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28.01.2018
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Einrichtung

Wenn es sein musste, machte er sich flüssig. Abends, wenn alle in ihren Zimmern waren, wenn Nadja die beiden Kleinen auseinandergebracht und Martin endlich das Radio ausgemacht hatte, legte Marcel sich ins Bett und zog die Decke bis unters Kinn. Immerhin konnte es sein, dass Nadja noch einmal hereinschaute, dann stupste sie ihren Finger auf seine Nase, das war so eine Art Gutenachtkuss, denn richtig küssen durfte sie ihn natürlich nicht. Sie hatte jetzt nicht mehr so oft Schicht an den Abenden wegen ihrer eigenen Kinder. „Die sehen mich ja sonst gar nicht mehr.“
Wenn ich es mir aussuchen könnte, dachte Marcel, wäre ich Nadjas Kind, ihr einziges Kind! Dabei hat sie drei. Und uns.
Waren Olaf oder Anna dran, dann öffneten sie die Tür nur halb, schauten herein und nickten Marcel zu, froh, dass es mit ihm keine Scherereien gab am Abend.
Sobald sie weg waren und es ruhig wurde, stand er auf. Marcel ging an das Fenster, lehnte sich gegen die Heizung und machte sich flüssig. Der alte Heizkörper war weiß gestrichen. Man konnte die Farbe mit dem Fingernagel abkratzen, sie fiel dann in leichten Schuppen ab. Darunter war wieder weiße Farbe. Oben an der Seite hatte die Heizung ein Ventil. Wenn Marcel sich flüssig machte, ließ er sich durch das Ventil an der Heizung in den Heizkörper tröpfeln. Klein und dünn wie er war, floss er durch die Rohre, aus der Heizung in seinem Zimmer in die Heizung in Justins Zimmer und weiter. Von der Heizung im Badezimmer fiel er das Rohr hinab, durch das Erdgeschoss in den Heizungskeller. Hier ließ er sich im heißen Wasser des Boilers treiben. Solange er flüssig war, konnte ihm die Hitze nichts, er rollte von der einen auf die andere Seite, einmal langsam, dann ganz schnell.
Ich bin ein Seelöwe im Zoo, dachte er. Er lag im Wasser und träumte. Träumte, er sähe alles aus der Ferne: Das große alte Gasthaus, in dem sie lebten, wurde ganz klein; es verschwand mit dem Kirchplatz, dem Kastanienbaum und dem ganzen Dorf zwischen den großen Straßen.
Marcel sah Autobahnen von oben, ihre Kreuze und Dreiecke, sie bildeten ein Netz, das die Dörfer verband und trennte. Dann die Vorstädte, die Industrieanlagen, die Städte, er sah Schienennetze, alte Halden, das Land, grau und grün, und dann das Meer, schwarze Ozeane, weiße Eiskuppen an den Polen. Endlich hatte er den Planeten vor sich. Die Erde war rund, sie stieß ihn von sich ab.
Ich bin ein Astronaut und reise durch das All, dachte er. Wie Blitze ziehen die Sterne an mir vorbei, und ich treibe zwischen ihnen, sicher im warmen Wasser meines Heizkessels.

Irgendwann hatte er genug. Er tauchte nach dem Rohr, das ihn in die Heizungsrohre im Erdgeschoss spülte. Durch den großen Aufenthaltsraum floss er schnell, aber im Büro hielt er sich innen an einem gebogenen Rohr fest. Hier konnte er hören, was die Erwachsenen sagten. Wie sie redeten. Über wen. Nadja und Olaf saßen noch beieinander. Sie sprachen über das Sommerfest morgen. Er hörte Nadja sagen, dass seine Mama nicht zum Sommerfest kommen würde, aber das wusste er längst. Marcel wollte wissen, wo Eva war. Aber niemand sprach über seine Schwester, nicht einmal, wenn er nicht da war.

Sie sprachen über Martin, ob sie ihm noch eine Chance geben würden. „Wo soll er denn hin?“, fragte Nadja. „Den nimmt doch keine Einrichtung!“
Es war still im Büro. Nadja hatte also recht, dachte Marcel: Niemand würde Martin nehmen. Jedenfalls keine Einrichtung.
Erst hatte er das Wort komisch gefunden.
„Nadja, wieso sagt ihr immer Einrichtung?“
Nadja dachte nach. „Was soll man sonst sagen? Früher hat mein "Heim" gesagt. Aber Heim, das klingt schrecklich, oder?“
Marcel fand nicht, dass „Heim“ schrecklich klang. Es war seine erste Einrichtung, und Paul sagte, er hätte Glück gehabt, dass er gleich hierhin gekommen war. Zu den Sexuellen, sagte er und lachte. Marcel lachte mit. Am Anfang hatte er darüber nicht lachen können.
Zuerst hörte er es von dem Mann in der Eisdiele: „Die Sexuellen kommen“, sagte der laut, als sie zu dritt hingingen, Martin, Paul und Marcel. Sie hörten es, und die zwei, drei Erwachsenen an der Theke auch. Marcel wollte weglaufen, aber Martin griff seinen Arm und hielt ihn fest. Es tat weh, und am nächsten Tag hatte Marcel einen blauen Fleck am Oberarm. Martin lief nie weg. Und wer mit Martin unterwegs war, lief auch nicht weg.
Die drei gingen in die Eisdiele und kauften Eis. Drei Kugeln jeder, wie die Cowboys und ohne mit der Wimper zu zucken. Zum Abschied winkte der Eisdielenmann den Kindern hinterher.
„Ist doch lustig“, sagte Paul, „die Sexuellen. Sind wir ja auch. Passt doch.“ Paul sagte auch, die Leute im Dorf hätten sie hier erst nicht haben wollen. Sie müssten dann ja ihre Kinder vor uns verstecken.
"Dabei gibt es im Dorf gar keine Kinder!", rief Paul. "Nur alte Leute!"
"Nein! Die Kinder sind einfach sehr, sehr gut versteckt." Martin lachte. Er war der älteste in Marcels Gruppe, bald zwölf. In der anderen Gruppe, oben im zweiten Stock, waren die Großen, zwölf, dreizehn und vierzehn Jahre alt - das heißt, vierzehn war nur Patrick. Mit vierzehn zogen sie hier aus.
"Mit vierzehn", erklärte Paul, "bist du eben kein Kind mehr. Ich will lieber Kind bleiben."
Martin war stark, aber klein für sein Alter. Er wollte nicht in den oberen Stock ziehen. Marcel glaubte, Martin hatte Angst. Er hatte es am schlimmsten gehabt, das wusste Marcel, weil die Erwachsenen im Büro davon sprachen.
Die Erwachsenen dachten, dass die Kinder sie nicht hörten. Aber Marcel hatte sich im Heizungsrohr festgesetzt. Alles hatte er gehört: Wo Martins Narben auf dem Rücken herkommen. Und ganz andere Sachen. Marcel sprach nie darüber. Er dachte diese Sachen nicht. Er stellte sie sich nicht vor. Er dachte nicht daran in Worten.
Er räumte das, was er wusste, vorsichtig in eine Ecke in seinem Kopf und fasste es nicht mehr an. Wenn er daran dachte, geriet es in Bewegung, und wenn es anfing, sich zu bewegen, dann würde es wachsen und am Ende würde es so groß werden, dass nichts anderes mehr in ihm wäre; er könnte an nichts anderes mehr denken, würde es vor sich sehen, immer: den kleinen Martin, seine Mutter, den Mann.
Ich weiß es, aber ich denke es nicht. Vor allem sage ich es nicht. Das ist das Wichtigste: nicht darüber sprechen, dachte Marcel.

Im Büro redeten sie kaum über ihn. Besser so. Sie redeten über Martin, weil er so schwierig war. Auch, weil sie ihn so mochten. Aber vor allem redeten sie über Martin, weil sie nicht wussten, wohin damit, mit ihm, mit allem, was ihm passiert war. Sie redeten darüber, damit es wegging, aber es ging nicht weg, es wurde mehr, breitete sich aus, je mehr man darüber redete. Mehr Leute erfuhren es, so wurde es größer und schlimmer. Das sollten die Erwachsenen wissen, fand Marcel, und nicht mehr über diese Sachen sprechen. Marcel behielt es für sich, alles. Es war bei ihm sicher. Man konnte ihm alles erzählen, denn er wusste, wie man es aufhebt. Ein warmer Ofen, wenn man es im Kopf behielt, aber ein Feuer, wenn man darüber sprach. Ein Brand, ein Waldbrand, wie neulich im Fernsehen, jemand ließ eine Zigarette liegen und drückte sie nicht aus oder nicht richtig aus, und der Wald brannte. Die Bäume stürzten ein, die Tiere mussten rennen, aus dem Wald heraus, aber das Feuer war schnell, kroch über den Boden, sprang von Ast zu Ast. Die kleinen Tiere waren nicht schnell genug, sogar die Vögel verbrannten in ihren Nestern. Sie hatten seine kleine Schwester gefragt, was los war, und sie hat alles erzählt. Eva hatte ihm versprochen, niemandem etwas zu sagen von uns, dass es ein Geheimnis bleibt. Und dann hatte sie doch alles erzählt. Ein Brand, und danach nichts mehr wie vorher.
Ich bin ihr nicht bös, dachte Marcel, sie ist ja noch klein. Sie hat geweint, da bin ich mir sicher, sie wollte bestimmt gleich alles löschen, aber da raste das Feuer schon über den Boden weg, kleine Eva, da war es zu spät.

Marcel war flüssig. Das Feuer war sicher aufgehoben in seinem Kopf. Er ließ das Heizungsrohr los. Das warme Wasser trieb ihn hinauf, spülte ihn hoch in den ersten Stock, zurück in sein Zimmer. Durch das Ventil tropfte er auf den Boden, formte einen kleinen Jungen, neun Jahre alt, bald zehn. Marcel stand vom Fußboden auf und legte sich ins Bett. Morgen war Sommerfest.

Zum Sommerfest kamen die Mamas. Nicht alle. Marcels Mama kam nicht, aber das machte nichts. Paul sagte, Marcel könne sich zu ihm und seiner Mama setzen. Du erkennst sie sofort, sagte er: Sie ist die hübscheste. Die Kinder drängelten sich vor dem Fenster im Treppenhaus, um auf die Straße zu gucken, und Marcel sah Pauls Mama: Sie trug etwas Blaues in den Haaren, ein Tuch oder ein Band, und ihre Sommerjacke war auch blau und an den Unterarmen fast durchsichtig. Das viele Blau passte zu den blauen Augen und zu der blassen Haut. Aber ihre Haare waren dunkel, fast schwarz. Das ist Marcel, sagte Paul. Marcel gab ihr die Hand. Die anderen Mamas waren dicker, auch ihre Kleidung dick und schwer, und sie rochen nicht so gut. Marcel aß Kuchen, lachte über einen Witz, den Paul erzählte, stolz, bei den beiden zu sitzen. Stolz, dass alle sahen, dass sie Spaß hatten. Mit seiner Mama wäre es nicht so gewesen, da hätte er einfach neben ihr gesessen und sich geschämt, und sowieso hätte Eva nicht mit gedurft. Pauls Mama drückte Marcel die Hand und sagte, dass es ihr ein Vergnügen gewesen sei und ob er nächstes Mal mitkomme, wenn sie und Paul Pizza essen gingen in der Pizzeria nebenan. Marcel sah kurz nach der Seite, nach Paul, ob es ihm auch recht war, es war ja seine Mama. Paul grinste nur. Er platzte fast vor Stolz!
„Ja, klar, gern!“, rief Marcel und lief zurück ins Haus.
Marcel lag schon im Bett, als er Fetzen von Geschrei hörte. Martin hatte wieder irgendetwas kaputt gemacht und dann noch etwas Gemeines gesagt, wohl zu Nadja. Marcel kniff die Augen zu und presste die Hände auf die Ohren. Wenn er dabei die Finger hin- und herdrehte, wurde aus dem Geschrei eine Art Zirkusmusik, eine kaputte Zirkusmusik, wie ein kaputter Zirkus schrien sie da unten. Geschrei regte ihn auf, immer, aber Paul meinte, das wäre ganz normal. Bei ihnen daheim wäre immer Geschrei gewesen.

Bei Marcel daheim wurde nicht geschrien. Er dachte an die Stille daheim in der Wohnung. Er dachte, dass er gern wüsste, wo Eva war, aber nicht wusste, wie fragen. Jetzt fehlte sie ihm besonders. Sie war immer so ruhig, und wenn er sie zum Kindergarten brachte, griff sie nach seiner Hand, bevor sie die Stadtholzstraße überquerten. Die beiden spielten zusammen auf dem Spielplatz, abends spät oder im Regen, wenn die anderen Kinder daheim waren beim Abendessen mit ihren Mamas. Sie rannten um die Wette, im Regen, im Dunkeln, und Marcel ließ sich von ihr fangen, oder er fing sie. Sie rollten im nassen Sand, Eva vor Vergnügen kreischend.
Zu Hause, in der Badewanne stehend, während ihr Bruder sie abtrocknete, fragte Eva dann: „Wann kommt Mama wieder?“, und Marcel antwortete: „Morgen oder übermorgen“, und stellte den Fernseher an. Er holte die große Bettdecke. Sie verkrochen sich darunter, nackt und weich wie kleine Tiere in der Höhle. Aber plötzlich standen diese Leute im Wohnzimmer - was wollen die Leute? Was für Leute?
Da waren keine Leute. Marcel hatte geträumt, eingeschlafen im Wohnzimmer, und jetzt war er mitten in der Nacht aufgewacht. Er stand auf, um Eva in ihr Bett zu tragen, aber sie war zu schwer, er zog an ihren Armen und sie wachte auf und fing an zu weinen. Wo Mama ist, Mama! Marcel konnte sie gar nicht beruhigen, nicht mit Singen, Witze erzählen. Sie kannte ja alle seine Witze. Am Ende war sie erschöpft vom Weinen und schlief wieder auf dem Sofa ein. Marcel machte es sich auf dem Teppich bequem. Am nächsten Tag kamen sie. Die Leute. Da hatte Marcel Eva schon in den Kindergarten gebracht und war wieder nach Hause gegangen. Müde, wegen der Nacht, und traurig. Marcel schwänzte fast nie die Schule, damit es nicht auffiel. Damit nicht etwa Lehrer anriefen, um mit Mama zu sprechen. Die beiden Kinder sahen immer ordentlich aus, waren immer pünktlich. Darauf achtete er genau.

Als sie kamen, war er zu Hause, lag auf dem Sofa, die leere Schokoladenpackung auf dem Teppich. Die packte er sofort weg, als es klingelte, machte auch den Fernseher aus. Vor der Tür standen zwei Frauen und ein Mann. Freundlich, eigentlich, aber gar nicht wie Freunde. Sie sagten, sie wären gekommen, um Evas Sachen zu holen. „Eva kommt heute nicht nach Hause“, sagte die ältere. Das war Ilona, aber Marcel kannte sie noch nicht. „Wo ist deine Mama?“, wollte die jüngere wissen. Marcel fing mit der üblichen Geschichte an: Mama war einkaufen, Mama war bei Oma, nur kurz weg oder nur bis morgen, Mama kommt schon wieder, sie muss nur noch, sie wird. Aber die beiden Frauen und der Mann ließen sich nicht abwimmeln. Und wenn Marcel nach Eva fragte, fragten sie etwas anderes und antworteten ihm nicht.
"Wo ist sie? Ist sie nicht im Kindergarten? Ich habe sie doch in den Kindergarten gebracht."
Marcel musste ihnen Evas Sachen zeigen. Alles ordentlich in Schubladen. Die Strümpfe eingerollt, die Unterhosen gefaltet. Die jüngere Frau fing an, einen Koffer zu packen, zusammen mit dem Mann, und Ilona ging mit Marcel in die Küche. Ob sie einen Kaffee möchte? Die Frau musste doch sehen, dass hier alles in Ordnung war! Marcel kochte Kaffee und machte sich ein Frühstück mit Milch und Cornflakes. Erst später verstand er, dass Ilona Psychologin war. Ilona sagte, dass der Kaffee gut sei. Dass Marcel das toll mache, dass es bestimmt nicht einfach sei für ihn, mit Eva. Und dann, als Marcel eben dachte, ja, es läuft, da sagte sie noch, dass er aber doch ein Kind sei. Und dass sich jemand um ihm kümmern müsste.
Marcel liegt im Bett, die Finger in den Ohren. Er erinnert sich an diesen Tag, den Tag, an dem sie Eva geholt haben, aber was Ilona noch alles gesagt hat, das weiß er nicht mehr. Die anderen beiden gingen irgendwann mit Evas Sachen. Ilona blieb und redete oder hörte zu, trank noch einen Kaffee, bestand wieder darauf, dass es ein besonders guter Kaffee wäre. Und irgendwann ist sie dann aufgestanden. Marcel war sicher: jetzt nimmt sie mich mit. Aber sie hat ihn nicht mitgenommen. Jemand würde am nächsten Morgen vor der Schule kommen, um Marcel zu helfen, sagte sie. Das war alles.

Dann war sie weg. Endlich geht sie, dachte Marcel. Und dann war er allein. Zum ersten Mal: allein, ohne Eva. Und in dieser Nacht entdeckte Marcel, dass er sich flüssig machen konnte.

Marcel stand im Badezimmer vor dem Waschbecken und sah in den Spiegel. Ein ordentlicher, kleiner Junge. Blass, große Augen, sehr kurzes Haar. Und dann sah Marcel den Ablauf des Waschbeckens und dachte, dass auch Eva um diese Zeit in einem Badezimmer stand, vor einem Waschbecken, dass jemand ihr beim Zähneputzen half. Er dachte, dass ihr Waschbecken und sein Waschbecken verbunden waren, über Wasserleitungen, unterirdische Kanäle, dass er sie finden konnte in der Stadt, wenn er sich nur flüssig machte und den Abfluss hinunterrinnen ließe.
Marcel machte sich flüssig. Die ganze Nacht verbrachte er in den Rohren und Leitungen der Häuser der Stadt. Er floss durch die Hochhäuser im Viertel, sicherheitshalber auch durch den Kindergarten, durch die schönen kleinen Häuser in ihren Gärten auf der anderen Seite der Stadtholzstraße, dann einen breiten, stinkenden Kanal entlang hinab Richtung Fluss, und in der Innenstadt wieder hinauf in die Häuser. Die Bürogebäude und Einkaufszentren ließ er aus, bog dafür ab in die kleinen Stadtwohnungen über den Geschäften und floss dann auf der anderen Seite des Rings durch die Reihenhäuser. Eva war nirgends zu finden. Wohin hatten sie sie gebracht?
Irgendwann spülte die Trinkwasserleitung den erschöpften Jungen wieder nach Hause. Marcel tropfte aus dem Wasserhahn und blieb auf dem Teppich vor der Badewanne liegen, bis am nächsten Morgen eine Frau kam, um ihm zu helfen. Marcel machte alles mit: Cornflakes und Milch und ein Apfel. Als sie an der Schule waren, vertraute sie ihm schon und ließ ihn allein hineingehen. Marcel winkte ihr noch aus dem Tor zu, presste sich drinnen gegen die Wand, wartete, bis sie weg war und rannte los. Zu Evas Kindergarten.
Am Kindergartentor tat er ganz normal: ein leichtes Winken zum Haus hin und mit einem Griff das Gatter zum Spielplatz geöffnet.
Aber es war schon alles verbrannt. Marie stürzte hinaus. Sie rief, er dürfe keinesfalls hineinkommen, ob sie ihn denn nicht geholt hätten.
Sie musste ihn vom Fenster aus gesehen haben.
Sie hätten ihn doch holen müssen! Sie würde die Polizei holen, sofort, wenn das Jugendamt schon nichts täte.
Die heiße Luft schlug Marcel ins Gesicht. Er ließ das Tor los, hob die Hände.
"Ich will doch nur Eva abholen", rief er.
Marie antwortete mit einem dröhnenden Laut. Jetzt kam sie auf ihn zu.
Jetzt packt sie mich. Jetzt zerquetscht sie mich, dachte er.
Marie schrie, während sie auf ihn zulief, zustürzte, dass Marcel Eva nie wieder sehen würde. Nach allem, was er ihr angetan hätte. Dass sie das nie von ihm gedacht hätte. Dass er sich nie, nie wieder blicken lassen solle.
Marcel starrte sie an. Erst, als sie nach ihm griff, wich er aus. Rannte. Das war das Feuer. Eva hatte alles erzählt. Nie wieder dahin, zum Kindergarten, nicht einmal in die Nähe.

Am nächsten Tag trottete er brav in die Schule. Die nette junge Frau brachte ihn. Sie sagte, sie suchten eine Einrichtung für ihn. Das schien ihm schon nicht mehr so schlimm.
Und in der Schule waren dann auch schon alle komisch. Die Lehrer ließen Marcel nicht aus den Augen. Nach ein paar Tagen hieß es, es habe Beschwerden von Eltern gegeben. Marcel solle vorläufig nicht mehr kommen.
Am Ende war er froh, in seine Einrichtung zu kommen.
"Deine Erste", sagte Paul, stolz, selbst bereits in drei verschiedenen gewesen zu sein. Das Spatzennest.

„Wieso Spatzennest?“, fragte er Ilona, und sie sagte: „Weil es eine ganz kleine Einrichtung ist.“
Marcel stellte sich eine Art Puppenhaus vor - und stand dann erstaunt mit seinem Köfferchen vor dem großen alten Gasthaus am Dorfplatz neben der Kirche. Klein war es, weil es nur zehn Plätze gab, für zehn Kinder.
„Wir sind was ganz Besonderes“, hat Paul mal aus seinem Fenster gerufen, ganz laut, auf dem ganzen Kirchplatz konnte man ihn hören. „Wir sind die Sexuellen!“
Alle haben gelacht, auch Nadja, aber danach hat sie ihn natürlich fürchterlich an den Ohren gezogen - das ging ja nicht, dass er aus dem Fenster schrie.
Auch Eva lebte jetzt in einer Einrichtung. Ob ihr der Bruder fehlt?
Ich möchte, dass ich ihr fehle, denkt Marcel. Vielleicht will sie mich sehen. Ich war doch immer da. Und jetzt traut sie sich nicht, es zu sagen, dass sie mich vermisst.
Eva war ja immer so scheu, hat kaum etwas gesagt. Deswegen haben sie gedacht, es hat vielleicht einen Grund, dass sie so scheu ist, einen schlechten Grund. Der schlechte Grund. Das war er. Marcel.
Marcel nahm die Finger aus den Ohren. Es war still. Er stand auf, ging zur Heizung, ließ sich hineinfließen. Jetzt wollte er sich im Heizungskeller im Boiler treiben lassen und von Pauls Mama träumen, vom Kuchenessen auf der Terrasse, von Kakao in der Sonne. Durch die Rohre ließ er sich herüber in Justins Zimmer gleiten, aber da ist ein merkwürdiges Geräusch: ein Wimmern.
Eva? Eva, weinst du? Nein. Natürlich nicht, nicht Eva.
Der kleine Justin weinte, das war normal, er war ja der Jüngste. Seine Mama war heimgefahren ohne ihn, jetzt weinte er.
Da war etwas, das nicht stimmte.
Marcel hielt sein Ohr dicht an das Heizungsventil. Eine zweite Stimme. Das war Martin. Martin bei Justin. Hielt ihn fest, wisperte. Justin weinte. Etwas war nicht gut, Marcels Herz raste, er ließ los, das warme Wasser packte ihn schon, spülte ihn weiter, in Martins leeres Zimmer und weiter durchs Bad hinunter in den Heizungskeller.
Im Boiler blieb Marcel liegen. Lange würde er hier liegen bleiben und treiben, so lange, bis alles gut war, oder bis Martin wieder in seinem Zimmer war. Bis Justin schlief.
Aber er hielt es nicht aus. Plötzlich bekam er keine Luft. Dabei war er doch flüssig! Er brauchte nicht zu atmen, hier im Heizungskeller.
Es half nichts, er musste nach dem Ausgang tauchen. Marcel ließ sich von der Heizungspumpe wieder in die Rohre schnellen.
Im Büro saßen Nadja und Olaf. Nadja seufzte.
Olaf sagte: „Du musst das nicht ewig machen, du nimmst das zu ernst. Wenn er nicht fragt, brauchst du es ihm nicht zu sagen.“
Marcel hielt inne, griff einen Knick im Heizungsrohr. Was wollten sie nicht sagen? Wem? „Aber das ist es ja“, sagte Nadja, „warum fragt er nicht? Er fragt nicht nach seiner Mama und er fragt nicht nach seiner Schwester. Und jetzt kommt die Kleine aus dem Heim und darf wieder bei der Mutter leben, und die Mutter fragt nicht nach ihm, nicht ein Wort! Als hätte es Marcel nie gegeben. Als wäre er –“

Marcel, flüssig im Heizkörper, ließ los. Das heiße Wasser griff ihn, spülte ihn hinauf, und die Heizung spuckte ihn in hohem Bogen aus. Marcel fiel auf den Boden, Tropfen platschten auf Bett und Stuhl. Was hatte Nadja gesagt? Als hätte es ihn nie gegeben. Und dann, was hatte sie noch gesagt? Er hatte es nicht gehört.

Ich habe es nicht verstanden.

Das Wasser rauschte in Marcels Ohren, während er versuchte, den kleinen Jungen zu formen, der er war. Aber es schien ihm nicht zu gelingen, etwas fehlte. Er blieb auf dem Boden liegen, etwas stimmte nicht. Im Schlaf hörte Marcel Eva im Nachbarzimmer weinen, er lief über den Gang, betrat durch die geschlossene Tür ihr Zimmer. Eva saß auf dem Bett und weinte, aber sie sah ihn nicht.
Eva?
Sie hörte ihn nicht. Ihr Gesicht spiegelte sich im Fenster, Marcels Gesicht neben ihrem war nicht zu sehen.
Ich bin unsichtbar, natürlich, sie kann mich nicht sehen, ich bin ja tot. Ich habe vergessen, dass ich tot bin, und schon seit einer Weile, dachte er.
Marcel strich Eva über das Gesicht und ging durch die Wand zurück in sein Zimmer.

Ob alles in Ordnung wäre, fragte Anna. Steckte ihren Kopf durch die Tür und grinste. Nadja hatte frei. Anna war jung und meistens vergnügt.
"Ist ja noch nicht so lange hier", sagte Paul. "Die Fröhlichen bleiben hier nicht lang. Nach einem Jahr oder so gehen sie. Oder sind nicht mehr fröhlich. Ist halt nicht einfach mit uns." Und dann boxte Paul Marcel in die Rippen, und Marcel schubste ihn weg, und schon rollten die Beiden, schreiend ineinander verkeilt am Boden.

Anna wunderte sich nicht, wenn mal einer auf dem Boden schlief. Eigentlich waren die ziemlich cool, die Pädagogen, fand Paul. Ärger gab’s nur bei größeren Sachen. Der René zum Beispiel, war schon lange nicht mehr hier, der war nachts einfach nicht aufs Klo gegangen. Pinkelte in seine Zimmerecke. Da war er schon zwölf. Bis die das gemerkt hatten! Das hatte gestunken, ganz gewaltig, die Holzdielen waren an den Rändern schwarz und ganz wellig. Ein Fußbodenleger musste kommen, und René war dann irgendwann weg.

Annas Kopf verschwand aus der Tür. Marcel dachte an das, was Nadja gesagt hatte. Und dann fiel er ihm wieder ein: Justins Weinen. Und Martin in seinem Zimmer, und es klang ganz wie Evas Weinen, an dem Abend, als sie zum ersten Mal so lag, unter ihm, so weich, so vertraut.
Vor allem durfte er sich nichts anmerken lassen. Er versuchte aufzustehen. Es gelang ihm nicht gleich, Hände und Füße auseinander zu halten. War aber doch alles an seinem richtigen Platz: Gelenke und Knochen, jedes, wo es hingehört, die Knie klappen nach hinten und nicht nach vorn. Marcel stand. Er suchte sich ein frisches T-Shirt, ein Paar frische Socken. So konnte er hinuntergehen. Nur nicht auffallen.

Den Vormittag über hielt Marcel sich in der hinteren Ecke des Aufenthaltsraums auf, bei den anderen Kleinen, aber nicht zu nah an Justin, der ein paar Spielzeugautos herumschob, bis er anfing, sich mit einem von den Großen zu streiten. Martin vermied er ganz, sah ihn nicht einmal an. Martin durfte nicht wissen, dass Marcel es wusste.
Als Paul ihn aufzog, dass er schlecht geschlafen habe, weil Pauls Mama so schön ist, wurde Marcel wild. Die Beiden kämpften auf dem Boden, bis die Erwachsenen sie auseinanderbrachten.
"Was ist denn los?", fragte Anna und stellte Marcel und Paul auf die Beine. "Vielleicht schläfst du morgen mal zur Abwechslung im Bett!"
Da war Marcel schon aus der Tür, rannte die Treppe herauf. In seinem Zimmer legte er sich unters Bett. Manchmal half es, unter einem Möbel zu liegen. Marcel lag ganz still. Hielt die Luft an.
Wenn ich gar nicht mehr atme, dachte er, sterbe ich. Warum nicht.

Starr lag er da, als wäre er ein Möbel, ein Stück Holz. Dann begann sein Körper zu zucken, drehte sich hin und her, Marcel konnte ihn kaum halten, er schob sich der Luft entgegen. Marcel presste die Lippen zusammen, nicht atmen, so sehr es in ihm tobte.

Ich halte das aus, ich halte das aus bis zum Ende.

Im nächsten Moment schnappte er nach Luft.
Marcel wälzte sich auf dem Boden hin und her, die Hände auf die Ohren gepresst, kaputte Zirkusmusik. Wenn er sich schnell genug hin und her warf, schmerzte sein Rücken. Das beruhigte etwas.
Bis zum Mittagessen bleibe ich hier, beschloss er, werfe mich herum oder lasse meinen Hinterkopf ein paar Mal auf den Boden knallen.

Am Nachmittag war Gruppe. Sie saßen im Kreis, Justin Marcel direkt gegenüber. „Marcel“, sagte Anna, „alles in Ordnung? Du bist blass.“
„Justin ist blass!“, rief er, „Fragt den doch!“ Marcel spürte das Feuer in sich, sein Atem war heiß, er konnte hier alles in Brand stecken, das alte Gasthaus würde eine Fackel, der Kirchplatz taghell in der Nacht und die Fenster der Pizzeria nebenan zersprängen, wenn er sie herausließe, die Hitze in ihm.

Ich bin ein Drache und ich spucke Feuer.

Marcel sagte ganz langsam: „Oder fragt Martin, ob er weiß, warum Justin so blass ist.“
Er ließ sich seitlich vom Stuhl fallen, ganz langsam. Hielt die Augen geschlossen. Jemand weinte.

Anna entschied, dass Marcel krank war. Er wurde in sein Zimmer gebracht und ins Bett gelegt. Vielleicht bin ich wirklich krank, dachte er. Paul kam ab und zu herein und erzählte, dass Ilona da war, dass sie mit Justin gesprochen hat, dass Justins Mutter da war, dass Martin seine Sachen packte. Dass er weg war.
„Du bist ein Kind“, hörte er Nadja murmeln. „Du bist doch noch ein Kind.“
Es klang, als würde sie weinen. Marcel öffnete die Augen ein bisschen, nur einen Schlitz, da saß sie neben ihm auf dem Bett. Marcel schloss die Augen. Er musste wieder eingeschlafen sein, denn als er die Augen ganz öffnete, war Nadja nicht mehr im Zimmer. Die Tür hatte sie so leise zugezogen, er hatte es nicht gehört. Außerdem hatte sie heute frei.

Martin war weg. Es gebe eine Eins-zu-Eins-Betreuung für ihn, sagte Olaf: ein Erwachsener, der immer nur für ihn da ist. Marcel war neidisch. Justin redete nicht mehr mit ihm. Paul sagte, Martin hätte Justin eins nach dem anderen seine coolen Spielzeugautos geschenkt. Das war jetzt natürlich vorbei. Und das Feuerwehrauto, auf das Justin spitz war, hatte Martin jetzt mitgenommen in seine neue Betreuung.

Auch Nadja kam nicht wieder. Sie hatte eine andere Arbeit gefunden.
„Bessere Arbeitszeiten“, sagte sie, als sie die Kinder zum Abschied in die Eisdiele einlud. Marcel nahm ein Eis mit vier Kugeln, viermal Schokolade.
„Die sind nicht so schwierig wie wir, nicht wahr, die anderen Kinder“, stellte Paul fest. Nadja hob beide Hände und wuschelte Paul und Marcel gleichzeitig durch die Haare. Sie lachte. Marcel sah ihr ins Gesicht. Es stimmt, dachte er. Sie geht, weil wir so schwierig sind.

Wieder lag er auf dem Bett, wieder machte er sich flüssig. Das Feuer kam näher. Marcel hatte keine Angst. Marcel war flüssig. Die Flammen zischten und bogen sich nach hinten, sie schraken vor ihm zurück. An den Rändern wurde er heiß, kleine Blasen sprangen auf und verdampften. Von seinem Rand her löste er sich auf. Der Wasserfleck auf dem Bett, in der Form eines kleinen Jungen, neun, bald zehn Jahre alt, zog sich zusammen, die Form ging verloren, die dünnen Arme und Beine verschwanden zuerst. Die Stelle, wo der Kopf gewesen war, blieb am längsten. Die Flammen wurden mutiger, drängten sich zusammen, tanzten. Sie leckten einen kleinen Jungen von der Matratze. Wasserdampf im brennenden Zimmer. Der Dampf zog durch den Qualm hin zum gekippten Fenster und hinaus über den Kirchplatz, in den Kastanienbaum. Die Feuchtigkeit legte sich auf die Blätter, stieg auf durch die Zweige oder sank auf den Boden. Ein leichter Film legte sich auf die Fenster der Pizzeria; ein vorbeigehendes Kind malte ein Grinsegesicht auf die Scheibe.

 
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Ich lasse erstmal ein sehr kurzes Kommentar dar: Großartig. Absolut großartig. Da will ich mal hin, diesen flüssig, phantasievollen Stil, jenseits der Bedeutungsschwere. Fantastisch, mach weiter so ? LG kiroly

Nachtrag: Mit jenseits der Bedeutungsschwere meine ich deinen Stil. Nicht den Inhalt!

 

Hallo @Placidus,

was für eine grausame Geschichte! Du hast mich echt gepackt damit und mir stehen grad die Tränen in den Augen, weil diese Milieuschilderung, diese Einblicke in das Innere dieses Kindes und auch der anderen kommt mit solch einer Wucht, dass ich am liebsten den Kopf eingezogen hätte bei manchen deiner Formulierungen.
Dir gelingt ein ziemlich großer Wurf. In deiner Geschichte steckt nicht nur Marcels Schicksal mit all seiner Tragik, wobei ich erstaunlich reif finde, dass du an keiner Stelle erklärst, was mit Marcel los ist, sondern nur andeutest und nicht am Ende der Geschichte dich gezwungen siehst, es aufzuklären. Die Fragezeichen bleiben und das ist auch gut so, denn aus der Sicht Marcels sollen die Antworten ja nicht hochploppen. Diesen Charakter hast du durch und durch perfekt gestaltet und wenn gleich einzelne Textpunkte kommen, dann waren es aus meiner Sicht ein paar Formulierungen, bei denen du diesen Pfad verlassen hast.
Aber in der Gesamtsicht ist das schon eine "Mängelliste" auf verflucht hohem Niveau.

In dieser Geschichte steckt so irre viel, ich bin ganz erschlagen. Da ist diese feinsinnige Kritik am System, die in all den Gedankengängen der Kinder mitläuft. Einerseits muss man sich fragen, was sie durch die Unterbringung in solchen Einrichtungen gewonnen haben und ich fürchte, dazu würde praktisch jedes Kind sagen: nix.
Nein, damit will ich nicht dafür plädieren, solche Kinder bei ihren kaputten Eltern zu lassen, die Zustände laufen zu lassen und daran herum zu operieren, das kann es auch nicht sein. Es gibt da irgendwie kein pauschales Richtig oder Falsch, das wäre zu billig. Aber gerade das zeigst du auf. Diese Kinder werden einfach allesamt und ausnahmslos kaserniert und unterm Strich fördert das noch mehr Rebellion zu Tage. Für mich steckt in dieser Geschichte also auch die Tragik der Jugendämter, die nur nach Schema vorgehen und immer unter der belastenden Furcht stehen, mit ihrem Fehlverhalten von der Presse bloßgestellt und zerfetzt zu werden. Diese Einrichtungen benötigen einfach ein anderes Standing, eine deutlich flexiblere Ausrichtung und mehr Variationsbreite.

In dieser Geschichte steckt aber auch die Kritik an der mangelnden Fähigkeit vieler Erzieher und Betreuer. Dieser Satz mit der Fröhlichkeit ist ein bezeichnender. Weshalb verlieren sie wohl ihre Fröhlichkeit? Ganz gewiss auch, weil ihnen die nötige Resilienz fehlt und sie gelinde gesagt, eine Fehlbesetzung sind. Diese Kinder leiden unter ihnen und ihrer inneren und auch äusserlichen Flucht, wie du es so verdammt gut dargestellt hast. Eben auch das ist in dieser Geschichte enthalten.

Und dann finde ich beeindruckend gut gelöst, wie du die Stellung der Eltern mit einbringst.
Marcels Mutter will scheinbar keinen Kontakt mehr zu ihm. Warum wohl? Vermutlich, weil sie mehr als nur überfordert ist, wo bleibt da die Hilfestellung für die Mutter? Und mal ehrlich, ich weiß, das wirkt vielleicht ketzerisch, aber mir kommen eine Menge Fragen in den Sinn. Wieso erlaubt sich unsere Gesellschaft die auffälligen Kinder zu separieren, Kinder die allesamt nicht freiwillig so geworden sind? Wieso, wenn es Gelder dafür gibt, eine "Eins-zu-eins-Betreuung" für ein Kind zu schaffen, wieso gibt es nicht Gelder, ganze Familien zusammen in eine Einrichtung zu schaffen und ihnen Hilfestellungen zu geben?
Natürlich weiß ich bereits darauf eine von vielen Antworten: die Gesetzeslage erlaubt es nicht. Was hindert uns daran, dieses Gesetze zu ändern? Die Furcht aller Eltern, sie könnten in diese Einrichtungen geraten, wenn ihnen die Kinder aus dem Ruder laufen?
Du siehst, ich bin schon aus deiner Geschichte heraus bei systemrelevanten Fragen, wie es so schön seit dieser Pandemie heißt.

Mir hat irre gut gefallen, wie du das Innenleben deiner Protagonisten dargestellt hast. Du hältst perfekt die Kamera drauf, da wird gezeigt und nicht vorgekaut. Der Leser kann all die Grausamkeiten, die den Kindern passieren, die die Kinder untereinander anstellen und vor allem mit sich durchmachen, erleben, er kann hingucken oder auch nicht. Aber wenn man hinguckt, ist es kaum auszuhalten. Und das meine ich als Kompliment.

wenn Nadja die beiden Kleinen auseinandergebracht hat, und Martin endlich das Radio ausgemacht hat,
würde ein "hat" streichen und zwar das erste
das so eine Art Gutenachtkuss
Fehlt ein "ist"
sie fällt in leichten Schuppen ab
"ab" würde ich streichen, denn was fällt ist bereits ab.
Wie Blitze ziehen die Sterne an mir vorbei, und ich treibe zwischen ihnen, sicher im warmen Wasser meines Heizkessels.
super gut formuliert
Aber niemand spricht über meine Schwester, nicht einmal, wenn ich nicht da bin.
Der Kernsatz dieser Geschichte, soweit es um Marcel geht, nicht wahr? Gelungener geht so ein Satz nicht zu schreiben.
Früher hat mein „Heim“ gesagt.
Kinder haben oft die richtigen Fragen am Start. Was ist so schlimm am Namen "Heim", denn es soll ja wohl ein Heim für die Kinder sein oder? Aber dieses Frage-Antwort-Spiel der beiden ist vielschichtiger. Es geht ja nicht nur um die Bezeichnung an sich, sondern um die Frage, ob eine Umbenennung denn überhaupt etwas bewirkt und ob es sich nicht teils eingebürgert hat, Dinge einfach in Ordnung bringen zu wollen, wenn man sie umbenennt?
Ich denke an die elende Diskussion über bestimmte Worte in unserer deutschen Sprache.
Was ändert sich denn, wenn niemand mehr Mohrenkopf oder Negerkuss sagen darf?
Bin ich dann automatisch kein Rassist mehr, wenn ich Schaumkuss sage? Nur, um mal ein einprägsames Beispiel zu nennen. Auch diese Fragen wirft deine Geschichte auf.

".aber Martin hat mich am Arm festgehalten." (das sollte eigentlich ein Zitat sein) Mir ist hier deine Formulierung "am Arm festgehalten" zu neutral. Wenn ihm das wehtut, wieso schreibst du nicht packte, krallte, wie eine Schraubzwinge, irgendetwas, Anschaulicheres.

„die Sexuellen. Sind wir ja auch. Passt doch.“
Dieser Satz löst, da man ja den Begriff "Sexuellen" mehrfach deuten kann, jede Menge Gespanntsein, auf das, was da noch kommt, bei mir aus.
, aber ich habe mich ja im Heizungsrohr festgesetzt.
Dieser Satzteil wäre mir an dieser Stelle zuviel.
Das ist das Wichtigste: nicht darüber sprechen.
Genau eines von sehr vielen, hochgradig nachvollziehbaren Verhaltensweisen der Kinder (und auch Erwachsenen) und dein Marcel weiß es sogar lückenlos zu begründen. Aus seiner Kindersicht ist es die richtige Lösung seiner Sorgen. Und man fragt sich zusammen mit ihm, warum es immer anders sein muss. Warum muss immer erst drüber gesprochen werden, alles hochgeholt werden und brennen, wie er es so wunderbar sichtbar schildert?
Was, wenn man anders an solche Probleme heran geht und sie wirklich ins Schweigen schickt? Dafür aber einen neuen Boden, eine neue Grundlage schafft, dass solche Taten nie wieder passieren können. Dieses Kind hat doch nicht aus eiskalter Berechnung gehandelt.
Um beim Beispiel zu bleiben: der Boden dafür war vorhanden.

Statt dessen und auch das gibt diese Geschichte wieder für mich her, zeigst du deutlich auf, wohin diese Kinder sich bewegen, um zu überleben. Sie müssen pfiffiger sein als die Erwachsenen, die sie bewachen, denn überwiegend ist es eine Form der Bewachung und nichts anderes. Sie lernen in solchen Einrichtungen, zu überleben und dies auf eine ziemlich brutale Art und Weise. Und du zeigst diese Entwicklung schonungslos auf. All die Fragen, die ich mir stelle, hast du angeschoben.
Respekt vor deiner Geschichte. Sie bewirkt, mindestens bei mir, mehr als ich jemals erwartet hätte, als ich anfing, sie zu lesen.

Das sollten die Erwachsenen wissen, und nicht mehr über diese Sachen sprechen.
Er hat Recht. Verdammt Recht und keiner holt diesen Marcel genau dort ab. Alle huschen nur drumherum und lassen ihn wieder und wieder abtauchen. Man spürt, wenn noch etwas heil war an diesem Marcel, dann ist es auf dem besten Wege jetzt auch noch zu zerbrechen, weil einerseits nichts zu seinen Gunsten passiert, andererseits unser Betreuungssystem überhaupt nicht den Blick in diese Richtung zu lässt.
. Eva hatte mir versprochen, es niemandem zu sagen, und dann hat sie alles erzählt.
Und damit ist sie gleichzeitig, wenn sie später etwas älter wird und begreift, was sie gemacht hat, eine Schuldige, die sich vermutlich immer schuldig fühlen wird und gleichzeitig völlig unschuldig ist. Was für ein Dilemma für dieses Kind und was für eine Belastung, die sie künftig in ihrem Leben nun tragen muss.
Bei ihnen daheim wäre auch immer Geschrei gewesen.
Ich finde ziemlich gelungen, dass du offen lässt, wer da die Ursache für Geschrei gewesen ist. Da du die Mutter als ziemlich taff dahin stellst, kommt einem natürlich sofort die Frage in den Sinn, welche Show sie da unter Umständen abzieht. Wenn sie so einen aus dem Ruder laufenden Sohn hat, wieso ist er in dieser Einrichtung, wenn sie so perfekt wirkt? Das passt nicht. Und das meine ich nicht als Vorhalt dir gegenüber, sondern als Kompliment deiner Geschichte. Du zeigst die Lüge auf, die hier gelebt wird. Sehr gelungen!
Aber sie ist eine Randfigur und deswegen finde ich es klug, dass du genau diese Fragen unbeantwortet lässt, was bei Paul und seiner Familie los ist. So stellt sich ja genau die Welt der Erwachsenen für Kinder dar. Wir sind voller Widersprüche: wir ziehen uns gut an, riechen gut und parlieren fröhlich und sind nicht in der Lage unsere Kinder zu Hause behütet aufwachsen zu lassen.
Wie soll sich da ein Kind zurecht finden?
Marcel hat seine eigene Lösung dafür gefunden. Er therapiert sich selbst, in dem er abtaucht.
Ich habe bei meinen Tätigkeiten als Anwältin in Familienrechtssachen oftmals live erleben müssen, wie kleinste Kinder gezwungenermaßen, nämlich durch die elterlichen miesen Umstände hervorgerufen, zu kleinen weisen Erwachsenen wurden.
Eltern können auf sehr vielschichtige Weise den Kindern ihre Kindheit rauben und ich habe mich oft gefragt, ob nicht die subtile psychologische Gewalt schlimmer ist als die körperliche.
ich wollte wissen, ob es ihm auch recht ist, es ist ja seine Mama.
Er hat bereits gelernt, in so einer Einrichtung zu überleben. Ärger mit Paul, nur weil er freudestrahlend "JA" ruft, kann und will er sich nicht leisten. Insoweit hast du gut dargestellt, wie sehr sich Kinder verbiegen (müssen).
wie ein kaputter Zirkus schreien sie da unten
Passender Vergleich.
es ist ein Horrorfilm, aber wir schauen längst nicht hin.
Würde ich weglassen, weil an dieser Stelle ist mir Marcel zu sehr allwissend.
Freundlich, eigentlich, aber gar nicht wie Freunde.
Genau. Und sie werden, das hat er bereits gelernt, auch nie seine Freunde werden. Denn immer dann, wenn sie besonders sympathisch sind, sind es Betreuer oder Erzieher, die wie eine Kerze abbrennen und sich dann verbrannt zurückziehen und für die Kinder nicht mehr anwesend sind mit ihrer anfänglichen Fröhlichkeit oder aber sich auf einen nicht so stressigen Posten versetzen lassen. Und weshalb ist das so? Weil unser System im Grunde seines Herzens nie kinderorientiert oder gar kinderfreundlich ist. Wir sind Verwalter der Kinder und Kinder sind nichts, was man verwalten kann, ohne sie zu zerbrechen.
Und dann, als ich dachte, ja, es läuft, da hat sie gesagt, dass ich aber doch noch ein Kind bin.
Genau, schön Schranken aufzeigen, damit sich so ein Bub auch ja nicht ausser der Reihe tanzend benimmt. Da fällt sofort auf, dass der Ansatz bereits fatal ist. Aber ich mag all diesen Kräften von den Ämtern gar nicht so viel Schimpf und Schande gönnen, sie sind leider nur das Produkt unseres Staates und sie versuchen ganz oft, ihre Sache gut zu machen. Den Treibsand, in dem sie stecken, haben sie nicht selbst geschaffen.
Ein ordentlicher kleiner Junge.
Nein, diese Selbstbewertung passt hier nicht. Den Satz würde ich streichen.
hat sie mir schon vertraut und mich allein hineingehen lassen.
Ja, Marcel lernt Taktik, Tricks und pfiffiges Verhalten, um seine Interessen ein wenig wahren zu können. Du zeigst ziemlich brillant auf, wozu unser System geeignet ist.
Deswegen haben sie gedacht, es hat vielleicht einen Grund, dass sie so scheu ist, einen schlechten Grund. Der schlechte Grund. Das war ich.
Sieht er es wirklich so? Kann er es wirklich so sehen, dass er der Grund war? Ich habe mich an dieser Stelle gefragt, ob Marcel tatsächlich nichts getan hat, sich also nur schlicht um sein Schwesterchen gekümmert hat, aber sich selbst anklagt und zum stellvertretenden Sündenbock für alles, was in seiner Familie passiert, gemacht hat. Dann würde es passen.
Aber dann würde ich noch so einen Satz hinterher packen, dass seine Mutter ihm das auch immer vorgehalten hat.
Wenn er jetzt, weil du es anders meinst, wie ein kleiner Erwachsener, der schon ein paar Jahre Therapie hinter sich hat, spricht, dann fände ich es unpassend.

Die Fröhlichen bleiben hier nicht lang, sagt er auch.
Ja, was für ein treffender Satz mit Punktlandung, habe ja oben schon was dazu geschrieben. Von dieser Sorte hast du etliche Sätze in deiner Geschichte. Das ist echt gut.
als sie zum ersten Mal so lag, unter mir, so weich, so vertraut.
Also hier weist du auf den sexuellen Missbrauch hin, aber irgendwie so seicht, dass es offen für mich bleibt und genau das finde ich hervorragend. Denn im Grunde ist es völlig egal, was genau Marcel getan hat, er ist und bleibt ein im Kern unschuldiges Kind, das wie ein Ausgestoßener reagiert und agiert. Wie alle diese Kinder in der Einrichtung.
Wir kämpfen auf dem Boden, bis die Erwachsenen uns auseinanderbringen.
Ja, um die eigenen Sorgen nicht hochploppen zu lassen. Sehr leicht zu durchschauen, durch dein hervorragendes Show!
Bis zum Mittagessen bleibe ich hier, werfe mich herum oder lasse meinen Hinterkopf ein paar Mal auf den Boden knallen.
Und auch, dass er diese Dosis Ablenkung gehörig erhöhen muss, damit er nicht Gefahr läuft, bestimmte Gedanken zu bekommen, zeigst du eindrucksvoll.
Die Tür hat sie so leise zugezogen, ich habe es nicht gehört. Außerdem hat sie heute frei.
Als Betreuer und Erzieher denkt man vielleicht oftmals, dass diese Kinder so verroht sind, dass sie viel nicht mitbekommen, weil es sie nicht tangiert oder interessiert. Dabei zeigst du hier fast schon enttarnend gut auf, wie sehr sich die Kinder für ihre Betreuer interessieren. Die bekommen mehr mit als diese ahnen, wie z.B. dass Marcel den Dienstplan vermutlich besser kennt als die Betreuerin selbst.

Ich bin immer noch ganz erschlagen von dieser guten Wucht an guten Sätzen und Einsichten und Einblicken dieser absolut hervorragenden Geschichte.


Lieben Gruß

lakita

 

Hallo Placidius,

wieder eine Empfehlung durch Lakita, da wollte ich mal schauen, was es damit auf sich hat.
Ein eindringlicher Text. Sprache ist zurückhaltend. Der Fokus liegt auf dem Erleben Marcels. Eine wirklich gute Story, für mein Empfinden. Die Empfehlung ist auch verdient (Dank an Lakita). Ein Fragezeichen über 'die Sexuellen'. Bei mir spielt sich da ein zweiter Film ab. Das ist auch gut so, denke ich. Aber es löst sich davon nichts auf und dadurch bleibt es für mich eine Konstruktion, die ihre Logik/Motivation nicht verrät. Das würde ihr aber gut tun, auch wenn das sicher schwer ist (oder die Story verrät, was und wie es gemeint ist, und ich habe es nur überlesen).

das so eine Art Gutenachtkuss

hat Lakita schon drauf hingewiesen

Man kann die Farbe mit dem Fingernagel abkratzen, sie fällt in leichten Schuppen ab und darunter ist wieder weiße Farbe.

Das macht viel auf

Früher hat mein „Heim“ gesagt

"man"

Ich hatte das nicht gedacht, dass „Heim“ schrecklich klingt.

Dieser Satz ist nicht gut, finde ich. Zwar greifst du wieder PQP auf, was dem als überaus vollendete Vergangenheit etwas kindlich Spitzfindiges oder Schulgelerntes und darin Authentisches verleiht. Aber der Satz ist irgendwie voll und recht wirr aufgebaut.

„Die Sexuellen kommen.“,

ohne Punkt

lustig:“,

ohne Doppelpunkt

Wie ein Brand, ein Waldbrand, wie neulich im Fernsehen, jemand lässt eine Zigarette liegen und drückt sie nicht aus oder nicht richtig aus, und dann brennt der Wald und die Bäume stürzen ein, die Tiere müssen rennen, aus dem Wald heraus, aber das Feuer ist schnell, es kriecht über den Boden, es springt von Ast zu Ast. Sie schaffen es nicht, die kleinen Tiere sind nicht schnell genug, sogar die Vögel verbrennen in ihren Nestern.

hat mir gut gefallen

Es geht ja nicht nur um die Bezeichnung an sich, sondern um die Frage, ob eine Umbenennung denn überhaupt etwas bewirkt und ob es sich nicht teils eingebürgert hat, Dinge einfach in Ordnung bringen zu wollen, wenn man sie umbenennt?
Ich denke an die elende Diskussion über bestimmte Worte in unserer deutschen Sprache.
Was ändert sich denn, wenn niemand mehr Mohrenkopf oder Negerkuss sagen darf?
Bin ich dann automatisch kein Rassist mehr, wenn ich Schaumkuss sage? Nur, um mal ein einprägsames Beispiel zu nennen.

Kurz hierzu. @lakita , inhaltlich will ich dir in deinen Kommentar gar nicht reingrätschen. Nur hier ein bisschen :p Das ist so ein Spruch, den ich nicht nachvollziehen kann. Natürlich macht es einen Unterschied. Hast du nicht selbst in 'die Linien im Wasser' den Gebrauch des Jiddischen mit negativen Assonanzen durch Jimmy moniert? Oder verstehe ich dich gerade falsch?


Placidus. Ein wirklich sehr schöner Text. Danke dafür.
Lieben Gruß
Carlo

 

Hallo,

ich weiß nicht, ich habe ein Problem mit dem Alter des Erzählers. Er dürfte laut Text nicht älter als zwölf Jahre alt. Ich denke: So spricht kein Zwölfjähriger. Nicht so reflektiert, so zugespitzt, so prosaisch, so zusammenhängend erzählend, so ausgewählt. Der klingt wie aus einem Text von Tschechow, da nehme ich ihm vieles nicht ab, der wirkt zu erwachsen, überall lese ich die Intention des Autoren.

Sie denken, wir Kinder hören sie nicht, aber ich habe mich ja im Heizungsrohr festgesetzt.

Das ist im Grunde eine ähnliche Konstruktion wie in deinem anderen Text mit dem Bergsteiger, da war es Traum und Realität. Hier verschränkst du das Wissen, das der Erzähler aufgrund seines Alters und seiner Position nicht haben dürfte, mit einem narrativen Trick, nämlich dass er sich flüssig machen kann. Warum? Was genau ist der Zweck dieses Tricks? Damit die andere Seite erzählt werden kann, die der anderen Kinder, der Betreuer, das Geheimnis? Damit es zwei Pole gibt, zwischen denen die Geschichte dann oszilliert, sich irgendwie fortbewegt? Ist das nicht etwas arg manipulativ? Für mich ist das erstens eine erzählerische Abkürzung, und zweitens wäre es für mich auch eine ethische Frage, ob ich bei der Schwere dieses Themas mit solchen Tricks arbeiten wollten würde bzw müsste. Mir würde das nicht leicht fallen. Würde dieses Flüssigmachen eine Symbolkraft haben, wäre es ein Zeichen im Text, würde es sagen: Ich mache mich flüssig, weil ich fliehen möchte vor dieser unfassbaren schwierigen Situation, vor mir selbst, in eine Art Traumwelt oder was weiß ich - das könnte ich nachvollziehen. Hier ist es aber eine Bedingung des Textes selbst. Hier wird eben durch dieses Flüssig machen Wesentliches erst sagbar, erzählbar. Weil ich stelle mir auch die Frage: Was wird mir hier eigentlich erzählt? Ja, sicher, hier wird viel angerissen, Mißbrauch, die vertrackte Situation der Ämter in Bezug auf die Familien, die Selbstwahrnehmung der Kinder, Einsamkeit, Gewalt, der weitergehende Mißbrauch untereinander (da herrscht übrigens bei mir direkt Klischee-Alarm), die überforderten Betreuer etc ... aber wirklich zuende geführt wird da nichts, das sind alles nur Teaser, die dann im Vagen bleiben, auslaufen, im Grunde beliebig bleiben. Am stärksten ist der Text, wenn es tatsächlich um Marcels eigene Geschiche geht, um Eva. Da bleibt bei mir leider eine große Leerstelle. Da würde es sich für mich lohnen, wirklich reinzugehen, das Ganze tatsächlich ausbreiten, nicht nur nachzuerzählen. Was passiert mit dem Jungen genau, was ist er gefragt worden und von wem genau, wie reagiert er darauf, was ist mit Eva, wie erklärt er sich selbst sein Verhalten und wenn nicht, warum tut er das nicht, und wollte er vielleicht erwachsen spielen, weil er sich schon erwachsen verhält, und gehörte das dazu, woher hat er das überhaupt, hat er seine Mutter eventuell beobachtet beim Sex, beobachten müssen? Der Text erzählt das alles passiv durch und aus der Figur Marcels, und dann werden seine subjektiven flüssig machenden Beobachtungen eingefügt, um eine Art Panoptikum, ein breiteres Bild zu schaffen, das wirkt schon fast wie eine Meta-Ebene auf mich, und dadurch erhöht sich auch die Distanz, für mich wirkt keiner der Charaktere irgendwie echt und fassbar, die wirken wie durch einen Filter gesehen, kommen nie durch eine Oberfläche hindurch. Verkürzt würde sich sagen lassen, dass hier schon der implizite Leser mitgedacht wurde, das sind ein paar Key-Wörter drin, ein paar Tropen, die einen einfach anrühren müssen. Diese Ausweglosigkeit, die Hoffnungslosigkeit, das Drama trotz Bemühen, Schuld, Unschuld, weitere Sünden, die Überforderung der Erwachsenen, die Flucht aus der kindlichen Welt - da wäre man ja ein herzloses Schwein, wenn einen das nicht anfassen würde. Das war auch mein Fazit so ein wenig zu deinem letzten Text, der drückt halt ganz kräftig auf die emotionale Blase, der behauptet Tiefe, aber dann bleibt es nur bei einem Erregungsfaden, der nie verknotet wird, und für mich wenigstens fühlt sich das immer nach einem Effekt an. Ich finde, der Text hätte das gar nicht nötig.

Gruss, Jimmy

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Placidus,

wieder mal ein starker Text aus deiner Feder. Ich fand ihn ausdrucksstark und stilistisch einwandfrei verfasst. Der sprachliche Ausdruck des 9 bis 10jährigen Jungen darf moniert werden, seine leichte Erwachsenenprägung hat mich aber nicht gestört. Insgesamt eine fein komponierte Story mit enormem Tiefgang. Das kann schon was!

Anbei: Wäre nett, wenn du die letzten Kommentare unter deiner empfohlenen Vorgängergeschichte auch noch kommentieren würdest. ;)

„Die Sexuellen kommen.“, hat
Punkt weg

Und der Eisdielenmann hat uns zum Abschied zugewunken.
Umgangssprache. Feiner: zugewinkt

„Ist doch lustig:“, sagt Paul,
Doppelpunkt weg.

Ich war stolz, bei den beiden zu sitzen, und dass alle sahen, dass wir Spaß hatten.
Hier ließen sich beide dass vermeiden, wenigstens aber eines davon.

Endlich geht sie, habe ich gedacht, als sie durch die Tür ist.

Da habe ich ihr nett aus dem Eingang zugewunken,
zugewinkt

Marie stürzte hinaus, sie muss(te) mich vom Fenster aus gesehen haben.
heraus

Ich reiße mich los, renne die Treppe herauf.
hinauf

Ich wälze (mich) auf dem Boden mich hin und her.

„Die sind nicht so schwierig wie wir, nicht wahr, die anderen Kinder.“ stellt Paul fest.
Komma, statt Punkt.

Ausgesprochen gerne gelesen!
Manuela :)

 

Hi @Placidus,

Der Text scheint mir extrem effektiv darin zu sein, Mitleid zu erzeugen. Die Thematik, die kindliche Erzählweise, das Bild des Zerfließens, die Erkenntnis, dass die Mutter den Protagonisten verstoßen hat, alles wirkt darauf optimiert, dem Leser die Tränen in die Augen zu treiben. Daraus ergibt sich auch mein Kritikpunkt: Ich hätte mir irgendeine Wendung gewünscht. Ein wenigstens kleiner Ausbruch aus der Wandlung vom bemitleidenswerten Protagonisten zum noch bemitleidenswerteren Protagonisten.

Geschrieben ist der Text sehr gut, auch wenn ich mich an einigen Stellen gefragt habe, ob ein Neunjähriger so denken würde. Auch die verwendeten Bilder sind mE sehr gelungen.

Habe den Text gerne gelesen!

Beste Grüße

Klamm

 

@kiroly DANKE DIR! Besonders für diesen ersten Kommentar. Wenn es flüssig klingt, umso schöner, denn es war echt nicht einfach zu schreiben.
Ganz lieben Gruß
Placidus

@lakita
Vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar! Und das genaue Lesen! Ich hatte beim Schreiben die Sorge, dass der Text eigentlich zu kurz ist für das Thema. Ich habe vor Jahren mehrere Projekte in dieser kleinen Einrichtung für sexuell übergriffige Kinder geleitet. Das war schwer, und es war auch immer schwer, darüber zu sprechen. Ich glaube, zu einem gewissen Grad teile ich Marcels abergläubisches Misstrauen gegen das Aussprechen von Dingen. Schreiben ist da ein guter Kompromiss...
Deine grundsätzlichen Bedenken diesen Einrichtungen gegenüber kann ich nur zustimmen. Gerade diese Kinder werden immer noch wie eine Peinlichkeit von Institution zu Institution geschoben, bis sie alt genug sind, eine vollwertige Straftat an einem anderen Menschen zu begehen und dann in Gefängnissen, forensischen Psychiatrien und anderen Verwahrungen zu verschwinden.
Aber genau darum ist mein Verhältnis zu dieser speziellen Einrichtung ganz ambivalent. Wenn dort gelingende Beziehungsangebote gemacht werden, dann hat nicht nur das Kind selbst eine Chance, sondern auch das potentiell spätere Opfer. Auch was die Mitarbeiter angeht: Sie leben mit dieser Ambivalenz, die Arbeit ist schwer, die Arbeitszeiten sind hart, wenn man den Kindern zu nahe kommt, leidet man unweigerlich. Und dann können sie von dem Geld kaum leben. Hohe Fluktuation ist also vorprogrammiert.
Und ja, immer wieder, der unglaubliche Gegensatz: diese Kinder sind Kinder und als solche definitiv unschuldig, und gleichzeitig sind sie Täter. Ich werde das, glaube ich, doch ein bisschen deutlicher machen. Ich wollte nicht zu sehr draufdrücken, aber naja, man kann aber auch zu diskret sein.
Ich habe die meisten deiner Vorschläge direkt umgesetzt. An die Sache mit "der schlechten Grund, das war ich" werde ich rangehen, wenn ich Eva ein bisschen klarer ins Spiel gebracht habe, vielleicht bei seinem letzten Besuch im Kindergarten.
Nochmal ganz lieben Dank!!!
Placidus

@Carlo Zwei
Hallo Carlo,
Danke für deinen Kommentar! Es scheint, dass ich das mit den Sexuellen klarer machen muss: Alle Kinder in der Einrichtung haben andere Kinder sexuell missbraucht. Mal schauen, wo ich das diskret einfüge...
Die Korrekturen habe ich umgesetzt, danke dafür! Immer wieder toll wie genau hier gelesen wird. Sehr peinlich, dass ich die wörtliche Rede immer noch verkorkse.
Lieben Gruß
Placidus

@Manuela K.
Hallo Manuela,
und danke für deinen Kommentar und für deine Korrekturen. Ich hab sie schon umgesetzt und werde mich als nächstes den vernachlässigten Kommentaren zur Isolée zuwenden, entschuldige bitte, dass das untergegangen ist!!!
Lieben Gruß
Pkacidus

@jimmysalaryman
Hallo Jimmysalaryman, und danke für deinen jetzt schon zweiten Kommentar. Ich werde mich umgehend revanchieren!!!
Ja, es ist festzustellen, dass wir beide beim Schreiben sehr unterschiedliche Ansätze haben. Für mich ist Realismus nicht notwendig naturalistisch. Gerade in dieser Geschichte, wo wir mit einem Kind zu tun haben, entscheide ich mich, ihm eine Tür zu einem magischen Aspekt der Wirklichkeit zu öffnen. Du monierst die mangelnde Kindlichkeit - und dann die Magie!
Bei l'Isolée war es natürlich eine sehr freihändige Entscheidung, die Agonie dieses sterbenden Freundes von mir mit einer Bergtour zu füllen. Das war auf eine Art auch frech, und ich habe mich noch nicht getraut, L'Isolée irgendwem aus der Familie des Toten zu zeigen...
Was Naturalismus und Realismus angeht - nunja. Ich weiß, dass es insgesamt heutzutage nicht gern gesehen wird, die Wahrnehmung der fünf Sinne zu verlassen. Man scheint sich dafür auch ganz anders rechtfertigen zu müssen. Es wird ein"Trick", der vielleicht "manipuliert". Natürlich bezwecke ich etwas mit meiner Geschichte. Ich möchte eine Institution vorstellen, die einen winzigen Angelpunkt unserer Gesellschaft bildet: Der Ort, an dem zukünftige Sexualstraftäter aufgehoben werden. Und ich möchte zumindest eine Tür dafür öffnen, dass wir ein Weilchen mit einem Kinderschänder sympathisieren. Es scheint, dass ich das nicht klar genug gemacht habe. Ich bin, was das angeht, an meinem Text jetzt sehr am rúmschrauben, um deutlicher zu werden, ohne auf der Tränendrüse rumzudrücken, was bei dem Thema natürlich nicht ganz einfach ist. Und das ganze Unterfangen muss nicht gelingen. Es gibt sicherlich hundert andere Arten, diese Institution zu beschreiben. Vielleicht bessere. Soweit ich weiß, ist dieser Text aber der erste, der sich mit diesem Thema überhaupt auseinandersetzt. Denn wir sind hier tatsächlich auf der untersten Stufe der Gesellschaft. Diese Kinder haben keine Lobby. Sie werden als nächstes "weggesperrt" "Für immer". Wie es unter Schröder hieß.

Ich habe in dieser Einrichtung gearbeitet, keine der Figuren und keine ihrer Geschichten sind erfunden. Testweise habe ich die Geschichte, bevor ich sie euch präsentiert habe, der Leiterin dieser Einrichtung zu lesen gegeben, um ganz sicher zu gehen, dass alles korrekt erzählt ist.

Sehr inspirierend zum Thema Realismus ist für mich Brecht, vor allem in den späteren Texten zum Theater. Auch im Theater hat der Realismus z.b. eines Ravenhill mE letztlich dazu geführt, dass ärmere Schichten von den reicheren Theatergehern erst recht als asozial abgestempelt werden. Brecht öffnet daher den Begriff des Realismus, naja, entsprechend dem, was seinem Programm dient (Vorsicht: Manipulation!): den Zuschauern/Lesern Veränderung wünschenswert erscheinen zu lassen. Zu wünschenswert gehört vermutlich machbar. Aber das ist ein ganz weites Feld, ich bin hier schon für meine Verhältnisse ganz schön in die Breite gegangen!
Dir einen schönen Abend
Gruß
Placidus

@Klamm Danke für deinen Kommentar!
Mitleid war so gar nicht meinZiel (dann hätte ich Martin zum Protagonisten gemacht...)
Ich muss wohl ein paar Sachen in dem Text noch klarer stellen.
Danke jedenfalls fürs Lesen,
LG
Placidus

 

Ich wollte nicht zu sehr draufdrücken, aber naja, man kann aber auch zu diskret sein.
Yepp. Ich finde du solltest ruhig ein wenig draufdrücken, um die "Sexuelle Komponente" klarer darzustellen. Sie schwebt über dem Text, wird aber nirgendwo konkret. Fast habe ich das Gefühl, der Autor weicht dieser Konfrontation aus.

My ten cent

 

Wir sollten ein paar Dinge klarstellen.

Du monierst die mangelnde Kindlichkeit - und dann die Magie!
Ich moniere gar nichts. Ich habe dir eine Meinung zu einem Text geschrieben, nicht mehr und nicht weniger. Ich moniere auch nicht die Magie, sondern wie sie in deinem Text eingesetzt ist. Das ist, wie ich finde, ein großer Unterschied.

Und ich möchte zumindest eine Tür dafür öffnen, dass wir ein Weilchen mit einem Kinderschänder sympathisieren.
Kinderschänder ist eventuell das falsche Wort. Er ist ja selbst noch ein Kind, und ja, mich würde brennend interessieren, wie sehr du dich tatsächlich für dieses Kind und sein Wachsen und So-Werden als Autorin interessierst, wie viel Empathie da vorhanden ist, wieviel Verstehen, und wie du uns diese Ambivalenz einfühlsam verstehbar machen würdest, aber da ist eben leider eine große Leerstelle. Es liegt auch daran, dass ich selbst, wie man heute sagen würde, "Überlebender" sexueller Gewalt bin, daher lese ich Texte in dieser Richtung häufig (und natürlich auch kritisch.)

Ich weiß, dass es insgesamt heutzutage nicht gern gesehen wird, die Wahrnehmung der fünf Sinne zu verlassen. Man scheint sich dafür auch ganz anders rechtfertigen zu müssen. Es wird ein"Trick", der vielleicht "manipuliert".
Das sehe ich anders. Stanisic verlässt in seinen Büchern regelmässig die fünf Sinne, da spricht das Wasser oder ein Fuchs, oder Clemens Setz, Paul Auster, Bolano, oder, oder oder ... Lege mir also bitte nichts in den Mund. Ich habe nicht von dir verlangt, dich zu rechtfertigen. Ich habe dir eine Meinung geschrieben und dir einige grundsätzliche Fragen zu deinem Text gestellt, den ich für sehr auf Effekt geschrieben halte. Das ist, wie so oft, sicher eine unpopular opinion, aber über zu wenig Lob kannst du dich hier sicher nicht beschweren.

Ich habe in dieser Einrichtung gearbeitet, keine der Figuren und keine ihrer Geschichten sind erfunden. Testweise habe ich die Geschichte, bevor ich sie euch präsentiert habe, der Leiterin dieser Einrichtung zu lesen gegeben, um ganz sicher zu gehen, dass alles korrekt erzählt ist.
Das spielt keine Rolle, ob das Fiktion oder die Realität ist oder war. Auch wenn du das jetzt zu deinem ersten Bergsteigertext nachschiebst, dass dieser genauso wahr gewesen sei, wie du es hier tust - das macht einen Text noch lange nicht automatisch gut, wahrhaftiger oder authentischer. Mich lässt das tatsächlich eher unbeeindruckt, denn viele meiner eigenen Texte beruhen ebenfalls auf einem wahren, echten, authentischen Kern, mir würde aber im Traum nicht einfallen, das irgendwo zu erwähnen, weil ein Text für sich alleine stehen und nicht durch eine Echtheitsbehauptung aufgewertet werden sollte. Aber auch das ist nur meine bescheidene Meinung.

Ich habe weder Brecht noch diesen anderen Typen gelesen, ich komme aus dem, was du wahrscheinlich eine bildungsferne Familie nennen würdest. Klassismus hat es und wird es immer geben, ich erlebe ihn oft genug am eigenen Leib, dafür habe ich sehr feine Antennen entwickelt. Ich nehme den anmaßenden und belehrenden Tonfall in deinem Kommentar also recht deutlich wahr. Zu einem dritten Kommentar meinerseits wird es also kaum kommen.

 

@jimmysalaryman
Hallo jimmysalaryman,
wenn ich dich mit meiner Antwort verletzt oder irritiert habe, tut mir das sehr leid. Es war ganz sicher nicht so gemeint.
Dir alles Gute
Placidus

 
Zuletzt bearbeitet:

@Manuela K. Hm. Da könntest du recht haben.:)
Dann macht sich die Autorin jetzt mal daran, sich der Konfrontation zu stellen...

 

Hallo @Placidus

Sorry, aber ich gehe in meinem Kommentar nicht auf einzelne Textpassagen ein, sondern auf einige deiner Aussagen.
Ich denke, du beteiligst dich ohnehin am liebsten am Diskurs über deinen eigenen Text und nicht so sehr an den placidusfremden Wortkriegerbeiträgen. Würde man deinen Nicknamen aus dem Lateinischen übersetzen, käme wohl so was wie: der Gefällige raus, nun ja, selbstgefällig würde ich nicht übersetzen, das wäre dann doch zu viel, zumal der Name vielleicht bewusst so gewählt ist, vielleicht nicht.

Positives:
Ich kann gut verstehen, warum dieser und der Bergsteiger-Text bei dem einen oder anderen Zustimmung gefunden hat: Rührung erregen ist ein gutes Design-Element dafür.
Zumal deine Geschichten elegant geschrieben sind, ein feines sprachliches Niveau aufweisen.

Bei beiden Texten habe ich dennoch ganze Passagen übersprungen, musste gegen das Einschlafen ankämpfen, weil sie weitgehend um obengenannte Zielsetzung kreisen und mir (!) die literarische Tiefe gefehlt hat.

Und ich möchte zumindest eine Tür dafür öffnen, dass wir ein Weilchen mit einem Kinderschänder sympathisieren. Es scheint, dass ich das nicht klar genug gemacht habe. Ich bin, was das angeht, an meinem Text jetzt sehr am rúmschrauben, um deutlicher zu werden, ohne auf der Tränendrüse rumzudrücken, was bei dem Thema natürlich nicht ganz einfach ist.
Okay, fein, nur taugt dafür eine Ich-Persepektive nicht, besonders dann nicht, wenn du den Abgründen der Gedanken deines Protagonisten regelmäßig ausweichst, insofern bleibt nur Tränendrüse.
Es gibt sicherlich hundert andere Arten, diese Institution zu beschreiben. Vielleicht bessere. Soweit ich weiß, ist dieser Text aber der erste, der sich mit diesem Thema überhaupt auseinandersetzt.
aha, wozu taugt dieser Hinweis? Innovation?
Ich habe in dieser Einrichtung gearbeitet, keine der Figuren und keine ihrer Geschichten sind erfunden. Testweise habe ich die Geschichte, bevor ich sie euch präsentiert habe, der Leiterin dieser Einrichtung zu lesen gegeben, um ganz sicher zu gehen, dass alles korrekt erzählt ist.
ehrlich gesagt spielt es keine Rolle, ob du dort gearbeitet hast, was die Leiterin sagt oder gibt's Transkripte der Gedanken deines Protagonisten, einschließlich der breit ausgetretenen Verflüssigung? Ich lese eher die Vorstellung des Autors über die Stimme der Figur.
Sehr inspirierend zum Thema Realismus ist für mich Brecht, vor allem in den späteren Texten zum Theater. Auch im Theater hat der Realismus z.b. eines Ravenhill mE letztlich dazu geführt, dass ärmere Schichten von den reicheren Theatergehern erst recht als asozial abgestempelt werden.
oha: Brecht, so so, dann hättest du mal darüber nachdenken können, wie du die Charaktere verfremdest, wie Distanz aufkommt, denn darin besteht das Konzept des Epischen Theaters. Weit weg von einem Mackie Messer, die Figur.
Ravenhill, woher hast du den Namen? Ich habe den gegoogelt und einen Theatermann gefunden, der was zur theoretischen Diskussion beigetragen hat?
Brecht öffnet daher den Begriff des Realismus, naja, entsprechend dem, was seinem Programm dient (Vorsicht: Manipulation!): den Zuschauern/Lesern Veränderung wünschenswert erscheinen zu lassen. Zu wünschenswert gehört vermutlich machbar. Aber das ist ein ganz weites Feld, ich bin hier schon für meine Verhältnisse ganz schön in die Breite gegangen!
Sozio-intellektueller Kitsch, das ist die Gefahr. Wenn du gute Texte schreiben willst braucht es mehr, klingt jetzt hart, meine ich aber als Rat, wer hat schon was von Claqueuren.
Was Naturalismus und Realismus angeht - nunja. Ich weiß, dass es insgesamt heutzutage nicht gern gesehen wird, die Wahrnehmung der fünf Sinne zu verlassen. Man scheint sich dafür auch ganz anders rechtfertigen zu müssen. Es wird ein"Trick", der vielleicht "manipuliert".
Finde ich nicht, Magie öffnet Welten, davon dürfte es ruhig mehr geben. Und Magie findet sich mithilfe der Sinne.

Fazit: kürzen und schärfen, echte Figuren, sich nicht ausschließlich auf Sprache und das Erzeugen von Tränenwirkung verlassen.

viele Grüße aus dem Taunusabend
Isegrims

 

Ich kann gut verstehen, warum dieser und der Bergsteiger-Text bei dem einen oder anderen Zustimmung gefunden hat: Rührung erregen ist ein gutes Design-Element dafür.
Ich kommentiere normalerweise keine Kommentare anderer, aber hier komme ich nicht umhin. Die beiden bisherigen Texte von Placidus auf "Rührung erregen" zu reduzieren, empfinde ich als einäugige Sicht, wenn nicht gar borniert. MAn handelt es sich in beiden Fällen um aus der Masse herausragende Texte, sowohl in inhaltlicher wie sprachlicher Hinsicht.

MfG

Anbei: Gratulation zur Empfehlung!

 
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MAn handelt es sich in beiden Fällen um aus der Masse herausragende Texte, sowohl in inhaltlicher wie sprachlicher Hinsicht.
Das ist deine Meinung, andere haben eine andere Meinung. So ist das eben. Und niemand reduziert hier etwas, sondern es wird konstruktiv über einen Text diskutiert, bzw versucht. Leider werden viele Fragen bezüglich der Perspektive oder der allgemeinen Konstruktion des Textes, was Erzählhaltung etc angeht, vom Autoren einfach schlicht ignoriert. Vielleicht ist es auch so, dass sich andere Kommentatoren regelrecht ertappt fühlen, wenn man vollkommen zu Recht anmerkt, dass der Text recht deutlich auf Effekt geschrieben wurde und sie diesem ersten, emotionalen Impuls direkt erlegen sind. Andere sind da vielleicht nicht ganz so schnell zu beeindrucken. Für mich sind solche Texte eine Form der Literatur, die Preise gewinnt: gefällig, Tiefe simulierend, aber im Grunde immer an der Oberfläche bleibend, die tut nie weh. Da können alle gepflegt schluchzen und sich gegenseitig versichern, wie schrecklich das doch alles ist. Würde mir dieser Text aus der tatsächlichen Sicht des Kindes, des "Täters" erzählt, wie und warum er seine kleine Schwester mißbrauchen musste oder gar nicht anders konnte, wenn diese Aussichtslosig- und Hilflosigkeit versucht würde, narrativ darzustellen, wäre das etwas anderes. Aber hier bekommen wir ein Panoptikum serviert, das uns eine Gänsehaut erzeugen soll, ein Text der mit Betroffenheitstropen arbeitet und den Leser geschickt einlullt. Das beginnt schon mit der Sprache des Erzählers: Welches Kind spricht so? Fragen danach bleiben aber unbeantwortet. Ebenso aus welchem Grund da mit einer magischen Realität gearbeitet werden muss, die uns wesentliche Textebenen erst erschließen lässt.

Ich weiß, wir tun alle so, aber Ambiguität aushalten ist halt in echt wirklich schwer. Ich kann mit dem Dissens gut leben. Und anderen Kommentatoren Einäugigkeit und Borniertheit vorzuwerfen, nur weil sie einfach eine andere Meinung haben bzw davon abweichen ... das ist eben auch schon ein klein wenig borniert, findest du nicht?

Und noch etwas: Jemand, der angeblich in dieser Einrichtung und mit diesen Kindern gearbeitet hat, jemand der also die Schicksale derer kennen sollte und sich doch so nobel für diese interessiert - warum benutzt eine fachlich kompetente Person einen so problematischen und besetzten Begriff wie "Kinderschänder?"

 
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@Isegrims Hallo Isegrims und danke für deinen Kommentar. Dass dich meine Geschichten gelangweilt haben, ist sehr interessant für mich. Auch die Frage, ob ich eine Einrichtung tatsächlich am besten aus der Ich-Perspektive beschreibe.
Ich überlege sehr, auch nach @klamms Kommentar, die Sache noch einmal von einer anderen, nämlich Martins Seite aus aufzuziehen. Das würde sicherlich sehr anders ausfallen, und ein Ich-Erzähler käme nicht infrage.
Ich werde mir ein bisschen Zeit lassen dafür.
Das Ende habe ich geändert, vielleicht wirkt es auf den einen oder Anderen weniger tränendrüsig.

Insgesamt möchte ich dich und @jimmysalaryman darum bitten, nicht meinen Charakter zu verhandeln, sondern beim Text zu bleiben. Fragen nach meiner Selbstgefälligkeit oder Vermutungen darüber, ob ich arrogant bin, sind hier nicht am Platz.
Um trotzdem auf deine Frage antworten: Der Name Placidus ist einfach der Mädchenname einer Urgroßmutter, die ich nicht gekannt habe. Ich weiß auch nicht mehr, warum ich ihn gewählt habe. Wenn man die Namen hier nachträglich ändern kann, ich würd's sofort tun, denn ich denke, dass auf manche "Placidus" vielleicht gewollt lateinisch, bildungsbezogen oder lehrerhaft wirkt.
Dass ich nicht sehr aktiv hier bin, hängt daran, dass ich so schon sehr schüchtern bin und das Kommunizieren mit Menschen, die ich nicht kenne und nicht sehe, sehr, sehr schwierig finde. Obwohl, wir haben uns ja kurz gesehen. Ich fand deine Bemerkungen zum autobiographischen Schreiben sehr hilfreich, an das Thema habe ich mich nämlich noch nicht gewagt, werde es aber vielleicht eines Tages, deinen klugen Warnungen zum Trotz, tun.
Viele Grüße
P.

 

Fragen nach meiner Selbstgefälligkeit oder Vermutungen darüber, ob ich arrogant bin, sind hier nicht am Platz.
Vielleicht hast du dich geirrt oder nicht richtig gelesen. Ich jedenfalls habe nirgendwo in meinen Kommentaren etwas über Selbstgefälligkeit oder Arroganz deinerseits vermuten lassen, ich bleibe immer am Text. Ich weise dich nochmals höflich daraufhin, mir bitte nichts in den Mund zu legen oder zu unterstellen, denn das habe ich nicht getan. Auch die Bedeutung deines Nicknamens ist mir vollkommen latte. Ich habe dir ein paar konkrete Fragen bezüglich deines Textes gestellt - Wie, Warum, Weshalb. Das hat mit deiner Person überhaupt nichts zu tun.

 

@jimmysalaryman
Stimmt, du hast nicht von Arroganz gesprochen. Aber von einem anmaßenden und belehrenden Tonfall. Das hat mich wirklich verletzt. Und ich habe mich da, vielleicht zu Unrecht, angegriffen gefühlt. Die Kritik und die Nachfragen zu meinem Text sind mir lieb.

 

Hej @Placidus ,

die Geschichte weckt in mir Gedanken, die ich so vorher noch nie gedacht habe, weil ich mich mit den Kindern in den genannten Einrichtungen noch niemals zuvor befasst habe. Das werfe ich mir nicht vor, bin aber froh, dass du mich mit diesem Text darauf aufmerksam gemacht hast. Ich habe nicht gewusst, dass Kinder, die Kinder sexuell missbrauchen, in Einrichtungen zu finden sind, weil ich noch nie drüber ernsthaft nachgedacht habe, was überhaupt mit ihnen geschieht. Dass aber die Betreuung in Einrichtungen in weiten Teilen scheitert, liegt nahe. Das meine ich ohne Sarkasmus. Ich hätte gehofft, dass man die Kinder erreichen könnte, dass es ein ausgeklügeltes Programm gäbe und sie nicht verwahrt, aber wer das Sozialsystem auch nur ansatzweise kennt, muss vermuten, dass es genau so passiert, wie du es beschreibst: Fachkompetenz trifft auf ein System, dass knausert und keine angemessene Struktur im Arbeitsaufwand findet und somit die Fluktuation des Personals hoch ist. Von allem gibt es zu wenig, weil man oft zu kurz denkt und dann sind es erwachsene Straftäter ... ein anderes Ressort, eine andere Geschichte.

Die Erzählstimme brachte mich während des Lesens immer wieder dazu, mir eine andere zu wünschen. Dass ein Kind wie dieses hier sich flüssig machen muss, damit wir die Umstände kennenlernen ist einerseits ein künstlerisches Mittel, aber für mich unbefriedigend. Ich will wissen, was wann an welcher Stelle schief läuft, ich will die Umstände der Eltern kennenlernen, ich will wissen, wer sich wann warum kümmert oder eben nicht! Ich will alle Beteiligten hören, ich will vor allem wissen, warum man sich an den entscheidenen Stellen dazu entschließt, die Kinder weiterzureichen und der Autor mich zurücklässt, ich will wissen, wie es dazu kommt, das Kinder anderen Kindern etwas antun. Bei deinem Protagonisten habe ich eine Ahnung, wie bei dem anderen Jungen auch, aber wieso werden die ‚Opfer‘ und die ‚Täter‘ zusammen in einer Einrichtung verwahrt?

Mir reicht bei diesem vulnerablen Thema die Sicht eines Kindes nicht aus habe ich festgestellt. Vielleicht wäre es für mich erklärbarer, eine erwachsene Stimme rückblickend erzählen zu lassen, vielleicht wäre es auch mehr eine Geschichte, eine, die weniger andeutet und mehr zeigt, die weiter entfernt ist und auch einen Plot twist hätte, aber so bin ich lediglich aufgewühlt und ratlos und sehe sie nah an der Realität und weniger als eine gelungene Kurzgeschichte. Als hätte der/die Autor*In dieses Format gewählt, um überhaupt einmal davon erzählen zu können. Das ist sicher legitim, aber ... für mich nicht genug.

Mein Leseeindruck ist nicht entstanden, weil ich deine Geschichte kritisieren will, sondern, weil ich ihn dir auf den Weg geben wollte. Das Thema ist es ja allemal wert und wenn ich das in deinen Kommentaren richtig überflogen habe, warst du tatsächlich in einer Einrichtung dieser Art involviert. Ich wünschte Leser, die für dieses Ressort zuständig sind, wären unter ihnen.

Herzlichen Dank für diesen Anstoß und freundlicher Gruß. Kanji

 

„Wieso sagt ihr immer Einrichtung?“, habe ich Nadja einmal gefragt. Sie denkt erst nach, bevor sie etwas sagt. „Was soll man sonst sagen? Früher hat mein „Heim“ gesagt. Aber Heim, das klingt schrecklich, oder?“

Ich eier schon einige Zeit um Deine Erzählung herum,

liebe Placidus,

die ja als „Einrichtung“ des Erziehungs- und Verwahrsystems (wahrscheinlich nicht nur unserer schönen Republik) Teil des »Mythos Bildung«* ist, wobei das Wort „Einrichtung“ es eigentlich auf den Punkt bringt in seinem Kern, dem Verb „richten“, da seiner ursprünglichen Bedeutung nach etwas »Krummes gerademachen« meint, ob es nun ein Stück Eisen oder ein „Stück“ Leben ist. Das Präfix rückt die Bedeutung der „Einrichtung“ gar noch in die Nähe von Gegenständen, die nach ihrer öffentlich zugedachten Nutzung „passend gemacht“ werden, ein Überlebenskampf mit der reflexiven Seite, sich anzupassen und in diesem fühlt man sich nicht nur, man wird auch überflüssig, ist gefährdet und wird gefährlich. Was geschieht mit denen, die anders sind, die von der Normal-verteilung zum Rande hin abweichen?

Wenn es sein muss, mache ich mich flüssig.
Da ist es nur logisch, dass das „Heim“ von der „Heimat“ bis zum (mehr oder weniger) wohligen „Zuhause“ von der „Einrichtung“ leicht zu unterscheiden ist.

Wären noch ein paar Flusen aufzulesen

Es hat richtig weh getan, auch am Tag danach.
„wehtun“ zusammen

„Eva kommt heute nicht nach Hause“, hat die ältere Frau gesagt. … „Wo ist deine Mama?“, wollte die Jüngere wissen. Ich habe mit der üblichen Geschichte angefangen:
„die jüngere“, Attribut der „Frau“
Die nette junge Frau hat mich hingebracht, sie hat gesagt, dass sie eine Einrichtung für mich suchten, das schien mir schon nicht mehr so schlimm.
„scheinen“ ist in dem Fall Modalverb und ist dann wie „brauchen“ mit dem Infinitiv zu verwenden „schien mir zu sein“. Du kannst „scheinen“ aber auch zum Vollverb durch die Vorsilbe „er“ erheben. Also „das erschien mir ...“

„Wir sind was ganz besonderes“, hat Paul mal gerufen, aus seinem Fenster, heraus auf den Kirchplatz.
Warum die zwo letzten Kommas?
Weg mit ihnen! (oder Gedankenstriche statt Kommas einsetzen)
Das hat gestunken, ganz gewaltig, die Holzdielen waren an den Rändern war schwarz und ganz wellig.

„Die sind nicht so schwierig wie wir, nicht wahr, die anderen Kinder.“ stellt Paul fest.
… Kinder“, stellt Paul fest.

Wie dem auch wird - herzlichen Glückwunsch zur Empfehlung,

sagt der

Friedel

 

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