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Engel
ist die fehlende Erinnerung.“
-Horst Reiner Menzel
Er schlägt seine Faust mit solcher Wucht auf den Tisch, dass dieser zusammen zu krachen droht. Tassen springen von den Untertellern. Kaffee ergießt sich über den Frühstückstisch. „Ich mach doch schon alles, was ich kann.“ schreit er. Sie springt von ihrem Stuhl auf. „Nichts! Nichts machst du. Was glaubst du eigentlich, wie lange wir das hier noch durchstehen?“ tobt sie und gestikuliert wild mit den Händen. Sie ist den Tränen nahe. Wieder einmal. Doch diesmal wird sie nicht weinen. Er steht auf, schaltet das Küchenradio aus. Sie fährt fort: „Wir verlieren das Haus verdammt noch mal. Verstehst du das eigentlich?“
„Geht es hier nur um das Haus?“
„Um was sonst? Um was denn sonst noch?“
Er lehnt sich an den Türrahmen. „Was ist? Sag was?“ zischt sie ihn an. Ihre Hände zittern. Er schüttelt den Kopf: „Sag … Dann sag mir was ich tun soll?“
„Was du tun sollst? Du? Ich kann das hier nicht mehr tun!“
„Was?“
„Das hier! Ich kann das alles hier nicht mehr. Verstehst du das?“
„Verstehen? Ob ich was verstehe?“, wütend fegt er die Zigarettenschachtel vom Küchentresen, „ich kämpfe um euch, verfluchte Scheiße, und du siehst es einfach nicht!“
Sie schlägt sich die Hand vors Gesicht. Ein kurzes Schluchzen. Es macht ihn nur aggressiver. „Ich hör immer nur Geld, Haus, Geld, Haus. Ich kämpfe aber für die Familie. Unsere Familie. Und das siehst du nicht“, etwas bedrohliches breitet sich in seiner Stimme aus, „mach endlich mal deine beschissenen Augen auf.“
Sie greift nach einem Taschentuch und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie setzt sich zurück an den Küchentisch und stellt die Tassen wieder an ihren Platz. Kaffee fließt langsam über das Wachstuch, welches als Tischdecke dient.
„Welche Familie. Da gibt es nichts mehr ...“
„Was?“
„Nichts mehr ...“
„Was du gerade gesagt hast, hab ich dich gefragt.“
„Du kämpfst für nichts!“, ihre Stimme überschlägt sich, es ist alles weg, alles.“
Er hebt die Zigarettenschachtel auf und steckt sie sich in die Hosentasche. „Was willst du dann eigentlich von mir?“ Er baut sich vor dem Küchentisch auf. Sie antwortet nicht, kämpft wieder mit den Tränen.
„Was willst du dann von mir?“, schreit er und schlägt eine Kaffeetasse vom Tisch. Sie zerspringt an der Wand. Noch mehr Scherben. Sie putzt sich die Nase:
„Du trinkst!“
„Hör auf!“
„Du hast mich ...“
„Hör auf!“
„Du hast mich geschlagen“, kreischt sie und krallt sich am Tisch fest, „du schlägst mich. Du schlägst mich und ... trinkst und ...“.
„Fang nicht damit an!“
Er schüttelt den Kopf und dreht sich um. Sie steht auf und hält ihre Hände auf. „Fang nicht so an.“ wiederholt er.
„Und das, das kann ich nicht mehr tun“, klagt sie an, „ich kann das nicht mehr geschehen lassen.“ Er dreht ihr den Rücken zu und schüttelt den Kopf. Seine Stimme wird tiefer: „Ich sage, was hier geschieht.“
„Ich kann das nicht mehr tun!“
„Wir tun, was ich sage!“
„Es geht nicht mehr ...“
„Pass auf was du jetzt als Nächstes sagst!“ „Ich werde sie mitnehmen“, sagt sie und schließt dabei die Augen, „ich will, dass du das weißt. Ich nehme sie mit.“
Seine Arme stemmen sich in die Hüften. Seine weit aufgerissenen Augen blicken zu Boden. Sie kniet sich hin und beginnt die Scherben aufzusammeln. Er zittert jetzt und atmet ungleichmäßig. Seine Hände ballen sich zu Fäusten.
Das kleine Mädchen geht an der Küche vorbei und verlässt das Haus. Sie schließt die Eingangstüre sanft hinter sich. Sie trägt Wachsmalstifte und einen Zeichenblock bei sich. Beides hält sie umklammert wie etwas, dass niemals verloren gehen darf.
Sie setzt sich auf die kleine Treppe vor dem Haus und schlägt den Block auf. Es ist warm an diesem Morgen. Dichte Baumkronen vor dem Haus geben der Sonne die Möglichkeit, verspielte Lichtflecken auf das Grundstück zu werfen. Das Mädchen nimmt sich einen der Wachsmalstifte. Er zerbricht ihr beim Ansetzen. Sie nimmt einen Neuen aus der Schachtel und beginnt zu malen. Drinnen zerspringt etwas. Ein Glas oder eine Scheibe. Sie malt weiter.
Das Mädchen hebt den Kopf, als sich der alte Mann und die alte Frau ihr nähern. Beide kommen die Auffahrt hoch. Sie lächeln ihr zu. Das Mädchen hat beide noch nie gesehen. Es sind Fremde.
Die alte Frau bleibt vor ihr stehen. Der alte Mann jedoch schreitet an ihr vorbei. Er geht die Treppe hoch und bleibt vor dem Fenster neben der Eingangstüre stehen. Es ist das Fenster zur Küche. Das Mädchen dreht neugierig den Kopf. Der alte Mann bleibt regungslos vor dem Fenster stehen und starrt hinein.
„Was malst du denn da?“, fragt die Frau sanftmütig. „Ich weiß es noch nicht“, antwortet das Mädchen. „Meinst du, ich darf es mal sehen?“ „Ja.“ Die Frau setzt sich neben ihr auf die Treppe.
Schüchtern senkt die Kleine den Kopf. Die Frau rückt ganz nah an sie heran und wirft einen Blick auf den Zeichenblock. „Das hast doch nicht etwa du gemalt?“, fragt sie neugierig.
„Doch.“
„Nein. Also das kann ich nicht glauben!“
Das Mädchen schaut auf. Doch das Gesicht der Frau wirkt keineswegs verärgert. Nur Güte spiegelt sich darin. „Soll ich es zeigen?“, fragt sie nicht mehr ganz so schüchtern.
„Oh ja, bitte!“
Das Mädchen bemerkt, wie die Augen der Frau langsam feucht werden, entscheidet sich aber nicht danach zu fragen. Noch immer steht der alte Mann am Fenster und blickt wortlos hinein. Sie beginnt zu malen.
Sie gibt sich sehr viel Mühe, jetzt da jemand zu sieht. Die Augen der Frau wandern über den Zeichenblock. Das Mädchen wechselt einige Male die Farben. Alles soll seine Richtigkeit haben. Dann, als sie fertig ist, legt sie die Stifte beiseite und reicht der Frau den Block.
Erwartungsvoll beißt sie sich auf die Unterlippe und ist gespannt, was die alte Dame sagen wird. „Tatsächlich“, sagt diese schließlich, „das scheint mir das schönste Bild zu sein, das ich je gesehen habe.“
Das Mädchen freut sich sehr über das Urteil, unterdrückt ein stolzes Kichern. Die alte Frau inspiziert das Bild noch einige Augenblicke und gibt es ihr dann zurück. Sie zeigt auf den Block:
„Wer ist das?“
„Das bin ich.“
„Das hätte ich mir ja denken können. Ich habe dich fast nicht erkannt. Ich muss wohl zum Augenarzt oder was meinst du?“ Die Frau lächelt. Peinlich berührt lächelt die Kleine zurück.
„Ich wünschte ich könnte so schön malen!“
Ohne zu zögern, greift das Mädchen die Wachsmalstifte und reicht sie der Frau. Sie nimmt sie Stifte entgegen und sucht sich einen der Stifte aus. „Soll ich ein neues Blatt nehmen oder darf ich hier weitermalen?“ sie zeigt auf das Bild des Mädchens.
„Du kannst daneben weitermalen!“ Die Frau nickt erfreut und beginnt zu malen. Das Mädchen dreht seinen Kopf Richtung Küchenfenster.
Die Haltung des Mannes erscheint ihr seltsam. Seine Arme hängen schlaff an den Seiten herab. Er bewegt sich nicht. Seine ganze Konzentration liegt bei dem, was in der Küche vor sich geht.
Die Frau tippt das Mädchen an der Schulter an und gewinnt wieder deren Aufmerksamkeit.
„Hier!“
Sie reicht ihr den Block. Das Mädchen begutachtet das Werk der alten Frau. „Wer ist das?“, fragt sie und zeigt auf die Person, die nun neben ihrem Selbstporträt prangt, „bist das Du?“.
„Oh nein das bin nicht ich?“, antwortet die Frau leicht amüsiert.
„Wer dann?“
Die Frau beginnt zu überlegen. Sie rückt näher an das Kind heran. Warmes Sonnenlicht fällt ihr ins Gesicht und bringt ihre nassen Augen zum Glitzern.
„Das weiß ich noch nicht,“ antwortet sie liebevoll, „aber eines Tages lernst du ihn kennen. Und dann frägst du ihn einfach nach seinem Namen.“
„Und dann?“
„Dann wird er dich nach deinem fragen.“
Das Mädchen überlegt kurz. „Wohnt er hier in der Stadt?“
„Das wäre möglich,“ die Frau nickt, „vielleicht wohnt er aber auch ganz wo anders. Vielleicht wohnt er sogar in einem ganz anderen Land. Weit weg. Ohje, ich hoffe ihr sprecht dieselbe Sprache.“ Die Stimme der alten Dame wird geheimnisvoll. Sie zwinkert der Kleinen zu.
Wind kommt auf. Behutsam schaukelt er die grünen Blätter der Bäume umher und lässt die Lichtflecken tanzen. „Willst du das Bild?“, fragt sie die alte Frau. „Oh nein“, sie faltet die Hände und blickt das bemalte Papier sehnsüchtig an, „es ist dein Bild.“ Das Mädchen nickt.
Der Mann am Fenster gibt plötzlich einen merkwürdigen, verkrampften Laut von sich. Die Frau schließt die Augen. Zwei Tränen rinnen ihr die Wangen hinab. Doch das Lächeln behält sie bei.
Das Mädchen nimmt noch einmal einen der Wachsmalstifte an sich und schreibt ihren Namen über die Person, die sie darstellt.
„So ein schöner Name.“ spricht die Frau leise zu sich selbst.
„Wenn ich ihn getroffen habe, dann schreibe ich seinen Namen auch dazu!“, sagt das Mädchen.
„Ja. Ja das ist eine sehr gute Idee.“
Die Eingangstür öffnet sich und der Vater des Mädchens tritt heraus. Sie dreht sich zu ihm um. Sein Mund steht offen und er blinzelt öfters als wirklich notwendig. Sein Gesicht ist gerötet. In seiner Hand noch immer das Telefon, mit dem er eben Hilfe gerufen hat. Dann geht er ein paar Schritte und setzt sich neben seine Tochter.
„Alles gut Papa?“
„Alles okay mein Schatz. Alles okay.“
Er legt seinen Arm um das Mädchen und zieht sie an sich. Ihr Kopf ruht an seiner Brust. Er küsst sie auf die Stirn. Der Alkohol in seinem Atem sticht und beißt ihr in der Nase. Einer der Nachbarn tritt vorsichtig an den Zaun:
„Ist alles in Ordnung? Wir haben Schreie ...“
„Es ist alles in Ordnung!“, brüllt er und drückt sein Kind noch fester an sich. Das Mädchen blickt ahnungslos zu Boden.
„Papa hat dich lieb, okay?“
„Ja Papa.“
„Egal wo dein Papa ist. Dein Papa hat dich lieb. Auf ewig hab ich dich lieb, okay?“
Die Eingangstüre steht noch immer offen. Im Innern des Hauses herrscht Stille. Das Mädchen lauscht nach einem ihr bekannten Geräusch. Irgendeinem.
„Papa. Darf ich kurz rein?“ fragt sie. Seine Umarmung zieht sich weiter zu. „Bleib noch ganz kurz“, sagt er leise. Sie nickt. Immer mehr Menschen erscheinen an den Zäunen und Fenstern. Von weit her kündigen sich bereits die Streifenwagen an. Der Vater nimmt den Block seiner Tochter an sich.
„Das ist schön.“, sagt er und wischt sich über die tränenden Augen.
„Danke Papa.“
„Wer ist das da neben dir?“
„Ich weiß es noch nicht Papa. Ich treffe ihn erst noch.“