sich darunter, nackt und weich wie kleine Tiere in der Höhle. Aber plötzlich standen diese Leute im Wohnzimmer - was wollen die Leute? Was für Leute?
Da waren keine Leute. Marcel hatte geträumt, eingeschlafen im Wohnzimmer, und jetzt war er mitten in der Nacht aufgewacht. Er stand auf, um Eva in ihr Bett zu tragen, aber sie war zu schwer, er zog an ihren Armen und sie wachte auf und fing an zu weinen. Wo Mama ist, Mama! Marcel konnte sie gar nicht beruhigen, nicht mit Singen, Witze erzählen. Sie kannte ja alle seine Witze. Am Ende war sie erschöpft vom Weinen und schlief wieder auf dem Sofa ein. Marcel machte es sich auf dem Teppich bequem. Am nächsten Tag kamen sie. Die Leute. Da hatte Marcel Eva schon in den Kindergarten gebracht und war wieder nach Hause gegangen. Müde, wegen der Nacht, und traurig. Marcel schwänzte fast nie die Schule, damit es nicht auffiel. Damit nicht etwa Lehrer anriefen, um mit Mama zu sprechen. Die beiden Kinder sahen immer ordentlich aus, waren immer pünktlich. Darauf achtete er genau.
Als sie kamen, war er zu Hause, lag auf dem Sofa, die leere Schokoladenpackung auf dem Teppich. Die packte er sofort weg, als es klingelte, machte auch den Fernseher aus. Vor der Tür standen zwei Frauen und ein Mann. Freundlich, eigentlich, aber gar nicht wie Freunde. Sie sagten, sie wären gekommen, um Evas Sachen zu holen. „Eva kommt heute nicht nach Hause“, sagte die ältere. Das war Ilona, aber Marcel kannte sie noch nicht. „Wo ist deine Mama?“, wollte die jüngere wissen. Marcel fing mit der üblichen Geschichte an: Mama war einkaufen, Mama war bei Oma, nur kurz weg oder nur bis morgen, Mama kommt schon wieder, sie muss nur noch, sie wird. Aber die beiden Frauen und der Mann ließen sich nicht abwimmeln. Und wenn Marcel nach Eva fragte, fragten sie etwas anderes und antworteten ihm nicht.
"Wo ist sie? Ist sie nicht im Kindergarten? Ich habe sie doch in den Kindergarten gebracht."
Marcel musste ihnen Evas Sachen zeigen. Alles ordentlich in Schubladen. Die Strümpfe eingerollt, die Unterhosen gefaltet. Die jüngere Frau fing an, einen Koffer zu packen, zusammen mit dem Mann, und Ilona ging mit Marcel in die Küche. Ob sie einen Kaffee möchte? Die Frau musste doch sehen, dass hier alles in Ordnung war! Marcel kochte Kaffee und machte sich ein Frühstück mit Milch und Cornflakes. Erst später verstand er, dass Ilona Psychologin war. Ilona sagte, dass der Kaffee gut sei. Dass Marcel das toll mache, dass es bestimmt nicht einfach sei für ihn, mit Eva. Und dann, als Marcel eben dachte, ja, es läuft, da sagte sie noch, dass er aber doch ein Kind sei. Und dass sich jemand um ihm kümmern müsste.
Marcel liegt im Bett, die Finger in den Ohren. Er erinnert sich an diesen Tag, den Tag, an dem sie Eva geholt haben, aber was Ilona noch alles gesagt hat, das weiß er nicht mehr. Die anderen beiden gingen irgendwann mit Evas Sachen. Ilona blieb und redete oder hörte zu, trank noch einen Kaffee, bestand wieder darauf, dass es ein besonders guter Kaffee wäre. Und irgendwann ist sie dann aufgestanden. Marcel war sicher: jetzt nimmt sie mich mit. Aber sie hat ihn nicht mitgenommen. Jemand würde am nächsten Morgen vor der Schule kommen, um Marcel zu helfen, sagte sie. Das war alles.
Dann war sie weg. Endlich geht sie, dachte Marcel. Und dann war er allein. Zum ersten Mal: allein, ohne Eva. Und in dieser Nacht entdeckte Marcel, dass er sich flüssig machen konnte.
Marcel stand im Badezimmer vor dem Waschbecken und sah in den Spiegel. Ein ordentlicher, kleiner Junge. Blass, große Augen, sehr kurzes Haar. Und dann sah Marcel den Ablauf des Waschbeckens und dachte, dass auch Eva um diese Zeit in einem Badezimmer stand, vor einem Waschbecken, dass jemand ihr beim Zähneputzen half. Er dachte, dass ihr Waschbecken und sein Waschbecken verbunden waren, über Wasserleitungen, unterirdische Kanäle, dass er sie finden konnte in der Stadt, wenn er sich nur flüssig machte und den Abfluss hinunterrinnen ließe.
Marcel machte sich flüssig. Die ganze Nacht verbrachte er in den Rohren und Leitungen der Häuser der Stadt. Er floss durch die Hochhäuser im Viertel, sicherheitshalber auch durch den Kindergarten, durch die schönen kleinen Häuser in ihren Gärten auf der anderen Seite der Stadtholzstraße, dann einen breiten, stinkenden Kanal entlang hinab Richtung Fluss, und in der Innenstadt wieder hinauf in die Häuser. Die Bürogebäude und Einkaufszentren ließ er aus, bog dafür ab in die kleinen Stadtwohnungen über den Geschäften und floss dann auf der anderen Seite des Rings durch die Reihenhäuser. Eva war nirgends zu finden. Wohin hatten sie sie gebracht?
Irgendwann spülte die Trinkwasserleitung den erschöpften Jungen wieder nach Hause. Marcel tropfte aus dem Wasserhahn und blieb auf dem Teppich vor der Badewanne liegen, bis am nächsten Morgen eine Frau kam, um ihm zu helfen. Marcel machte alles mit: Cornflakes und Milch und ein Apfel. Als sie an der Schule waren, vertraute sie ihm schon und ließ ihn allein hineingehen. Marcel winkte ihr noch aus dem Tor zu, presste sich drinnen gegen die Wand, wartete, bis sie weg war und rannte los. Zu Evas Kindergarten.
Am Kindergartentor tat er ganz normal: ein leichtes Winken zum Haus hin und mit einem Griff das Gatter zum Spielplatz geöffnet.
Aber es war schon alles verbrannt. Marie stürzte hinaus. Sie rief, er dürfe keinesfalls hineinkommen, ob sie ihn denn nicht geholt hätten.
Sie musste ihn vom Fenster aus gesehen haben.
Sie hätten ihn doch holen müssen! Sie würde die Polizei holen, sofort, wenn das Jugendamt schon nichts täte.
Die heiße Luft schlug Marcel ins Gesicht. Er ließ das Tor los, hob die Hände.
"Ich will doch nur Eva abholen", rief er.
Marie antwortete mit einem dröhnenden Laut. Jetzt kam sie auf ihn zu.
Jetzt packt sie mich. Jetzt zerquetscht sie mich, dachte er.
Marie schrie, während sie auf ihn zulief, zustürzte, dass Marcel Eva nie wieder sehen würde. Nach allem, was er ihr angetan hätte. Dass sie das nie von ihm gedacht hätte. Dass er sich nie, nie wieder blicken lassen solle.
Marcel starrte sie an. Erst, als sie nach ihm griff, wich er aus. Rannte. Das war das Feuer. Eva hatte alles erzählt. Nie wieder dahin, zum Kindergarten, nicht einmal in die Nähe.
Am nächsten Tag trottete er brav in die Schule. Die nette junge Frau brachte ihn. Sie sagte, sie suchten eine Einrichtung für ihn. Das schien ihm schon nicht mehr so schlimm.
Und in der Schule waren dann auch schon alle komisch. Die Lehrer ließen Marcel nicht aus den Augen. Nach ein paar Tagen hieß es, es habe Beschwerden von Eltern gegeben. Marcel solle vorläufig nicht mehr kommen.
Am Ende war er froh, in seine Einrichtung zu kommen.
"Deine Erste", sagte Paul, stolz, selbst bereits in drei verschiedenen gewesen zu sein. Das Spatzennest.
„Wieso Spatzennest?“, fragte er Ilona, und sie sagte: „Weil es eine ganz kleine Einrichtung ist.“
Marcel stellte sich eine Art Puppenhaus vor - und stand dann erstaunt mit seinem Köfferchen vor dem großen alten Gasthaus am Dorfplatz neben der Kirche. Klein war es, weil es nur zehn Plätze gab, für zehn Kinder.
„Wir sind was ganz Besonderes“, hat Paul mal aus seinem Fenster gerufen, ganz laut, auf dem ganzen Kirchplatz konnte man ihn hören. „Wir sind die Sexuellen!“
Alle haben gelacht, auch Nadja, aber danach hat sie ihn natürlich fürchterlich an den Ohren gezogen - das ging ja nicht, dass er aus dem Fenster schrie.
Auch Eva lebte jetzt in einer Einrichtung. Ob ihr der Bruder fehlt?
Ich möchte, dass ich ihr fehle, denkt Marcel. Vielleicht will sie mich sehen. Ich war doch immer da. Und jetzt traut sie sich nicht, es zu sagen, dass sie mich vermisst.
Eva war ja immer so scheu, hat kaum etwas gesagt. Deswegen haben sie gedacht, es hat vielleicht einen Grund, dass sie so scheu ist, einen schlechten Grund. Der schlechte Grund. Das war er. Marcel.
Marcel nahm die Finger aus den Ohren. Es war still. Er stand auf, ging zur Heizung, ließ sich hineinfließen. Jetzt wollte er sich im Heizungskeller im Boiler treiben lassen und von Pauls Mama träumen, vom Kuchenessen auf der Terrasse, von Kakao in der Sonne. Durch die Rohre ließ er sich herüber in Justins Zimmer gleiten, aber da ist ein merkwürdiges Geräusch: ein Wimmern.
Eva? Eva, weinst du? Nein. Natürlich nicht, nicht Eva.
Der kleine Justin weinte, das war normal, er war ja der Jüngste. Seine Mama war heimgefahren ohne ihn, jetzt weinte er.
Da war etwas, das nicht stimmte.
Marcel hielt sein Ohr dicht an das Heizungsventil. Eine zweite Stimme. Das war Martin. Martin bei Justin. Hielt ihn fest, wisperte. Justin weinte. Etwas war nicht gut, Marcels Herz raste, er ließ los, das warme Wasser packte ihn schon, spülte ihn weiter, in Martins leeres Zimmer und weiter durchs Bad hinunter in den Heizungskeller.
Im Boiler blieb Marcel liegen. Lange würde er hier liegen bleiben und treiben, so lange, bis alles gut war, oder bis Martin wieder in seinem Zimmer war. Bis Justin schlief.
Aber er hielt es nicht aus. Plötzlich bekam er keine Luft. Dabei war er doch flüssig! Er brauchte nicht zu atmen, hier im Heizungskeller.
Es half nichts, er musste nach dem Ausgang tauchen. Marcel ließ sich von der Heizungspumpe wieder in die Rohre schnellen.
Im Büro saßen Nadja und Olaf. Nadja seufzte.
Olaf sagte: „Du musst das nicht ewig machen, du nimmst das zu ernst. Wenn er nicht fragt, brauchst du es ihm nicht zu sagen.“
Marcel hielt inne, griff einen Knick im Heizungsrohr. Was wollten sie nicht sagen? Wem? „Aber das ist es ja“, sagte Nadja, „warum fragt er nicht? Er fragt nicht nach seiner Mama und er fragt nicht nach seiner Schwester. Und jetzt kommt die Kleine aus dem Heim und darf wieder bei der Mutter leben, und die Mutter fragt nicht nach ihm, nicht ein Wort! Als hätte es Marcel nie gegeben. Als wäre er –“
Marcel, flüssig im Heizkörper, ließ los. Das heiße Wasser griff ihn, spülte ihn hinauf, und die Heizung spuckte ihn in hohem Bogen aus. Marcel fiel auf den Boden, Tropfen platschten auf Bett und Stuhl. Was hatte Nadja gesagt? Als hätte es ihn nie gegeben. Und dann, was hatte sie noch gesagt? Er hatte es nicht gehört.
Ich habe es nicht verstanden.
Das Wasser rauschte in Marcels Ohren, während er versuchte, den kleinen Jungen zu formen, der er war. Aber es schien ihm nicht zu gelingen, etwas fehlte. Er blieb auf dem Boden liegen, etwas stimmte nicht. Im Schlaf hörte Marcel Eva im Nachbarzimmer weinen, er lief über den Gang, betrat durch die geschlossene Tür ihr Zimmer. Eva saß auf dem Bett und weinte, aber sie sah ihn nicht.
Eva?
Sie hörte ihn nicht. Ihr Gesicht spiegelte sich im Fenster, Marcels Gesicht neben ihrem war nicht zu sehen.
Ich bin unsichtbar, natürlich, sie kann mich nicht sehen, ich bin ja tot. Ich habe vergessen, dass ich tot bin, und schon seit einer Weile, dachte er.
Marcel strich Eva über das Gesicht und ging durch die Wand zurück in sein Zimmer.
Ob alles in Ordnung wäre, fragte Anna. Steckte ihren Kopf durch die Tür und grinste. Nadja hatte frei. Anna war jung und meistens vergnügt.
"Ist ja noch nicht so lange hier", sagte Paul. "Die Fröhlichen bleiben hier nicht lang. Nach einem Jahr oder so gehen sie. Oder sind nicht mehr fröhlich. Ist halt nicht einfach mit uns." Und dann boxte Paul Marcel in die Rippen, und Marcel schubste ihn weg, und schon rollten die Beiden, schreiend ineinander verkeilt am Boden.
Anna wunderte sich nicht, wenn mal einer auf dem Boden schlief. Eigentlich waren die ziemlich cool, die Pädagogen, fand Paul. Ärger gab’s nur bei größeren Sachen. Der René zum Beispiel, war schon lange nicht mehr hier, der war nachts einfach nicht aufs Klo gegangen. Pinkelte in seine Zimmerecke. Da war er schon zwölf. Bis die das gemerkt hatten! Das hatte gestunken, ganz gewaltig, die Holzdielen waren an den Rändern schwarz und ganz wellig. Ein Fußbodenleger musste kommen, und René war dann irgendwann weg.
Annas Kopf verschwand aus der Tür. Marcel dachte an das, was Nadja gesagt hatte. Und dann fiel er ihm wieder ein: Justins Weinen. Und Martin in seinem Zimmer, und es klang ganz wie Evas Weinen, an dem Abend, als sie zum ersten Mal so lag, unter ihm, so weich, so vertraut.
Vor allem durfte er sich nichts anmerken lassen. Er versuchte aufzustehen. Es gelang ihm nicht gleich, Hände und Füße auseinander zu halten. War aber doch alles an seinem richtigen Platz: Gelenke und Knochen, jedes, wo es hingehört, die Knie klappen nach hinten und nicht nach vorn. Marcel stand. Er suchte sich ein frisches T-Shirt, ein Paar frische Socken. So konnte er hinuntergehen. Nur nicht auffallen.
Den Vormittag über hielt Marcel sich in der hinteren Ecke des Aufenthaltsraums auf, bei den anderen Kleinen, aber nicht zu nah an Justin, der ein paar Spielzeugautos herumschob, bis er anfing, sich mit einem von den Großen zu streiten. Martin vermied er ganz, sah ihn nicht einmal an. Martin durfte nicht wissen, dass Marcel es wusste.
Als Paul ihn aufzog, dass er schlecht geschlafen habe, weil Pauls Mama so schön ist, wurde Marcel wild. Die Beiden kämpften auf dem Boden, bis die Erwachsenen sie auseinanderbrachten.
"Was ist denn los?", fragte Anna und stellte Marcel und Paul auf die Beine. "Vielleicht schläfst du morgen mal zur Abwechslung im Bett!"
Da war Marcel schon aus der Tür, rannte die Treppe herauf. In seinem Zimmer legte er sich unters Bett. Manchmal half es, unter einem Möbel zu liegen. Marcel lag ganz still. Hielt die Luft an.
Wenn ich gar nicht mehr atme, dachte er, sterbe ich. Warum nicht.
Starr lag er da, als wäre er ein Möbel, ein Stück Holz. Dann begann sein Körper zu zucken, drehte sich hin und her, Marcel konnte ihn kaum halten, er schob sich der Luft entgegen. Marcel presste die Lippen zusammen, nicht atmen, so sehr es in ihm tobte.
Ich halte das aus, ich halte das aus bis zum Ende.
Im nächsten Moment schnappte er nach Luft.
Marcel wälzte sich auf dem Boden hin und her, die Hände auf die Ohren gepresst, kaputte Zirkusmusik. Wenn er sich schnell genug hin und her warf, schmerzte sein Rücken. Das beruhigte etwas.
Bis zum Mittagessen bleibe ich hier, beschloss er, werfe mich herum oder lasse meinen Hinterkopf ein paar Mal auf den Boden knallen.
Am Nachmittag war Gruppe. Sie saßen im Kreis, Justin Marcel direkt gegenüber. „Marcel“, sagte Anna, „alles in Ordnung? Du bist blass.“
„Justin ist blass!“, rief er, „Fragt den doch!“ Marcel spürte das Feuer in sich, sein Atem war heiß, er konnte hier alles in Brand stecken, das alte Gasthaus würde eine Fackel, der Kirchplatz taghell in der Nacht und die Fenster der Pizzeria nebenan zersprängen, wenn er sie herausließe, die Hitze in ihm.
Ich bin ein Drache und ich spucke Feuer.
Marcel sagte ganz langsam: „Oder fragt Martin, ob er weiß, warum Justin so blass ist.“
Er ließ sich seitlich vom Stuhl fallen, ganz langsam. Hielt die Augen geschlossen. Jemand weinte.
Anna entschied, dass Marcel krank war. Er wurde in sein Zimmer gebracht und ins Bett gelegt. Vielleicht bin ich wirklich krank, dachte er. Paul kam ab und zu herein und erzählte, dass Ilona da war, dass sie mit Justin gesprochen hat, dass Justins Mutter da war, dass Martin seine Sachen packte. Dass er weg war.
„Du bist ein Kind“, hörte er Nadja murmeln. „Du bist doch noch ein Kind.“
Es klang, als würde sie weinen. Marcel öffnete die Augen ein bisschen, nur einen Schlitz, da saß sie neben ihm auf dem Bett. Marcel schloss die Augen. Er musste wieder eingeschlafen sein, denn als er die Augen ganz öffnete, war Nadja nicht mehr im Zimmer. Die Tür hatte sie so leise zugezogen, er hatte es nicht gehört. Außerdem hatte sie heute frei.
Martin war weg. Es gebe eine Eins-zu-Eins-Betreuung für ihn, sagte Olaf: ein Erwachsener, der immer nur für ihn da ist. Marcel war neidisch. Justin redete nicht mehr mit ihm. Paul sagte, Martin hätte Justin eins nach dem anderen seine coolen Spielzeugautos geschenkt. Das war jetzt natürlich vorbei. Und das Feuerwehrauto, auf das Justin spitz war, hatte Martin jetzt mitgenommen in seine neue Betreuung.
Auch Nadja kam nicht wieder. Sie hatte eine andere Arbeit gefunden.
„Bessere Arbeitszeiten“, sagte sie, als sie die Kinder zum Abschied in die Eisdiele einlud. Marcel nahm ein Eis mit vier Kugeln, viermal Schokolade.
„Die sind nicht so schwierig wie wir, nicht wahr, die anderen Kinder“, stellte Paul fest. Nadja hob beide Hände und wuschelte Paul und Marcel gleichzeitig durch die Haare. Sie lachte. Marcel sah ihr ins Gesicht. Es stimmt, dachte er. Sie geht, weil wir so schwierig sind.
Wieder lag er auf dem Bett, wieder machte er sich flüssig. Das Feuer kam näher. Marcel hatte keine Angst. Marcel war flüssig. Die Flammen zischten und bogen sich nach hinten, sie schraken vor ihm zurück. An den Rändern wurde er heiß, kleine Blasen sprangen auf und verdampften. Von seinem Rand her löste er sich auf. Der Wasserfleck auf dem Bett, in der Form eines kleinen Jungen, neun, bald zehn Jahre alt, zog sich zusammen, die Form ging verloren, die dünnen Arme und Beine verschwanden zuerst. Die Stelle, wo der Kopf gewesen war, blieb am längsten. Die Flammen wurden mutiger, drängten sich zusammen, tanzten. Sie leckten einen kleinen Jungen von der Matratze. Wasserdampf im brennenden Zimmer. Der Dampf zog durch den Qualm hin zum gekippten Fenster und hinaus über den Kirchplatz, in den Kastanienbaum. Die Feuchtigkeit legte sich auf die Blätter, stieg auf durch die Zweige oder sank auf den Boden. Ein leichter Film legte sich auf die Fenster der Pizzeria; ein vorbeigehendes Kind malte ein Grinsegesicht auf die Scheibe.