Es hat nicht sollen sein
Es hat nicht sollen sein
Als ich aufwachte, hatte ich Tränen in den Augen und sie rannen mir die Wangen hinab. Ich hatte lange nicht mehr richtig geweint, denn alles, was mich bewegte, hatte ich tief in mir eingeschlossen und ließ niemanden, nicht mal mich selbst ran. Doch das, was mir vor ein paar Wochen passiert war, hatte ich noch immer nicht verarbeitet. Ich konnte noch immer nicht darüber hinweg und war traurig, so traurig, dass mir immer wieder die Tränen kamen. Sie kamen abends, wenn ich auf meinem Schlafsack lag, der noch immer nach ihr duftete, dann träumte ich von ihr und dem, was passiert war:
Ich war vor drei Wochen nach Schweden gefahren, um dort meine Ferien zu verbringen. Endlich mal wieder drei Wochen alleine, weit weg von allen, die ich kannte. Ich wollte an einem See campen, alleine, ohne von irgendjemandem gesagt zu bekommen, was ich zu machen hätte. Einfach nur morgens spät aufstehen, den Tag mit allem Möglichen verbringen und abends lange am Lagerfeuer sitzen, vielleicht bis zum Sonnenaufgang um halb fünf. Ich hatte an alles gedacht und hatte deshalb keine Probleme, mich zu versorgen.
Als ich mit der Bahn in der Stadt ankam, blieb ich nicht lange, schickte bloß eine Karte ab, wo ich ungefähr zu finden wäre und machte mich auf den Weg; zu Fuß und trampend. Schnell hatte ich einen See gefunden, mit einer, nicht weit vom Ufer entfernten Lichtung. Drei oder vier Baumreihen standen dann zwischen meinem Zelt und dem glasklaren, kühlen Wasser des Sees. Ich wusste, es werden wunderschöne Ferien werden. Die erste Woche verlief auch genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Morgens spät aufstehen, in aller Ruhe frühstücken, dann erst mal schwimmen oder einfach nur faulenzen. Danach kümmerte ich mich um einen kleinen Imbiss für die Mittagszeit, um schließlich nach dem Essen Holz zu sammeln und mir etwas zum Abendessen zu fischen. Hungern musste ich nicht, Holz gab es genug und der See war voll von Fischen, die scheinbar nur darauf warteten, aus dem See gezogen und danach gegrillt zu werden.
Am Anfang der zweiten Woche saß ich noch beim Frühstück, als ich Stimmen am See hörte, eine dieser Stimmen fiel mir auf. Sie war zart, und doch hatte sie etwas, das bestimmend wirkte. Ich beendete mein Frühstück und versuchte herauszufinden, welche Sprache die Personen am See sprachen, doch das Gekreische der kleinen Kinder dieser Gruppe, machte es fast unmöglich. Erst als diese mal ihre Lautstärke senkten, konnte ich die Sprache identifizieren: Dort am See waren Deutsche. Nun hielt mich nichts mehr bei meinem Zelt, ich zog mir die Badehose an und packte ein paar Getränke in meine Tasche. Während ich meine Sachen zusammensuchte, wurde mir klar, wie alleine ich doch war. Ich hatte eigentlich niemanden vermisst, in der Woche, in der ich hier gewesen war. Aber nun freute ich mich auf ein paar Stunden mit jemandem anderen. Als ich aus dem Wald trat, stutzten die Älteren, die an einem Motorboot saßen und sich unterhielten. Nur die Kinder spielten ausgelassen weiter. Als ich diese musterte, fiel mir ein Mädchen auf, und ich wusste sofort, ihr gehörte diese wunderschöne Stimme. Die Stimme passte zu ihr. Es war ein schönes Mädchen. Sie war schlank und hatte braune, lange, leicht gewellte Haare, die ihr über die Schultern auf den Rücken fielen. Ich wurde aus meinen Betrachtungen gerissen, als mich eine Frau auf Englisch ansprach. Ich versuchte gar nicht, sie über meine Herkunft im Unklaren zu lassen und antwortete sofort auf Deutsch und erzählte auf ihre Frage antwortend, was mich hier nach Schweden verschlagen hatte, so ganz ohne Freunde und Verwandte. Während ich erzählte, hörten die anderen aufmerksam zu und unterbrachen mich nicht. Erst als ich geendet hatte, fingen sie an, sich vorzustellen: Sie waren zwei befreundete Familien, aus einem kleinen Ort in der Nähe von Mannheim. Sie waren zu acht: Zwei Elternpaare, eins mit zwei vier und fünf Jahre alten Söhnen und eins mit einer fünfjährige Tochter und dem 16 Jahre alten Mädchen, dessen Stimme mir schon im Wald aufgefallen war. Ich konnte mir nur den Namen dieses Mädchens merken, Leoni! Als ich sie erneut anschaute, bemerkte ich ihre wunderschönen grün-blauen Augen, doch ich konnte nicht lange in sie sehen, denn diesmal unterbrach sie meine Gedanken mit der Frage, wie alt ich denn wäre, wenn ich so alleine durch Schweden touren könnte. Sie schien nicht mal überrascht, als ich ihr mein Alter verriet: 17!
Nun sahen wir uns wieder in die Augen und sagten nichts mehr. Erst als ich aufstand und zum Wasser lief, rief sie: „Warte!“ sie kam hinterher und gemeinsam sprangen wir in den See. Das kalte Wasser machte mir heute nichts aus und ich begann, ein paar Meter zu tauchen. Als ich auftauchte, war Leoni weg. Ich suchte die Wasseroberfläche ab, schaute bei den drei anderen Kindern und bei den Erwachsenen, doch sie war nirgends zu sehen. Plötzlich wurde ich von hinten umgerissen und unter die Wasseroberfläche gezogen. Mir war klar, wer das war, und ich versuchte, mich aus dem festen Griff zu befreien, doch es half alles nichts. Erst als Leoni auftauchen musste, um Luft zu holen, gelang es mir mich zu befreien und ich konnte auftauchen. Wir standen uns nun gegenüber und sahen uns in die Augen. Mit einem Mal mussten wir beide lachen. Wir standen nur da und lachten. Ich hatte mich zuerst wieder gefasst und noch bevor Leoni reagieren konnte, drückte ich sie unter Wasser. Ich hielt sie nicht besonders doll fest und so konnte sie sich leicht befreien und kam prustend wieder an die Oberfläche. Ihre Haare klebten im Gesicht und sie sah mich mit einem Blick an, der böse sein sollte, aber bei mir eher komisch oder als lieb gemeint ankam. Ich musste wieder lachen und sie setzte mit ein. Den kompletten Tag turnten wir durchs Wasser oder lagen am Ufer und sonnten uns. Wir erzählten nichts über uns, es war auch irgendwie nicht nötig, wir verstanden uns. Der Tag verging und als die Familien aufbrechen wollten, konnten wir uns nicht so wirklich trennen. Denn wer wusste schon, ob wir uns je wiedersehen würden.
Abends saß ich lange am Lagerfeuer, dass ich diesmal am Ufer entfacht hatte, und träumte vor mich hin. Leoni war ein wunderschönes Mädchen, ich wusste nicht viel von ihr und sie nicht viel von mir. Doch mir war klar, sie war das schönste und netteste Mädchen, dass ich seit langem getroffen hatte. Aber es war mir in den nächsten beiden Tagen nicht vergönnt, sie wiederzusehen. Diese beiden Tage verbrachte ich erneut in völliger Einsamkeit und im selben Rhythmus wie in der ersten Woche. Jedoch kreisten meine Gedanken nur um ein Mädchen. Am Abend des nächsten Tages wurde mir klar, dass ich sie nie wiedersehen würde! Auch an diesem Abend lag ich lange wach in meinem Schlafsack und schlief doch irgendwann neben dem Lagerfeuer ein. Noch ahnte ich ja nicht, was am nächsten Morgen passieren sollte: Morgens wurde ich vorsichtig gerüttelt, bis ich leicht die Lieder hob: Was ich sah, versetzte mich in Freude, ich sah in die wunderschönen blau-grünen Augen von Leoni, die Haare fielen ihr wieder über die Schultern. Als sie sah, dass ich fast wach war, beugte sie sich runter und küsste mich auf die Stirn. Intuitiv zog ich sie runter und küsste sie nun meinerseits auf die Stirn. Sie roch gut, ein leichter Duft von Natur umgab sie.
Ich setzte mich auf und nun fiel mein Blick auf das Tablett. Ich freute mich riesig über das, was ich dort sah. Leoni hatte mir aus meinen Vorräten ein wunderschönes Frühstück gezaubert. Während ich aß, erzählte sie mir, dass sie den heutigen Tag wieder hier verbringen würde und ihr, als sie mich noch schlafen sah, die Idee kam, mich mit einem Frühstück zu wecken, um mich zu überraschen und mich zu verwöhnen. Das war ihr gut gelungen.
Nach dem Frühstück zog ich mich um und ging mit Leoni rüber zum Wasser. Wir warfen uns, nachdem ich die anderen begrüßt hatte, ins Wasser. Zwei Stunden verbrachten wir im Wasser, schwammen, tauchten und machten einfach nur jede Menge Unsinn. Als wir außer Puste waren, führte mich Leoni aus dem Wasser auf ein kleinen Felsen, der am Ufer eine Plattform bildete. Dort oben setzten wir uns hin und sahen uns an. Zu gerne hätte ich sie jetzt an mich gezogen und geküsst, doch ihr Eltern waren nicht weit weg und sahen immer wieder zu uns rüber. Außerdem wusste ich nicht, wie sie reagieren würde. So saßen wir eine Weile nur da und ließen uns von der Sonne trocknen. Irgendwann begann Leoni von sich und ihren Geschwistern, von ihren Eltern und Freunden zu erzählen. Sie erzählte mir, was sie so bedrückte, zum Beispiel, wie sehr sie mich vermisst hatte und wie doll sie sich gefreut hatte, als sie erfuhr, dass sie den Tag wieder am See verbringen würden. Ich konnte nicht anders, in dem Moment zog ich sie an mich ran und umarmte sie. Nun begann auch ich zu erzählen, warum ich wirklich hier war, warum ich den Abstand zu allem brauchte und - ich überraschte mich selber - wie sehr ich sie mochte. In ihren Augen bildeten sich Tränen, sie wollte sie wegwischen, doch ich stoppte ihr Bewegung und wischte sie selbst ab. Sie drückte sich an mich und schloss die Augen. Nun lagen wir nur da und sagten nichts, nichts hätte uns jetzt trennen können, selbst bei einem Sturm wären wir hier geblieben. Wir wussten nicht, wie lange wir dagelegen haben, aber wir waren eingeschlafen und als ich aufwachte, lag Leoni noch immer neben mir. Ich suchte ihre Eltern und deren Bekannte, doch alles, was ich sah, waren eine Tasche und ein Schlafsack, an dem ein kleiner Zettel befestigt war:
Liebe Leo,
wir haben dir ein paar Sachen hier gelassen, es wäre sicherlich dein Wunsch gewesen, hier am See zu bleiben, wenn wir zusammen abgefahren wären. Um dir einen schönen Abend zu gönnen, haben wir uns entschlossen, euch schlafen zu lassen und wünschen euch einen schönen Abend. Wir holen dich morgen Mittag ab.
Gruß deine Eltern.
PS. Dies ist keine Erlaubnis zum Sex, also halte dich daran!
Als ich diese Notiz gelesen hatte, machte mein Herz einen riesigen Sprung nach oben. Ich wusste, die nächste Nacht würde wunderschön. Vor allem hatte ich auch nicht vor, mit Leoni zu schlafen. Warum auch? Ich nahm Leonis Sachen und trug sie zum Zelt. Dort bereitete ich ein kleines Lager vor. Ich hatte mich dazu entschlossen, Leoni zum Zelt zu tragen. Sie war nicht schwer, obwohl sie nicht zu der Sorte Mädchen gehörte, an denen nur Haut und Knochen dran ist. Ich hatte Angst, sie zu wecken, doch es gelang mir sie zum Zelt zu tragen und ich sie auf dem Schlafsack nieder zulegen, ohne dass sie aufwachte. Schnell räumte ich meine Sachen auf und versuchte, ein schönes Abendessen auf dem Lagerfeuer zuzubereiten. Als Leoni erwachte, brutzelte das Fleisch schon auf dem Rost. Sie sah mich an und in ihren Augen war eine Frage zu lesen: Was bitte ist hier los?
Ich reichte ihr den Zettel mit der Notiz ihrer Eltern rüber und sie las ihn mehrmals. Sie konnte nicht fassen, dass ihr Eltern das erlaubten. Ich riss sie aus ihren Gedanken und servierte das Essen. Auch ich konnte unser Glück noch nicht glauben: Eine ganze Nacht mit diesem wunderschönen Mädchen!
Nach dem Essen gingen wir nochmals zum Felsen und setzten uns dort hin, wir saßen nur da und sprachen nicht. Bald sahen wir uns in die Augen und umarmten uns, rückten näher zusammen und es passierte. Sie drehte ihren Kopf nochmals zu mir rum und sah mir tief in die Augen. Unsere Lippen fanden sich. Lange noch saßen wir auf dem Felsen und dann am Feuer und erzählten einander von uns selbst, träumten, wie es sein könnte und sahen uns an. Wie lange hatte ich auf so einen Abend gewartet, ein gutes Jahr hatte ich keine Freundin mehr gehabt, und nun traf ich ein Mädchen, Hunderte von Kilometern entfernt von Berlin. Ich konnte es noch immer nicht glauben. Wir saßen so lange am Feuer, dass wir den Sonnenaufgang beobachten konnten und bald danach, schliefen wir Arm in Arm auf den Schlafsäcken ein.
Unsanft wurden wir geweckt, vor uns standen ihre Eltern und rissen sie hoch. Wir wussten nicht, was sie dachten, vermutlich das Falsche. Wir kamen nicht dazu etwas zu erwidern, die Eltern schnappten sich Leonis Sachen und zogen sie mit zum Boot. Ich war noch wie benommen, als ich realisierte, was da vor sich lief, rannte ich hinter her. Als ich jedoch am Ufer angekommen war, fuhr das Boot schon auf den See hinauf. Ich sah ihr hinter her und sah sie am Heck stehen. Ich hörte sie noch rufen: „Es ist nicht meine Schuld, doch es hat wohl nicht sein sollen. Ich liebe dich!“ Dann wurde sie unter Deck gezogen. Ich trottete zum Zelt zurück und versuchte, so gut es ging, alles zu beseitigen, was mich an die letzte Nacht erinnerte und ich entbehren konnte. Dabei fiel mir ein Foto in die Hände, das nicht mir gehörte, ich drehte es um und auf der Vorderseite lächelte mir Leoni entgegen. Ich setzte mich hin und fing an zu weinen. Warum, Warum passiert gerade mir so etwas? Warum?
Nun lag ich also wieder auf meinem Schlafsack und weinte. Es war mein letzter Abend hier an diesem See gewesen und nachher musste ich zurück in die Stadt, um morgen meinen Zug zu bekommen. Dann habe ich nur noch ihr Foto. Warum hat es nicht sein sollen? Warum?