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Fake

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24.01.2018
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Fake

Pummelig war sie schon als Kind. „Iss, sonst…“ Die angedrohte Konsequenz reichte immer, um auch den letzten Bissen zu schlucken. In der Schule hatte sie Glück. Es gab dickere, dümmere und kleinere Kinder, die sich als Mobbingopfer noch besser eigneten als sie selbst. Ihr erster Kuss erwies sich als Mutprobe unter pubertierenden Brillenträgern. Während des Studiums hatte sie Vorlesungssäle gemieden, nachdem ein Klappsitz unter ihrem Hintern weggebrochen war und sie zum Highlight der ödesten Veranstaltung des Semesters wurde. Überqualifiziert, verkam sie seit Jahren zur Randfigur in einer Rechtsanwaltskanzlei für Steuerrecht mit Schreibtisch hinten links bei den Toiletten. Sie liebte Leggings, schwarze Strickjacken und ihre mausbraunen Haare, die ihr in dichten Wellen über die fleischigen Schultern fielen.

Jetzt sah sie Fleisch - helles Fleisch im Schein kalten Neonlichts. Die Enge der Kabine verursachte Enge in ihrer Kehle und es blieb die Frage, warum in einem Bekleidungsgeschäft für Übergrößen die Umkleiden so klein waren. Schnell streifte sie die riesige, bunte Tunika über den Kopf und strich den weichen Seidenstoff über ihren Hüften glatt, als müsse sie Hände auf heiße Herdplatten legen. Absurder Gedanken, dem Frühling etwas Farbe abzugewinnen - genauso absurd wie die Hoffnung, dem neuen Nachbarn mehr als nur ungelenke Hilfe beim Aufbau seines Tapeziertisches zu sein.
Bruchteilchen von Zeit fiel ihr Blick auf das Spiegelbild, bevor sie sich umdrehte und das Kleidungsstück in einem Ruck von ihrem Körper riss. Mit geschlossenen Augen versank sie in gewohnter Baumwollweite und gewann etwas an Sicherheit zurück.
Noch bevor die bemühte Verkäuferin ihr ein aufdringliches „…und, passt?“ zurufen konnte, fielen die dicken Glastüren bereits hinter ihr zu und sie stand schwer atmend auf der Straße. Das war keinen Versuch wert gewesen – jetzt eine Tasse Kaffee und heute mal die Milch weglassen.

„Ein Kännchen Kakao bitte. - Ja, mit Sahne – und so eine Zitronenrolle.“ Sie versuchte erst gar nicht, ihre Beine übereinander zu schlagen und rutschte mit ihrem Stuhl so weit in die Ecke, dass sie sehen, aber nicht gesehen werden konnte.
Die kleine Gabel glitt in die cremige Masse des Kuchens und sie fühlte sich schuldig. Da fiel ihr Blick auf eine atemberaubend langbeinige Schönheit am anderen Ende des Cafés. Dieses blonde Geschöpf hatte gerade den langen Löffel tief in einen riesigen Eisbecher gesteckt, leckte ihn nun aufreizend langsam ab und flirtete intensiv mit ihrer Saubermann-Begleitung. Na toll. Da war sie doch wieder – diese unmenschliche Ungerechtigkeit. Zum ungezählten Mal kapitulierend, schob sie ihre Gabel in den Mund und senkte den Blick. Es waren immer die anderen, die ein Leben hatten. Sie selbst war einfach nur da.

Mit dem Wechselgeld noch in der Hand, schob sie ihren Hintern an einem Tisch junger Mädchen vorbei Richtung WC. Sie hatte Übung darin, Bemerkungen über ihre Statur irgendwo zwischen Hirn und Herz abprallen zu lassen. Teenager sind grausam – fast so grausam wie Kinder.
Flüchtig wusch sie sich die klebrigen Sahnereste von den Fingern, als würgende und spuckende Geräusche aus einer der Toilettenkabinen sie aufhorchen ließen. Sie wollte gerade höflich fragen, ob Hilfe nötig sei, da öffnete sich die Tür. Das blonde Eisbecher-Wesen trat kühl und beherrscht neben sie an die Waschbecken, tupfte ihre Lippen trocken und kontrollierte ihr Make-up. „Mein Magen…“ sagte sie knapp und wirkte doch irgendwie beschämt. Dann drehte sie sich, strich sich über den Bauch und kontrollierte ihre flache Silhouette. Wortlos stöckelte die Frau hinaus. Der zurückgebliebene Fleischberg erschien sich nun doppelt gewichtig und schaute der Dünnen verwirrt hinterher.

Ach so. Ein Lächeln breitete sich irgendwo in ihr aus und eine Art Erkenntnis durchfuhr sie wie eine Offenbarung.
Sie trat in die Kabine, wo Spuren von Erbrochenem Gestank verbreiteten. In ihrer Umhängetasche fand sie einen dicken Filzstift. Akkurat und langsam malte sie jetzt Buchstaben an die Trennwand.
„Hier bin ich FAKE.
Fast
Am
Kotzen
Erstickt“

Ein kleines Bimmeln ertönte, als sie die Glastür zum zweiten Mal öffnete. „Ich nehme die Bluse doch.“

 

Liebe DieSteffi,

auch ich begrüße dich bei den Wortkriegern.

Du formulierst gut, treffsicher und souverän.
Deine Geschichte hat mir aber trotzdem nicht gefallen. Du wirst dir vielleicht vorstellen können, warum das so ist. Du beschreibst eine unangenehme Szene im Leben einer unförmigen Frau. Der Blick des Erzählers auf diese Szene ist dabei meist ein eher kalter, konstatierender. Da ist nur wenig Ansatz von Sympathie für die Protagonistin, da geht es vordringlich um die Darstellung dessen, was ist.

Hin und wieder lässt du einen Blick in ihr Inneres zu, lässt sie reflektieren:

Pummelig war sie schon als Kind gewesen.

Absurder Gedanken, dem Frühling etwas Farbe abzugewinnen - genauso absurd wie die Hoffnung, dem neuen Nachbarn mehr als nur ungelenke Hilfe beim Aufbau seines Tapeziertisches zu sein.

Mit geschlossenen Augen versank sie in gewohnter Baumwollweite und gewann etwas an Sicherheit zurück.

Jetzt etwas sehr Subjektives: Als Leser komme ich mir über weite Strecken wie ein Voyeur vor, dem ein ungestalteter Mensch ‚vorgeführt’ wird. Seht mal, so ist das mit solchen Menschen. Zweck der Darstellung scheint mir die Darstellung selber. Mich bringt das insgesamt nicht viel weiter als ein Bild-Zeitungs-Artikel, in dem mir die Andersartigkeit von Menschen präsentiert wird. Auch wenn du deine Idee sprachlich wirklich gut umsetzt, frage ich mich am Ende, was mir eine solche Geschichte bringt. Öffnet sie mir irgendeine neue Erkenntnis außer der: Schau mal, was für arme, ungestaltete Menschen es doch gibt? Und auch die Intention der Autorin ist mir nicht ganz klar.

Den inneren Konflikt, den fortwährenden Kampf, den sie gegen sich selbst führt, deutest du nur an, führst ihn aber nicht wirklich aus.

Dein Schluss versucht dabei so etwas wie eine Lösung, als sie das Problem der Magersüchtigen erkennt. Allerdings habe ich das Gefühl, dass hier (wie auch im Titel) das Wort ‚Fake’ gewählt wurde, weil es im Moment in aller Munde ist und deshalb als Aufreißer für eine Geschichte dienen könnte. Mit dem Inhalt deiner Geschichte kann ich es nur auf Umwegen in Zusammenhang bringen: Die vermeintlich Glückliche hat eben solche Probleme wie deine Prota.

Fazit: Ich hätte mir etwas weniger ‚Vorführen’ und dafür mehr Innenschau gewünscht. Aber unterm Strich ist deine erste Geschichte hier eine wirklich gut geschriebene und ich kann meinem Vorredner nur zustimmen.

Ein paar Kleinigkeiten:

... strich den weichen Seidenstoff über ihren Hüften glattK als müsse sie Hände auf heiße Herdplatten legen.

fielen die dicken Glastüren bereits hinter ihr zusammen
Ich glaube, dass sie nur einfach zufielen.

Es waren immer die anderen, die ein Leben haben (hatten). Sie selbst ist (war) einfach nur da.
So bliebe diese Aussage auf der gewählten Zeitebene.

Liebe Grüße
barnhelm

 
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Lieber barnhelm,

vielen Dank für das ausführliche Feedback. Es ist schwer auszudrücken, was es in diesem Moment mit mir macht. Ich habe bislang nur eine Handvoll kleiner Geschichten geschrieben, träume an einem Liebesroman herum und habe noch NIE etwas irgendwo öffentlich gemacht. (Nicht mal im Freundeskreis). Jetzt habe ich das Gefühl etwas in die Spur bringen zu können, was sich sonst auf Trampelpfaden durch meine Mittagspausen zieht. (Was pathetisch, ich weiß. Sorry ;-) )
Ich kann Deine Kritik sehr gut nachvollziehen ! Sie verunsichert mich etwas, weil ich so viele Aspekte noch nie (ge-)bedacht habe. Aber ich bin schwer motiviert und überprüfe meine anderen Kurzgeschichten auf Herz, Perspektive und Sinn.
Bis bald und einen schönen Tag
Steffi


Liebe(r) Bas,
vielen Dank für das Feedback. Beim Einstellen meiner Geschichte hatte ich leichte Schnappatmung vor Aufregung - ich habe bislang noch NIE etwas veröffentlicht (nicht mal im Freundeskreis). Eigentlich habe ich nicht mal sehr viel geschrieben (außer Ideen in diversen Kladden gesammelt).
Ich kann Deine Kritik sehr gut nachvollziehen und freue mich sehr, dass Dir mein Stil gefällt.
Jetzt bin ich noch motivierter, fühle mich ernst genommen und auf der richtigen Spur.
Bis bald und Liebe Grüße
Steffi

 

Liebe DieSteffi,

auch von mir ein herzliches Willkommen hier!
Ich habe deine Geschichte grundsätzlich gerne gelesen, was in erster Linie daran liegt, dass du gut schreiben kannst. Auch das Thema finde ich ganz interessant, nur solltest du es weiter vertiefen, denn ich kann weder zu deiner Prota noch zu der Bulemikerin eine Beziehung herstellen. barnhelm hat dir vorgeschlagen, deiner Prota mehr Persönlichkeit zu geben, indem du sie mehr nach innen blicken lässt. Eine andere Möglichkeit wäre - wenn du im Außen bleiben möchtest - ein Dialog zwischen der Prota und der Bulemikerin oder irgenjemand anderem, dem sie von der Bewunderung für dieses Mädchen erzählt. Das wirkt insgesamt lebendiger, und die Nähe zu den Figuren lässt sich dadurch besser herstellen.

Den ersten Absatz halte ich für überflüssig. Es ist für die Geschichte nicht relevant, ob das Mädel schon immer dick war. Viel lieber würde ich erfahren, warum sie so viel isst. Und das nicht in Erzählform, sondern es müsste für mich aus der Geschichte insgesamt hervorgehen. Vielleicht trauert sie jemandem hinterher, hat ein schreckliches Erlebnis gehabt, das sie nicht vergessen kann und das innerhalb der Geschichte angedeutet wird. Das würde das Ganze mMn nicht nur spannender machen, sondern es gäbe deiner Prota eine Seele und lässt sie zu einem eigenständigen Menschen werden.

Momentan bleiben die Charaktere tatsächlich noch sehr beliebig, da ist von irgendeiner Dicken und irgendeiner Dünnen die Rede. Die Idee dahinter finde ich gut, auch den Überraschungseffekt, dass die Bewunderte genau so arm dran ist. Damit das aber auch seine Wirkung entfaltet, solltest du uns die Charaktere, wie gesagt, erstmal vorstellen. Klar kann ich mir was unter einer dünnen Blonden vorstellen, die erst Eis in sich reinschaufelt und dann kotzen geht. Nur berührt es mich nicht, weil sie eine von vielen bleibt. Lass sie handeln, so dass ich als Leserin genauso neidisch werde auf das perfekte Leben anderer, das dann doch nur Fake ist.

Ich denke, wenn du das Ganze noch vertiefst, könnte daraus eine sehr interessante Geschichte werden.

Liebe Grüße, Chai

 

Liebe(r) Chai,
vielen Dank für Dein Feedback. Drei Antworten auf meine kleine Geschichte und ich bekomme einen völlig neuen Blick auf das, was ich so tue (schreibe). Eine meiner größten Schwächen liegt in meiner fehlenden Geduld. Und die ist notwendig, Charaktere zu entwickeln und ihnen Raum und Zeit zu geben. Ich bin aber sehr motiviert und freue mich darauf, nicht nur eine nächste Geschichte einzustellen, sondern auch, viele andere Texte zu lesen.
Liebe Grüße und bis bald
Steffi

 

Hallo felixreiner,

vielen Dank für Dein Feedback.
Ich freue mich, dass Du meine Geschichte exakt so verstehst, wie ich sie gemeint habe. Je mehr ich hier lese (auch all die konstruktive Kritik) desto genauer verstehe ich die Schwächen meiner eigenen Texte und das man sie deshalb ganz anders liest, als ich das will.
Du machst mir Mut und ich bin schwer motiviert.
Herzliche Grüße
dieSteffi

 

Pummelig war sie schon als Kind gewesen. „Iss, sonst[...]…“ Die angedrohte Konsequenz reichte immer, um auch den letzten Bissen zu schlucken. In der Schule hatte sie Glück gehabt. Es gab Kinder, die waren dicker, dümmer, kleiner und als Mobbingopfer einfach noch besser geeignet als sie selbst. Ihr erster Kuss hatte sich als Mutprobe unter pubertierenden Brillenträgern erwiesen. Während des Studiums hatte sie Vorlesungssäle gemieden, nachdem ein Klappsitz unter ihrem Hintern weggebrochen war und sie zum Highlight der ödesten Veranstaltung des Semesters wurde. Überqualifiziert, war sie seit Jahren Randfigur in einer Rechtsanwaltskanzlei für Steuerrecht mit Schreibtisch hinten links bei den Toiletten. Sie liebte Leggings, schwarze Strickjacken und ihre mausbraunen Haare, die ihr in dichten Wellen über die fleischigen Schultern fielen.

Jetzt sah sie Fleisch -


Hallo Steffi -

vielleicht fragstu Dich gerade, warum zitiert der den ersten Absatz und den Anfang des zwoten. Die Lösung ist einfach, wenn auch nicht - um mit meiner eigenen Beschränktheit zu beginnen - weil ich statt

Sie liebte Leggings, schwarze Strickjacken und ihre mausbraunen Haare, ...
"Sie liebte Lessing, schwarze Strickjacken und ihre mausbraunen Haare, ..." gelesen hätte, sondern weil Du - an sich nix Falsches - an der aufwendigen Schulgrammatik klebst und Dich der Diktatur der Hilfsverben unterwirfst, die in der Kombination als Vollverb mit Eintönigkeit drohen:
... war ... gewesen. ... hatte ... gehabt. ... , die waren ... geeignet ... hatte sich ... erwiesen. ... hatte ... gemieden, ... weggebrochen war ... wurde. ... , war ...

"Jetzt" grenzt doch die Zeiten(folge) genug ab, dass selbst der größte Depp wissen sollte, was zuvor geschildert wird ist tatsächlich vor dem "Jetzt" und Hier zu-vor geschehen. Also warum nicht die Vorherrschaft der zusammengesetzten Zeiten durchbrechen, Hilfsverben zu Vollverben adeln und den Verwesungsgeruch des "gewesen" beseitigen? Nehmen wir den Absatz als Beispiel (Leerzeichen vor den Auslassungspunkten nicht vergessen und auch mal was anderes als nur Aussagesätze zulassen!!!)

"Pummelig war sie schon als Kind. „Iss, sonst …!“ Die angedrohte Konsequenz reichte immer, um auch den letzten Bissen zu schlucken. In der Schule hatte sie Glück. Es gab Kinder, dicker, dümmer, kleiner als sie selbst und somit als Mobbingopfer besser geeignet als sie selbst. Ihr erster Kuss galt als Mutprobe unter pubertierenden Brillenträgern. Während des Studiums mied sie Vorlesungssäle, nachdem ein Klappsitz unter ihrem Hintern wegbrach und sie zum Highlight der ödesten Veranstaltung des Semesters wurde. Überqualifiziert, geriet sie mit den Jahren zur Randfigur in einer Rechtsanwaltskanzlei für Steuerrecht mit Schreibtisch hinten links bei den Toiletten. ...

Musstu selber entscheiden ...

Hier die Passage

Die Enge der Kabine verursachte Enge in ihrer Kehle und ...
zeigt schön die Verwandtschaft von "Angst" (angust)und "Enge" (ahd. engi = eingeschnürt, zusammengedrückt), die sich heute noch im Plural Änsgte und Superlativ (am) engsten lautlich treffen.

So vieloder wenig vom

Friedel

 

Hallo Friedel,
ich kann Dir sagen: Danke für die "Erlaubnis", dieses gnadenlos epische Präteritum etwas aufzubrechen. Die gemoppelte Zeitenfolge hatte ich nachträglich eingefügt ... und empfand sie als fremd im Fluss.

Herzliche Grüße
Steffi

 

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