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Es war wie früher

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15.02.2023
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Es war wie früher

Es war wie früher

Es war am Nachmittag des Heiligabend. Der junge Mann schmückte den Weihnachtsbaum in dem großen Wohnzimmer des Einfamilienhauses. Im Hintergrund lief der Plattenspieler mit der Musik von Bing Crosby, Liedern wie „Santa Claus“ oder „White Christmas“. Genau wie früher. Sein Vater war Englischlehrer und liebte amerikanische Weihnachtslieder. Und die wurden früher immer während des Baumschmückens gespielt.

Auch der Baumschmuck war noch der gleiche wie früher. In jedem steckte ein kleines Stück Erinnerung an die Kindheit: Da waren die zwanzig Kerzenhalter für die Wachskerzen, neunzehn vergoldet und nur einer aus Silber. An die Spitze des Baumes kam der große Strohstern. Dann war dort viel selbst gebastelter Baumschmuck: Kleine Sterne und Tannenbäume, die der junge Mann selbst als Kind gebastelt hatte, aber auch Fröbelsterne aus glitzerndem Papier, die noch älter sein mussten. Sie hatte es schon immer gegeben. Vielleicht hatte sie seine liebe Mutter einmal gebastelt, als er noch klein war. Dann waren da noch die vielen kleinen Holzfigürchen, die seine Mutter immer so geliebt hatte: Kleine Puppen mit Spielzeug, ein Schaukelpferd, eine Holzeisenbahn und kleine Engelchen. Der junge Mann achtete darauf, dass auch ja all die geliebten Figürchen, die ihm schon in seiner Kindheit so viel Freude bereitet hatten, wieder ihren Platz am Baum fanden: Der kleine Weihnachtsmann, der kleine Schneemann, der Holzengel mit der kaputten Nase. Alles sollte so sein wie früher, als er mit seiner Familie gemeinsam Weihnachten gefeiert hatte. Schließlich kamen noch bunte Weihnachtskugeln dazu - sie waren vergleichsweise neu, er konnte sich noch an Weihnachtsbäume ohne die Kugeln erinnern. Am Ende dann kam das Lametta. Der junge Mann gab sich Mühe, es seinem Vater gleich zu tun, der jeden Lamettastrang einzeln und nicht büschelweise über die Zweige gehängt hatte, auch wenn dem jungen Mann dazu eigentlich die Ruhe fehlte.

Schließlich war alles bereitet: Das Sofa an die Wand geschoben, so wie es früher immer gemacht wurde, damit mehr Platz zum Spielen im Wohnzimmer war; die Fensterbänke und Tische dekoriert, der Baum geschmückt. Der junge Mann war glücklich

Draußen fing es mittlerweile an dunkel zu werden. Der junge Mann ging durch die Straßen der kleinen Stadt Richtung Kirche. Es war ruhig geworden und es fuhren nur noch sehr wenige Autos auf den Straßen. Durch die Fenster der Einfamilienhäuser konnte man die brennenden Weihnachtsbäume und andere Weihnachtslichter sehen. Der junge Mann war kein Kirchgänger, aber heute war Heiligabend und es war seine Kirche, die Kirche, die er von klein auf kannte und die ihm vertraut war. Und es gab noch denselben Pastor, der ihn getauft und konfirmiert hatte. Der junge Mann liebte es, die alten Weihnachtslieder bei Orgelmusik zu singen. Dann fühlte er sich zurückversetzt in die Zeit der Weihnachtsfeste, als er noch ein Kind war.

Nach dem Gottesdienst trat vor der Kirche eine ältere Frau mit langem weißen Haar, eine Nachbarin, begleitet von ihrem Ehemann, zu dem jungen Mann. Ob er nicht heute am Heiligen Abend zum Essen kommen möchte, damit er Weihnachten nicht alleine feiern müsse. Der junge Mann lehnte freundlich und dankend ab, er werde dieses Weihnachten nicht alleine sein.

Nachdem er aus der Kirche zurückgegehrt war, gegen sieben Uhr abends war es dann soweit: Der lang ersehnte Besuch kam. Lächelnd und voller Freude traten seine lieben Eltern, sein Bruder und seine geliebten Großeltern in die Eingangsdiele. Der junge Mann drückte sie minutenlang vor Freude. Es war wie früher.

Sie traten gemeinsam in das Weihnachtszimmer und es gab das obligatorische „oh“ und „ah“ seiner Mutter und Großmutter beim Anblick des brennenden Tannenbaums.

Der junge Mann setzte sich ans Klavier und spielte Weihnachtslieder. Am liebsten mochte er „Oh Tannenbaum“. Beim Singen der Strophe „Die Hoffnung und Beständigkeit, gibt Trost und Kraft zu jeder Zeit“ rannten ihm Tränen der Rührung über die Wange. Danach spielte er traditionell das Lieblingslied seiner Großmutter, „Am Weihnachtsbaume, die Lichter brennen“. Besonders festlich und stimmungsvoll wurde es, als „Stille Nacht“ und „O du Fröhliche“ erklangen, so wie früher.

Dann sagte sein Bruder noch ein kurzes Gedicht auf. Sein Bruder war zwar älter, aber er war behindert und geistig auf dem Stand eines zwölfjährigen Jungen. Deshalb war er immer voller Weihnachtsfreude wie ein Kind in diesem Alter.

Schließlich wurde es Zeit für die Bescherung. Der junge Mann hatte schon vor Wochen und Monaten ganz besondere Geschenke für seine Lieben besorgt, wann immer ihm im Laufe des Jahres etwas passendes unter die Augen kam. Es bereitete ihm große Freude zuzusehen, wie das Papier langsam entfernt wurde und sich seine Lieben über die Geschenke freuten. Ein Buch, eine Weihnachtskerze, ein gerahmtes Foto, einen Kalender. Für seinen Bruder gab es eine Spielzeugbahn. Die Augen blitzten wie die eines Kindes, und er machte sich sofort daran, die Bahn rund um den Tannenbaum aufzubauen und damit zu spielen. Weihnachten mit seinem behinderten, ja zurückgebliebenen Bruder war etwas ganz besonderes. Es war wie ein Kinder-Weihnachtsfest. Es war wie früher. Dem jungen Mann machte es nichts aus, dass er keine Geschenke bekam. Für ihn war es viel schöner, andere zu beschenken.

Nach der Bescherung wurde dann wie immer gegessen. Die Erwachsenen begaben sich nach nebenan ins Esszimmer, wo der junge Mann bereits die Tafel gedeckt hatte. Nur sein Bruder spielte weiter im Weihnachtszimmer, dazu lief im Hintergrund der Plattenspieler mit Weihnachtsliedern. Zum Essen gab es Karpfen mit Kartoffeln, Meerrettig und flüssiger Butter, so wie früher. Der junge Mann hatte den Vormittag genutzt, alles so weit vorzubereiten, dass es nur noch kurz erwärmt werden musste.

Für den jungen Mann war das Essen im Kreise seiner Lieben der Höhepunkt, der schönste Moment des Heiligen Abend. Lange blieben sie am Tisch sitzen, auch wenn gar nicht so viel gegessen wurde. Es wurden Geschichten von früher erzählt, sich der alten Weihnachtsfeste erinnert, Anekdoten aus den Familienannalen aufgefrischt und viel gelacht. Dabei betrachteten sie den Bruder, wie er voll zufriedener Glückseligkeit mit seiner Spielzeugbahn vor dem Tannenbaum spielte.

Endlich konnte der junge Mann sich auch mit seinem Großvater unterhalten. Sein Großvater war sehr alt und hatte bereits im Weltkriege gedient. Der junge Mann war früher zu jung, um die geschichtlichen Hintergründe zu verstehen. Nun war er erwachsen und interessierte sich sehr für die Vergangenheit. Er lauschte den Erzählungen der beiden Großeltern, ihren Geschichten vom Krieg, von Not und Vertreibung, von den schicksalsschweren Stunden des Heimatlandes im letzten Kriege. Sich hierüber noch einmal mit seinen Großeltern, besonders mit seinem Großvater zu unterhalten, noch einmal ihre Lebensgeschichte hören zu dürfen, davon hatte der junge Mann lange und voller Sehnsucht geträumt. Er sah in die liebevollen, starr blickenden Augen seiner Großmutter. Er fühlte sich wohl in dieser Runde und war im Herzen dankbar und glücklich. Es war wie früher.

Nach dem Essen gab es traditionell einen bunten Teller mit vielen Pralinen und Schokolade. Für seine Mutter hatte er extra Pfefferminz in Schokolade gekauft, dies hatte sie am Heiligen Abend immer so gerne gegessen.

Die Weihnachtspost wurde geöffnet, auch dies immer ein Moment großer Freude: Da war der traditionelle Brief von der Familie N., ganz entfernten Verwandten. Es gab jedes Jahr eine Karte mit „Ein frohes Fest“ auf der Vorderseite und „wünscht Familie N.“ im Karteninneren. Nichts weiter, kein Wort über das vergangene Jahr. Jedes Mal hatte sein Vater dann mit verzeihendem Humor die Frage gestellt, wozu diese Karte überhaupt geschrieben wurde. Und dann war da die Weihnachtskarte von seinem Onkel, die immer voller Inbrunst geschrieben wurde, und mit ebenso vielen Rechtschreibfehlern. Mit verzeihendem Schmunzeln wurde dies in jedem Jahr aufs Neue verlesen. Und dann das übliche Weihnachtspaket der entfernten Verwandten aus Übersee - immer mit ganz besonderen Spezialitäten.

Danach wurden traditionell noch einige der alten Filme mit dem Vorführapparat angesehen, die sein Großvater vor vielen Jahren gedreht hatte. Gemeinsam erinnerte man sich in Dankbarkeit der alten Zeiten. Auch wurde noch ein wenig Ferngesehen. Zum Ritual gehörten die Weihnachtsfilme „Wir sind keine Engel“ oder „Ist das Leben nicht schön“, je nach dem, was gerade gesendet wurde.

Manchmal waren sie früher noch in die Mitternachtsmesse gegangen, aber heute war es einfach zu gemütlich und zu schön, all die Lieben so nahe bei sich zu haben, als noch einmal in die Kälte hinaus zu gehen.

Um diese Zeit kam die Nachbarin mit dem langen weißen Haar von der Mitternachtsmesse zurück, begleitet von ihrem Mann und einer anderen älteren Dame. Sie blickten auf das Einfamilienhaus. Die Nachbarin sagte zu der älteren Dame: „Schade, dass der arme junge Mann heute nicht zu uns gekommen ist. Er ist immer so nett und höflich, und er tut mir so leid. Es ist traurig, dass er so alleine ist. Seine Eltern und sein Bruder sind bei einem Unfall ums Leben gekommen und seine Großeltern sind auch schon lange tot. Er ist immer so allein.“

Doch der junge Mann lag zufrieden und glücklich in seinem Bett und dachte noch einmal an den zauberhaften Abend, den er im Kreise seiner Lieben erlebt hatte. Gern hätte er seine Lieben für immer bei sich behalten. Gern hätte er ihnen noch länger zugehört, gerne noch länger mit ihnen gelacht und sich der alten Zeit erinnert. Es war ein wunderschöner Weihnachtsabend. Alles war so gewesen wie früher.

Ralf Seeck

 

Hallo @RalfSeeck

und vor allem herzlich Willkommen hier.

Die Idee der Geschichte finde ich wünderschön.

Es war am Nachmittag des Heiligabend.
Der erste Satz. Er ist oft Richtungsweisend für die ganze Geschichte - so sehe ich das auch hier. Er berichtet über die Zeit - er ist nicht falsch, verleiht dem Text aber auch keine Nähe. Und das ist Schade.
Der junge Mann schmückte den Weihnachtsbaum in dem großen Wohnzimmer des Einfamilienhauses.
Warum nicht damit starten? Da ist man gleich mittendrin, dass es Nachmittags ist, wird einem später immernoch klar.

Im Hintergrund lief der Plattenspieler mit der Musik von Bing Crosby, Liedern wie „Santa Claus“ oder „White Christmas“.
Mit der Auflistung der Lieder machst Du leider den Moment kaputt, weil mehrere Lieder eine Zeitspanne beschreiben und man so aus dem Moment des Schmückens herausgeholt wird.

Insgesammt geht es sehr "berichtend" weiter. Das schafft etwas Abstand zum Geschehen, was schade ist, weil man die Wärme, die der Text vermitteln will, nicht spürt.

Ich hoffe, Du verstehst, was ich meine.

Sie traten gemeinsam in das Weihnachtszimmer und es gab das obligatorische „oh“ und „ah“ seiner Mutter und Großmutter beim Anblick des brennenden Tannenbaums.
Dieser Satz ist leider unfreiwillig komisch, weil ich eher an Rauch und Feuerlöscher dachte, als an einen schön beleuchteten Baum ;)
Um diese Zeit kam die Nachbarin mit dem langen weißen Haar von der Mitternachtsmesse zurück, begleitet von ihrem Mann und einer anderen älteren Dame. Sie blickten auf das Einfamilienhaus. Die Nachbarin sagte zu der älteren Dame:

Zum Einen machst Du es mit der älteren Dame unnötig kompliziert. Lass die Nachbarin doch einfach zu ihrem Mann sprechen.
Zum Anderen wirkt diese Szene aber so deplaziert. Weil es die einzige Szene ist, die nicht am jungen Mann bleibt, sondern Außerhalb seiner Welt spielt. Klar, das ist die "Pointe", der Kick des Textes. Ich habe leider auch gerade keinen Lösungsvorschlag dafür parat.

Fazit: Wie anfangs erwähnt finde ich die Idee Herz-erwärmend schön. Finde aber, dass durch die berichterstattende Form vieles an Wärme verloren geht.

Ich hoffe, Du kannst mit dem Kommentar etwas anfangen.
gern gelesen
pantoholli

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo erst einmal!

Leider fällt meine Kritik nicht annähernd so gut aus wie die der Vorkritikerin; was jedoch würde es dir helfen, wenn ich dir nicht sagte, was ich meine? Ich hoffe, du nimmst es nicht persönlich. Ich kenne dich ja auch nicht und bespreche ausschließlich den Text.
Der ist so hochgradig schönfärberisch-unrealistisch, dass es (mir) weh tut. Die Figuren sind alle „die Lieben“, alles ist perfekt und harmonisch wie in einem Bilderbuch; ich kann da keine echten Menschen entdecken, nur Abziehbilder. Das ist wie eine Kitsch-Postkarte oder der Coca Cola-Weihnachts-Commercial.


Ja, selbst von den nicht 'so schönen Dinge des Lebens' – zum Beispiel Krieg und Vertreibung – zu hören, davon träumt der Protagonist:

Sich hierüber noch einmal mit seinen Großeltern, besonders mit seinem Großvater zu unterhalten, noch einmal ihre Lebensgeschichte hören zu dürfen, davon hatte der junge Mann lange und voller Sehnsucht geträumt
Auch die Formulierungen sind reine Klischees: die „schicksalschweren Stunden des Heimatlandes“ (wie bitte? Wo hast du das abgeschrieben? möcht ich fragen) - der Großvater, der bereits „im Weltkriege gedient hatte“ (was hat er da genau gemacht? Er hat 'gedient'? Wem? Dem Vaterlande? Meinst du Deutschland in einem der letzten Weltkriege damit?).
Nichts wird hinterfragt, reflektiert, in der Tiefe betrachtet. Nur Euphemismen, nur Schablonen kann ich entdecken. Dazu passt, dass auch keiner einen Namen hat, sondern eben „der junge Mann“ ist oder „die Großmutter“ oder früher der „dem Vaterland Dienende“. Im Krieg.


Gemeinsam erinnerte man sich in Dankbarkeit der alten Zeiten.
Ja, muss ja wunderbare Geschichten gegeben haben, da, wo der Großvater „diente“. Sicher viel Liebe und Freude für alle – entschuldige, dass ich da nun etwas zynisch werde. Aber ist ja auch toll, wie sie da alle körperlich und seelisch unversehrt aus dem Schlamassel rausgekommen sind.

Es gibt in der Geschichte zwangsläufig auch keinen Konflikt, nicht zwischen den Personen, nicht von einzelnen Personen mit ihrer Lebensgeschichte, nicht in der Story selbst; folgerichtig gibt es auch keine Entwicklung. Geht auch nicht, weil ein Abziehbild sich eben nicht entwickelt. Es ist ja perfekt, alle sind wundervoll, keiner hat oder macht Probleme.

Auch wenn ich irgendwie gehofft hatte, irgendwie gehofft, da komme noch eine Brechung, eine auktoriale Distanz, ein anderer oder neuer Blickwinkel, ein intervenierendes Moment.


Zum Beispiel als die Nachbarn auftauchen:

„Schade, dass der arme junge Mann heute nicht zu uns gekommen ist. Er ist immer so nett und höflich, und er tut mir so leid. Es ist traurig, dass er so alleine ist. Seine Eltern und sein Bruder sind bei einem Unfall ums Leben gekommen und seine Großeltern sind auch schon lange tot. Er ist immer so allein.“
Aber auch das ist einfach unrealistisch geboten. Wem erzählt die alte Nachbarin (auch sie ohne Namen, auch sie nur Funktion) die Neuigkeit? Dass die bei einem Unfall gestorben sind? Ihrem Mann? Nein, dem Leser erzählt sie es, damit der auch Bescheid weiß über den armen namenlosen Jungen. Ihr Mann weiß das ja sicherlich schon etwas länger.

Noch eine Kleinigkeit am Rande, du solltest auch deine Formulierungen prüfen, wenn sie von dir sind:

Er sah in die liebevollen, starr blickenden Augen seiner Großmutter
Wie stellt man sich liebevolle, starr blickende Augen denn vor?

Nichts für ungut, irgendwie tut es mir auch leid, so hart zu klingen, doch wenn du eine wirklich interessante Geschichte schreiben willst, solltest du die Punkte betrachten.


Flac

 

Vielen Dank für die Hinweise. Deshalb bin ich hier bei "Wortkrieger", um konstruktive Tipps für eine schriftstellerische Weiterentwicklung zu bekommen. Dankeschön.

 

Vielen Dank für die Hinweise. Ich bin dankbar für alle Hinweise hier bei "Wortkrieger", nur so komme ich voran. Danke.

 

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