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Engelswelt
Joleen zitterte am ganzen Leib, als sie auf dem verschneiten Pfad erwachte. Langsam öffnete sie die Augen und erblickte zu allererst die hohen Tannen zu ihrer Rechten und Linken. Der Pfad lag wie ausgestorben da. Ihr war nicht bewusst, wie sie hier her gekommen war. Nur eine blasse Erinnerung schoss ihr durch den Kopf. Dunkelheit, ein greller Lichtstrahl, dann ein stechender Schmerz. Sonst war alles wie ausgelöscht. Sie fühlte sich benommen, versuchte allerdings aufzustehen. Doch dieser Versuch wurde durch ihren Körper, der einen einzigen Schmerz darstellte, vereitelt. Unter großer Anstrengung kroch sie schließlich unter die Tannen, um ein wenig Schutz zu haben. Panik ergriff sie, als sie sah wie Blut in den Schnee tropfte. Geistesgegenwärtig fasste sie sich an die Stirn, dann betrachtete sie ängstlich ihre blutverschmierten Hände. Bald vernahm Joleen das Wiehern eines Pferdes. Das Traben des Tieres näherte sich ihrem Versteck. Vorsichtig lugte sie unter den Tannen hervor und erblickte den Reiter. Er war nicht sehr groß, trug einen schwarzen Mantel und seine Füße steckten in Reitstiefeln. Er wirkte eher wie ein Kind. Es war womöglich ein kleiner Junge, der gerade einen winterlichen Ausritt genoss. Gefährlich wirkte er nicht. Langsam und vor Schmerz stöhnend, zog Joleen sich wieder hinaus auf den Weg. Sofort zügelte der Reiter sein Pferd und sprang in den Schnee. Eine kleine weiße Wolke stob in die Luft. Geschickt eilte er über den glatten Pfad zu dem Mädchen, das hilflos dort lag. Er nahm den Helm von seinem Kopf. Und tatsächlich, das Gesicht eines Jungen kam zum Vorschein. Seine Haare waren kurz und lockig und auf seiner Nase prangten abertausende Sommersprossen. Er mochte 15 Jahre alt sein. Besorgt beugte er sich hinab.
„He du! Was ist mit dir geschehen?“
Joleen blickte ihn an und seufzte.
„Ich weiß es nicht.“
„Du weißt es nicht?“ Der Junge brach in schallendes Gelächter aus, als er jedoch bemerkte, dass Joleens Worte keinen Spaß darstellen sollten, verstummte er schnell.
„Du weißt tatsächlich nicht, was passiert ist.“ stellte er trocken fest, „mein Name ist übrigens Tarok und du bist…?“
„Joleen, mein Name ist Joleen.“
„Ein ungewöhnlicher Name. Wie dem auch sei. Ich werde dich mitnehmen, wenn du das möchtest.“
Joleen nickte eifrig.
„Kannst du aufstehen?“
„Nein, ich habe starke Schmerzen.“
Tarok nickte. Er beugte sich erneut hinab und tastete behutsam ihren Körper ab. Ein unglaublicher Schmerz durchfuhr Joleen. Sie schrie laut auf. Eine kurze Weile betrachtete er besorgt ihre Kopfwunde. Dann hob er vorsichtig ihren Kopf an und ließ einen wehleidigen Zischlaut vernehmen.
„Was ist los?“ fragte sie panisch.
„Nichts.“ Tarok lächelte ermutigend, „keine Sorge.“
Erleichtert lehnte Joleen sich zurück und versuchte sich zu entsinnen was geschehen war. Vergeblich. Es schien als habe ihr jemand eine Droge eingeflößt, die sie vergessen ließ. Tarok hatte sich mittlerweile von seinem Schrecken erholt. Vorsichtig hob er Joleen aus dem Schnee und setzte sie behände auf das Pferd. Schweigend nahm er die Zügel. Dann trottete er nachdenklich neben dem Pferd her während Joleen ihn betrachtete. Taroks Gesichtszüge waren markant. Über seiner linken Augenbraue war eine breite Narbe zu sehen. Ansonsten war seine Haut zart und glühte rötlich aufgrund der Kälte. Sein Körper war nicht der eines Jungen seines Alters. Er war muskulös und hatte breite Schultern. Seine Hüften hingegen waren schmal und mit vielen verschiedenen Waffen behangen. Die Beine waren kurz und bis zu den Knien in schwarze Stiefel gehüllt. Es schien als sei Tarok ein Krieger, der sich nun auf die Heimreise gemacht hatte. Joleen schüttelte diesen Gedanken wieder ab. Wer würde schon einen Jungen wie ihn in den Krieg schicken?
Dies war der letzte Gedanke dem sie nachhing, bevor ihr Magen sich drehte und ihr Kopf schrecklich zu schmerzen begann. Schließlich sackte sie in dem Sattel des Pferdes zusammen. Tarok rief noch ihren Namen, dann verschwamm die Landschaft und es wurde um Joleen herum dunkel.
Ihre Augen waren geschlossen, dennoch konnte sie hören was um sie herum geschah.
„Oh je, was ist mit diesem armen Mädchen geschehen?“ vernahm sie nach einer Weile eine glockenhelle, liebevolle Frauenstimme. Starke Arme hoben sie von dem Pferd und es waren nicht die von Tarok.
„Ich weiß es nicht.“ antwortete dieser wahrheitsgemäß, „kannst du ihr helfen, Tarina? Reicht deine Heilkunst für solch schlimme Verletzungen aus?“
„Ich werde sehen was sich machen lässt.“ Joleen bemerkte wie sie eine Weile getragen und schließlich auf ein weiches Lager gebettet wurde. Es verging eine weitere Weile, dann spürte sie wie jemand ihren geschundenen Körper mit kühlenden Umschlägen versah. Es war die Frau namens Tarina. Joleen erkannte ihre Stimme, da diese merkwürdige Worte vor sich hin summte. Nachdem die Heilerin ihre Arbeit vollbracht hatte, seufzte sie.
„Mehr kann ich nicht tun, mein lieber Junge. Alles Weitere liegt in den Händen des Schicksals.“
„Ich hoffe nur sie wird genesen. Ich werde für sie beten.“ sagte Tarok. Nach diesen Worten klappte eine Tür und es wurde still. Joleens Leib brannte wie Feuer. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrieen, doch das ging nicht. Sie hoffte inständig, dass Tarina wusste was sie tat. Nach dem Feuer, folgte Eiseskälte. Ihr Körper schien einzufrieren. Nachdem einige Zeit verstrichen war legte sich eine wohlige Wärme über ihren Körper. Allmählich übermannte sie eine große Müdigkeit. Joleen versuchte sich gegen dieses Gefühl zu wehren, aus Angst nicht mehr aufwachen zu können. Als sie spürte, dass es keinen Sinn machte sich zur Wehr zu setzen, ließ sie es zu.
„Joleen, wach auf.“ Taroks Stimme erklang. Sie spürte wie er seine Hand sanft auf ihre Stirn legte. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen.
„Ich bin so froh.“ Tarok fiel ihr um den Hals und lächelte liebevoll, „ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht.“
„Aber du kennst mich doch nicht.“
„Ich kenne viele Menschenkinder, “ nach einer kurzen Pause fügte er hinzu, „und du bist das erste seit langem, das überlebt hat.“
Joleen runzelte die Stirn. Sie betrachtete Tarok aufmerksam. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Junge spitze Ohren hatte und ein katzenhaftes Gesicht. Sie riss den Mund weit auf.
„Du bist ein Elf… aber… aber… was hat das zu bedeuten?“
Tarok lächelte.
„Du bist in Elves-Heaven.“
„Ich verstehe nicht.“
„Fühlst du dich stark?“
„Ja. Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann sag es mir bitte.“
„Warte.“ Tarok sprang auf und verließ den Raum. Wenig später trat eine Elfenfrau durch die Tür. Ein sanfter Schimmer lag über ihr. Ihre goldenen Locken waren eine bezaubernde Pracht. Sie hatte ein gutmütiges Gesicht in dem himmelblaue Augen leuchteten. Mit katzenhaften Bewegungen kam sie auf Joleen zu. Sie lächelte ebenso liebevoll wie Tarok. Es war Tarina. Sie stand schweigend da, bis ein Elfenmann mit einem klapprigen Gefährt hereinkam. Es war ähnlich einem Rollstuhl. Behutsam hob der Elfenmann sie aus dem warmen Lager in das alte Klappergestell. Er wickelte ihre Beine in eine Decke ein.
„Schieb sie ruhig, Suirám.“ sagte Tarina.
Schon ging die Fahrt los. Vor der Zimmertür war ein lang gestreckter Gang. Hier und da waren breite, große Fenster zu sehen, aus denen ein schummriges Licht fiel. Vor dem ersten Fenster, das sie passierten, machte Suirám Halt. Er schob Joleen so nah an die Fensterscheibe heran, dass sie beinahe mit der Nasenspitze davor stieß.
Dahinter war ein Raum zu sehen. Ein kleiner Junge lag in einem Bett. Er wälzte sich unruhig hin und her. Schweißperlen rannen ihn über die Stirn. Seine Arme waren eine einzige Kruste und auch an seinem Hals wurde eine Kruste sichtbar. Erschrocken betrachtete Joleen den Jungen. Schließlich wandte sie ihren Blick ab.
„Das ist Russel. Er ist seit einem Monat eurer Zeitrechnung bei uns. In eurer Welt liegt er im Koma und nur wir sind in der Lage ihm zu helfen. Das Haus seiner Eltern begann zu brennen. Sie konnten ihm nicht helfen. Erst die Männer von der Feuerwehr konnten ihn aus der Flammenhölle retten. Er wird es womöglich nicht schaffen. Gegen derartige Verletzungen bin selbst ich machtlos, dennoch geben wir die Hoffnung nicht auf.“
Erschrocken riss Tarina die Augen auf. „Nein! Russel!“ Joleen blickte erneut in den Raum. Die Elfenfrau rannte hinein, dicht gefolgt von einigen anderen Elfen, die ihren Aufschrei gehört hatten. Joleen sah, wie ihn ein weißes Licht ergriff, an ihm zerrte und langsam fort trug. Tarinas Augen füllten sich mit Tränen und sie sah hilflos zu. Dann war der kleine Junge verschwunden. Einen Moment saß die Elfenfrau an seinem Bett, dann stand sie mit gesenktem Haupt auf und trat wieder hinaus.
Suirám legte tröstend den Arm um ihre Schulter.
„Er ist nun nach Angels-Heaven gegangen. Die endgültige Welt… von dort wird er nie wieder den Weg zu eurer Welt finden.“
Joleen senkte den Blick und begann leise zu weinen.
Suirám wartete einen Augenblick, bis sie sich wieder beruhigt hatte und schob dann den Rollstuhl weiter, vor das nächste Fenster.
„Das ist Fin. Sie ist von einem Kampfhund angegriffen worden. Ihre Beine sind vollkommen zerbissen. Ich hoffe meine Arznei genügt um ihr den Weg zurück auf die Erde zu ebnen.“
Tarina lachte bitter auf.
„Tag für Tag müssen wir dieses Leid ertragen. Umso schöner ist es hin und wieder ein Wunder zu erleben. Eines dieser Wunder bist du, Joleen.“
„Was ist Elves-Heaven?“ fragte diese wissbegierig.
„Eine Zwischenwelt. Sie verbindet die Erde mit Angels-Heaven, dem Ort der ruhenden Seelen. Wir haben einen Pakt mit den Engeln geschlossen. Sie geben uns einen Monat eurer Zeitrechnung, um Kindern die Chance zu geben weiterzuleben. Ist diese Zeit abgelaufen, so werden die Kinderseelen von dem Engelslicht, das Licht das du gerade bei Russel gesehen hast, fort getragen.“
„Aber das war doch sein Körper.“
„Nun, in unserer Welt, wandelt sich die Seele in den Körper, nur so können wir Verletzungen feststellen und die passenden Arzneien herstellen. Geht die Seele zurück auf die Erde oder zieht sie weiter nach Angels-Heaven so verwandelt sich der Körper wieder zurück.“
„Was ist mit mir geschehen?“
„Du hattest einen schweren Fahrradunfall. An deinem Vorderlicht war ein Wackelkontakt. In dem Moment als es ausging kam ein Auto auf dich zu und ergriff dich. Du bist über das gesamte Auto gefallen und hart auf dem Boden aufgeschlagen. Dann bist du bewusstlos geworden. Du hast eine schwere Kopfverletzung.“
„Und was ist nun mit mir?“
„Oh, hab keine Angst. Tarok wird dich wieder in deine Welt führen. Du hast es geschafft, mein liebes Mädchen.“
Joleen strahlte, während Tarina ihr zu zwinkerte.
„Gibt es solch einen Ort nur für Kinder?“
„Aber nein, für Erwachsene gibt es ebenfalls solch einen Ort.“
Joleen atmete tief durch, als sie an ihre vor kurzer Zeit verstorbene Großmutter dachte.
„Und was ist wenn die Menschen durch einen natürlichen Tod sterben?“
Tarina lächelte.
„Dann gibt es keinen Grund den Menschen bei uns aufzunehmen.“
Suirám machte nach diesen Worten mit dem Rollstuhl kehrt und schob Joleen zurück auf ihr Zimmer. Als sie wieder auf dem weichem Bett lag, sagte sie:
„Kannst du Tarok schicken?“ Tarina nickte, dann bedeutete sie Suirám den Raum zu verlassen. Für einen kurzen Augenblick war Joleen allein. Als Tarok auftauchte, blickte sie ihn dankend an. Er errötete.
„Darf ich dich etwas fragen?“
„Natürlich.“ Der Elfenjunge setzte sich auf den Bettrand und ergriff ihre Hand. Joleen ließ es zu.
„Warum wissen die Menschen nicht von euch?“
„Wenn die Menschen wüssten, dass wir dies tun, geschweige denn, dass wir wirklich existieren, dann würden sie viele Hoffnungen in uns setzen. Würden wir ihre Hoffnungen enttäuschen, so wären wir geächtete Wesen. Und wenn die Menschen ihren Glauben an uns verlieren würden, so könnten wir niemanden mehr helfen.“
„Aber es glauben nicht viele Menschen an euch.“
„Aber die, die Bücher und Erzählungen von uns verschlingen, halten uns für starke Wesen mit wundersamen Fähigkeiten. Das macht ja auch Tarinas heilende Kraft aus. Nun gut, ich erkläre es dir anders. Je weniger Menschen sich für uns interessieren, umso schwächer und überflüssiger wären wir.“
„Jetzt verstehe ich. Und wie komme ich nun zurück?“
Tarok grinste breit.
„Schließ die Augen, drück meine Hand und wünsche dir von ganzem Herzen zurück zu kommen.“
Joleen tat es, wie Tarok es ihr erklärt hatte. Sie spürte wie sie vom Bett abhob und ihre Hand sich von Taroks Hand löste. Es war ein kurzer Flug. Wenig später spürte sie wieder ein weiches Bett unter sich.
Vorsichtig öffnete sie ihre Augen. Sie blickte in das Gesicht ihrer Mutter. Mrs. Carrigan lächelte und schloss ihre Tochter freudig in die Arme. Sie blickte gen Himmel und flüsterte leise: „Danke.“
Joleen flüsterte ebenfalls:
„Danke Tarina, danke Tarok, danke Suirám.“
Vor ihrem inneren Auge sah sie die drei Elfen winken.
„Gern geschehen. Pass auf dich auf, Joleen.“ sagte Tarok.
Dann verschwanden sie und Joleen wusste, dass sie viel zu tun hatten. Sie schwor sich von nun an zu beten, für all die Seelen die Elves-Heaven noch betreten würden.