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Engels Garten
Kapitel 1: Der Versuch
In einem Ort, in dem es nie wirklich warm war und immer eine herbstliche Atmosphäre herrschte, lebte ein vierzehnjähriger Junge namens Joschua Engel. Von Freunden, die er nicht im Übermaßen besass, wurde er Joe genannt. Er lebte mit einem alten Mann in einem großen Haus am Fluss. Das Haus macht einen sehr alten Eindruck, wie das eines Spuckschlosses. Da das Haus weder von Joe noch von dem alten Mann geputzt wurde, wurden die schweren Wandteppiche immer modriger. Und obwohl überall hohe Sprossenfenster waren, hatte das Haus etwas Düsteres an sich.
Ob der alte Mann Joes Vater, Großvater oder Onkel war wusste niemand, da niemand fragen wollte, denn allen in dem kleinen Ort waren die beiden ,,nicht geheuer”.
Der alte Mann wurde von allen verrückt gehalten, weil er immer die abenteuerlichsten Geschichten von Himmelsschlössern und fernen Ländern, die er besucht haben wollte, erzählte.
Joe fiel in erster Linie nicht durch sein Benehmen auf, sondern durch sein Aussehen. Er hatte schneeweiße Haut, lange Haare, die ebenso weiß waren wie seine Haut, und furchtbar klare, blaue Augen. Er war hochgewachsen und von schlanker Gestalt. Er wurde oft von kichernden Mädchen beobachtet, wenn er für den Kamin seines Zuhauses Holz hackte oder allein im Ort spazieren ging.
In seiner Klasse wurde er akzeptiert, aber er hatte keine wirklichen Freunde. Doch Mädchen wie Jungen scharten sich nur wegen seines Aussehens um ihn.
Joe jedoch empfand diesen Mopp von Menschen um ihn herum als furchtbar lästig. Ihm hätte eine Person gereicht, die ihn verstand und mit der er zusammen sein konnte. Er war zumeist verschwiegen, sodass seine Klassenkameraden nicht oft in den Genuss seiner wohlklingenden Stimme kamen.
Mit den Noten hatte er auch keine Probleme. Er gehörte zu den Menschen, die sich eine Seite in einem Buch vielleicht zweimal anschauen und den Inhalt dann genau hervor beten können. In seiner Freizeit wusste er daher oft nichts mit sich anzufangen, streifte ziellos durch das Dorf oder baute in dem großen Haus am Fluss meterhohe Kartenhäuser.
Doch Joe hatte einen besonderen Sinn für kleinere Glücksmomente, die andere unbeachtet an sich vorbeiziehen lassen. Er liebte es, Colaflaschen zu öffnen, dabei das Zischen zu hören und den Dunst der Cola zu riechen; einfach nur auf einer Wiese zu liegen, mit den Fingern durch das Grass streifen und die Grillen hören; den Regen zu spüren, wie er sich durch die Haare windet und an Gesicht und Hals herunterläuft und die Luft nach dem Regen, wenn alles so frisch riecht und die Sonne wieder scheint.
Was der alte Mann so den ganzen Tag trieb, war Joe schleierhaft, denn manchmal verschwand der Alte tagelang oder schloss sich in einen der Zimmer ein.
Das Haus hatte viele Zimmer, außerdem eine gewaltige marmorne Eingangshalle und einen der Verwilderung überlassenen Garten. Joe war nicht oft in diesem Garten. Er war gruselig da von allen Bäumen das Laub gefallen und Beete mit Brennnesseln überwuchert waren. Joe bezweifelte das in diesem Garten noch ein Funken Leben steckte.
Joe, der in dieser verwilderten Gegend aufwuchs und in ein paar Monaten fünfzehn werden würde, stellte sich schließlich die Frage, die sich alle irgendwann in ihren Leben stellen:
,,Wozu lebe ich?”
Und Joe wusste im ersten Moment wirklich nicht wozu.
War er nur auf der Welt um zu sterben?
Lebte er um für andere da zu sein?
Nein, der alte Mann und sein Klassenkameraden brauchten ihn nicht wirklich. Und je mehr Joe darüber nachdachte, desto unmöglicher schien es ihm einen Sinn in alledem zu erkennen und desto deprimierter wurde er.
Als schließlich der Februar kam, wurde Joe fünfzehn Jahre alt und wollte sterben. Wobei das nicht unbedingt der richtige Ausdruck ist. Er wollte nicht sterben, aber leben wollte er auch nicht unbedingt.
Joe dachte jetzt die meiste Zeit darüber nach, welche Methode die leichteste und die schmerzloseste war sich das Leben zu nehmen.
Der Frühling erwärmte zwar das Land und die Luft, aber Joes Inneres blieb kalt und leer.
Manchmal fragte er sich, ob es nicht doch irgendwo etwas gab, was sein Leben lebenswert machen könnte. Aber er fand keine Sache, die so schön war, dass er dafür weitergelebt hätte.
Am frühen Morgen eines warmen Samstag im Juni lag Joe noch völlig bekleidet auf seinem Bett mit einem klaren Plan im Kopf.
Er würde sobald der Alte nebenan aufgestanden war, den Strick und den Hocker nehmen die er Tage zuvor in der Gartenlaube platziert hatte, nehmen und sich am Baum neben dem ausgetrockneten Teich in dem verwilderte Garten erhängen.
Dieses Vorhaben war so endgültig, so geplant das Joe es schon fast als unumstößlich empfand.
Joe lag da, wartete darauf dass, die Dielen vor dem Bett seines Mitbewohners laut knarzten und damit seinen Plan in Gang setzten.
Unablässig sah er auf die Uhr.
Um genau sieben Uhr und zwölf Minuten erfüllte den Nebenraum ein grollendes Knarren der Dielen.
Joe sprang auf, sah in den Spiegel. Er suchte Angst in seinem Blick, aber er sah nur helle Aufregung.
Sein Herz schlug beinahe schmerzhaft in seiner Brust und sein Atem wurde zittrig und unregelmäßig.
Er schritt durch den Flur zu der großen Treppe der Eingangshalle. Doch anstatt, wie sonst immer durch den Haupteingang zu gehen, bog er scharf rechts in eine Tür und gelangte so in die altmodische, gewölbeartige Küche des Anwesens. Die Küche war durch eine Terrasse mit dem Garten verbunden.
Joe war noch nicht oft durch diese Tür gegangen, aber wenn er sie durchschritt, konnte er sich vorstellen dass, das Anwesen zu besseren Zeiten wirklich wunderschön gewesen sein musste. Rasch holte er den Hocker und den Strick aus dem Schuppen.
Alles lief wie sich Joe es überlegt hatte. Der Ast, den er sich von seinem Fenster ausgesucht hatte, war so hoch das er an ihn geradeso rankam, wenn er auf dem Hocker stand.
Der Knote saß fest.
Ein Wind fegte durch den Garten.
Joe stand auf dem Hocker, sah auf das Anwesen und legte die Schlinge um seinen Kopf. Einige Sekunden vergingen, bevor tief einatmete und sich selbst von dem Hocker stieß.
Ein paar Sekunde hing er.
Plötzlich wurde dem Baum anscheinend bewusst, welches Gewicht an ihm hing und der Ast an dem Joe hing, brach.
In Bruchteilen von Sekunden fiel Joe zuerst schmerzhaft auf die Füße und dann auf den Steiß, der Ast knallte auf Joes linke Schulter und weiter auf den Boden.
Joe war so geschockt, dass er sich dem Schmerz im ersten Moment nicht bewusst wurde.
Klappernd öffnete sich im oberen Stock des Hauses ein Fenster. Der alte Mann sah verschreckt heraus. ,
,Kommen die Rikits?!?!?”, schrie er.
,,Nein, der Ast war morsch.”, gab Joe zurück.
,,Oh,”,meinte der Alte verwundert, ,,Na, dann is ja jut.”
Und er verschwand wieder im Haus.