Mitglied
- Beitritt
- 21.07.2014
- Beiträge
- 13
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Fahrt in die Provinz
Fahrt in die Provinz
Friedewald. Was für ein provinzieller Bahnhof! Selbst die Bahnhofshalle lud dazu ein, die nächste Bahn sofort wieder zurück zu nehmen. Wohin auch immer, nur weg von hier. Abbas stieg aus dem Zug und lief Richtung Innenstadt.
Die Kulturreferentin hatte ihm ein Zimmer im Schlosshotel gebucht und den Weg dorthin beschrieben. Es war nicht weit vom Bahnhof entfernt und konnte gut zu Fuß erreicht werden. Ein Blick auf die Uhr: Zehn vor vier. Um fünf Uhr sollte die Lesung in den Tagungsräumen des Hotels stattfinden. Wie vor jeder Lesung war Abbas aufgeregt. Seinen Text, den konnte er gelassen vorlesen, aber das ganze Drumherum machte ihn nervös: Die Leute vom Kulturreferat, die ihn begrüßen würden, die förmlichen Reden, deren es bedurfte, damit sich ein Gast an einem fremden Ort wohlfühlte. Gestelzte Witze, die wirklich niemanden amüsierten und die Atmosphäre auflockern sollten - all das hing Abbas zum Hals heraus. ‚Warum machte er das eigentlich?‘, fragte er sich, während er sein Hotel am Ende der Straße sah. Er dachte an seinen Literaturagenten, der immer wieder betonte, wie wichtig Vermarktung für noch unbekannte Autoren waren. Und Lesungen gehörten nun mal dazu. Für Abbas eine wahre Herausforderung. Er hatte schon elf Lesungen vor einem Publikum gehalten. Ein wenig Übung hatte er schon, aber dennoch pochte sein Herz.
Abbas reiste zeitlich knapp an. Im Hotelzimmer legte er seinen Koffer in die Ecke und klappte ihn auf. Seine Sachen für eine Nacht herauszunehmen lohnte sich nicht. Er zündete sich eine Zigarette an und schaute aus dem Fenster auf die Hauptstraße, die durch das Zentrum der Stadt führte. An der Ampel herrschte reges Treiben. Autos hielten, Menschen überquerten die Straße. Immer das gleiche Szenarium spielte sich vor seinem Auge ab, und dennoch blieb sein Blick an dieser Kreuzung haften. 16.25 Uhr. Abbas ging ins Bad und ließ kaltes Wasser über sein Gesicht laufen, schaute prüfend in den Spiegel und stieß ein leises Inshallah aus.
Es war Zeit, hinunter in die Halle zu gehen und sich den Organisatoren vom Kulturreferat und dem Vorsitzenden des Friedewalder Geschichtsvereins vorzustellen. Im Vorraum des Veranstaltungssaals wurde Sekt ausgeschenkt. Im Saal selbst sah man von hinten die Rücken der Gäste. Frauen mit großen Hüten und provinziellem Schick neigten sich ihren Sitznachbarn entgegen und unterhielten sich angeregt. Herr Hinterbein, der Vorsitzende des Geschichtsvereins, kam freundlich lächelnd auf Abbas zu und nahm ihn eilig mit in einen Raum hinter der Bühne. Dort stellte er ihm die Präsidentin des Kulturreferats vor. Frau Dornauf-Zwirn war eine schlanke, dunkelhaarige Frau mit Pagenkopf, zierlicher Hakennase und mäßigem Überbiss. Der gelbe Blazer unterstrich die Zerbrechlichkeit ihrer Erscheinung. Die schmalen Lippen waren auffallend rot geschminkt, und wenn sie nicht redete, zog sich ihr Mund zu einem roten Punkt zusammen. Ihr Gesicht verriet keine Emotion. Mit gut überlegten Worten begrüßte sie Abbas:
„Guten Tag, Herr Malik. Herzlich willkommen in Friedewald. Wie war Ihre Reise von Berlin hierher?“ Dieser begann seine Antwort mit „Salam aleikum“ und schob gleich ein „Friede sei mit dir!“ hinterher. Frau Dornauf-Zwirns Mund formierte sich zu einem Lächeln, doch ihre tiefliegenden Augen verrieten eine leichte Irritation, als ob man ihr am helllichten Tag einen starken Whisky angeboten hätte. Dann erläuterte sie Abbas das geplante Programm und schaute dabei flüchtig an ihrem Gast herunter. Der Anblick der hellblauen, etwas vergilbten Jeans, die abgewetzten Turnschuhe und die unkonventionelle Art des Schriftstellers beschäftigten Frau Dornauf-Zwirn offensichtlich. Mit einem weiteren, einstudierten Lächeln öffnete sie ihren rechten Arm und bedeutete Abbas, auf die Bühne zu treten.
Dort im Rampenlicht war also sein Platz für die nächsten zwei Stunden. Abbas lief mit etwas gebückter, fast demütiger Haltung auf den Tisch mit den beiden Stühlen zu. Er schaute nur kurz in den Saal, setzte sich auf einen Stuhl und wartete das Klatschen des Publikums ab. Herr Hinterbein nahm neben ihm Platz, zog sofort das Mikrofon zu sich:
„Guten Tag, meine verehrten Damen und Herren. Dem Kulturreferat in Zusammenarbeit mit dem Geschichtsverein Friedewald ist es gelungen, einen jungen Exilschriftsteller einzuladen, der uns heute aus seinem autobiografischen Roman Dem Himmel so nah vorlesen wird.“
Nach einer längeren Rede über die politische Situation im Irak übergab Herr Hinterbein das Wort an Frau Dornauf-Zwirn, die sich mit Abbas über seine schriftstellerische Tätigkeit unterhalten würde. Frau Dornauf-Zwirn setzte sich neben den Autor, schaute bedächtig nach unten und begann:
„Herr Malik, Sie haben im vergangenen Mai den Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil verliehen bekommen, Sie wurden im Dezember mit dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet, und die Queen-Mary-College-University of London hat Ihnen ein zehnwöchiges Stipendium finanziert. Wie war das für Sie?“
„Das war alles toll, nur das Wetter in London war beschissen.“
Abbas antwortete mit einem starken Akzent. Er zog die vorletzte Silbe von beschissen ein wenig in die Länge und schaute lachend, aber etwas verlegen in die Runde. Zu seiner Erleichterung lachte das Publikum. Der Anfang war geschafft und Abbas begann zu erzählen, was er immer auf Lesungen erzählte. Mit einem ironischen Augenzwinkern berichtete er aus seinem Leben als Flüchtling in Deutschland, er beschrieb seine Verhaftung in einer bayerischen Kleinstadt und erklärte schließlich, wie er zum Schreiben gekommen war. Wohlbedacht klammerte er seine Erlebnisse im irakischen Gefängnis aus. Dann nahm er sein Buch zur Hand, öffnete es an einer Stelle, die mit einem Notizzettel markiert war und begann zu lesen. Es waren starke, emotionsgeladene Schauplätze, an die Abbas seine Leser heranführte, angefangen mit der Liebesgeschichte seiner Eltern. Die sinnlich-orientalische Erzählkunst amüsierte Abbas‘ Zuhörer. Einige neigten ihren Kopf zur Seite und ließen sich bereitwillig in die Welt des Morgenlandes entführen. Selbst Frau Dornauf-Zwirn schien sich von der Anstrengung der ersten Begegnung mit dem außergewöhnlichen Schriftsteller erholt zu haben. Sie lauschte den Worten des Orientalen.
Schließlich wechselte der Tonus des Vorlesers. Die Reaktion der Zuhörer war prompt an ihrer sich versteifenden Körperhaltung zu erkennen. Manche richteten sich wieder auf. Eine aufgeregte Stille schwappte dem Erzähler entgegen. Die vollkommene Aufmerksamkeit nutzte Abbas, um eine Folterszene im irakischen Gefängnis eindrucksvoll vorzutragen. Ein brutaler Wärter quälte einen Inhaftierten und schrie ihn an:
„Hör mal, du Arschloch! Wenn du nicht sagst, für welche Organisation du arbeitest, dann sorge ich dafür, dass dich alle Wärter und Gefangenen hier ficken.“
Angespannte Stille. Das letzte Wort echote im Saal. Frau Dornauf-Zwirns Gesicht blieb regungslos und doch war darin das ganze Entsetzen über alle Unanständigkeiten dieser Welt zu lesen. Was für einen Schriftsteller hatten sie da eingeladen? Und das sollte große Literatur sein? Der kleine, rotgeschminkte Mund verkrampfte sich, und die Lippen wirkten seltsam hell. Der einzige lebendige unter den Hörern war Herr Hinterbein. In der ersten Reihe sitzend drehte er sich heimlich amüsiert zu den Gästen im Saal um und schaute in ihre Gesichter. Ein Schmunzeln konnte er sich nicht verkneifen. Als Abbas schließlich mit der Lesung seines Buches geendet hatte, wehte ein Hauch von Erleichterung um die Köpfe der Zuhörer.
Auch von Abbas fiel die Anspannung ab. Er wusste, dass sein Text eine kleine Zumutung für die Hörer war. Dennoch: Er wollte bewusst provozieren, um mit seiner Geschichte im Gedächtnis der Menschen zu bleiben.
Nach einem langen Applaus wurden Worte des Dankes und der Anerkennung ausgesprochen, Hände geschüttelt und schließlich eine gute Heimreise nach Berlin gewünscht.
Als Abbas die Bühne verließ und Richtung Ausgang zusteuerte, fädelten sich viele Gäste zu einer Schlange auf. Sie alle wollten ein Autogramm des Vortragenden bekommen. Eine ältere Dame legte ihre Hand auf seinen Arm und schaute ihm einen Moment in die Augen, bevor sie anfing zu sprechen: „Sie haben die Hölle erlebt und sind nicht daran zerbrochen! Das sehe ich in Ihrem Blick. Sie sind ein starker Mann. Ich wünsche Ihnen viel Kraft für die Zukunft!“ Abbas war gerührt und bedankte sich für die klugen Worte. Er fragte nach ihrem Vornamen und kritzelte eine kurze Widmung in ihr Buch. Dann kam ein junger Mann mit Schildkappe an die Reihe. „Echt krass, was du im Knast mitgemacht hast. Respekt!“, sagte er mit einem leichten Kopfnicken. Abbas las aufrichtige Anerkennung in seinem Gesicht und antwortete mit einem freundschaftlichen Schulterklopfer.
Abbas war noch lange mit Autogrammschreiben beschäftigt. Er freute sich über all die ergriffenen Zuhörer, die für einen Nachmittag in seine Welt eingetaucht waren und an seinem Schicksal teilnahmen. Es war ein schönes Gefühl, mit diesen Menschen durch seine Worte verbunden zu sein. Als er am nächsten Morgen das Hotel verließ und Richtung Bahnhof lief, war Abbas sich nun sicher: Es hatte sich gelohnt, nach Friedewald zu kommen. Es hatte sich wirklich gelohnt.