Fallen
Regentropfen rinnen an der Scheibe, die ein wenig angeschlagen ist, wie kleine Bäche herunter. Kalte Luft strömt herein, als der Busfahrer die Tür per Knopfdruck öffnet um jemanden einsteigen zu lassen. Mich fröstelt ein wenig, und ziehe den Reißverschluss meiner Regenjacke enger zu. Gedankenverloren sehe ich aus dem Fenster und überhöre fast wie mich ein Typ fragt, ob er sich auf den freien Platz neben mir setzten kann. Ich nicke nur und wende mich wieder zur Fensterscheibe, an der ich meinen Kopf anlehne.
Der Bus ruckelt an, wird immer schneller, sodass er, wenn der Busfahrer nicht vom Gas runtergeht, auf die andere Fahrbahn rüberschlittert. So ähnlich geht es mir jetzt auch. Ich muss vom „Gas“ herunter, dass ich nicht auf die schiefe Bahn gerate. Aber ich kann nicht. Ich kann irgendwie nicht aufhören damit. Ich brauche es, auch wenn mein Geld draufgeht. Ich weiß, ich habe den Punkt erreicht, wo man nicht mehr loskommt, wo man ohne dem nicht mehr „leben“ kann.
Der Regen wird stärker, donnert gegen die Windschutzscheibe, der Busfahrer drückt trotzdem noch auf das Gas. Der Bus wird langsamer.
Ich steige aus, bemerke, dass der Junge neben mir schon weg war, als ich mich von meinem Platz erhob.
Mit langsamen Schritten schlendere ich nach Hause. Es regnet wieder weniger, trotzdem ist es angenehm warm, sodass ich meine Jacke ausziehe.
Völlig durchnässt schließe ich die Haustüre auf.
Meine Mutter ist noch in der Arbeit, wahrscheinlich trinkt sie dann auch noch einen über den Durst, kommt stockbesoffen nach Hause, wie immer...
In meinem Zimmer drehe ich die Stereoanlage auf volle Lautstärke. „Close to the Flame“, eines meiner Lieblingslieder meiner Lieblingsband HIM, schallt durch den rot angestrichenen Raum. Ich hänge wieder meinen Gedanken nach, bin müde, doch der Regen zieht mich nach draußen.
Ich ziehe meine durchnässten, Chucks, wo ich den linken in grün und den rechten in pink habe, an, und schlendere zum nahegelegenen Strand, der nicht aus Sand besteht, sondern aus Steinen und Klippen.
Als ich unten am Meer bin, ziehe ich die Schuhe aus und gehe den Strand entlang. Es war noch immer warm, fast heiß, trotz des jetzt stärkeren Regens.
Die Wellen rollen schäumend auf das Ufer zu. Ich kremple meine schwarze Hose bis zu den Knien hinauf.
Ich suche meinem Lieblingsplatz auf, ein verstecktes Plätzchen umgeben von Klippen und Felsen, wo die Wellen hinaufschlagen und man so richtig nass wird.
Eigentlich bin ich schon nass vom Regen, doch es ist ein großartiges Gefühl wenn dir das Wasser ins Gesicht spritzt.
„...my broken wings pulls me down, this pain tortures my soul. Why can’t it stop? I cry for help, why don’t you hear me??…”, schießt es mir durch den Kopf. Ich weiß nicht warum ich jetzt genau dieses Lied singe, ich weiß auch nicht von welcher Band es ist, aber es gefällt mir.
Durch das Knirschen der Steine am Strand werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ich frage mich wer es ist, da sehe ich plötzlich Tim. Er ist mein bester Freund, ohne ihn könnte ich nicht leben, ihm kann ich alles erzählen, jedenfalls fast alles.
„Hey, ich wusste ja, dass du hier bist! Ich hab dich versucht auf deinem Handy zu erreichen, aber da ist keiner rangegangen“, und er klettert zu mir.
„Hi, wie geht’s dir“, begrüße ich ihn mit einer Umarmung.
„Ja, danke man lebt.“ Seine Augen wirken verloren, sein vom Regen nasses, schwarzes Haar klebt auf der Stirn.
„Was ist denn los? So kenne ich dich ja gar nicht.“
„Ach, nichts...“
„Hey, ich merk’ doch, dass da etwas nicht stimmt, ich kenne dich immerhin seit sechs Jahren.“
„Okay...“, seufzte er, „Ich will ganz ehrlich zu dir sein, es kann aber sein, dass unsere Freundschaft daran zerbricht, denn du willst dann sicher nicht mehr mit „so einem“ abhängen...“
Tim macht eine kleine Pause und sieht mir tief in die Augen.
„Ich...ich...brauch’ das einfach, ich weiß auch nicht wie ich da hineingeraten bin, aber ich kann nichts mehr daran ändern, ich...ich...Gott...“
Wieder stockt er.
„Tim, sag’ mir bitte jetzt was los ist!?!“ flehe ich, denn langsam mache ich mir Sorgen um ihn.
Wieder sieht er mir tief in die Augen, wendet aber schnell seinen Blick wieder ab.
„ICH BIN DROGENABHÄNGIG“ , schreit er, fast weinend.
Ich kann nicht glauben, was er da gerade sagte. Er will aufspringen und weglaufen, doch ich halte ihn fest. Ich werde jetzt ganz ruhig.
„Tim...setz’ dich bitte wieder hin“, sage ich mit einem befehlendem Ton. Er macht was ich ihm sage.
„Es gibt da auch etwas, das ich dir sagen muss...“
„Was denn, bitte“, flüstert er mit zitternder Stimme.
„Ich...ich...bin auch drogenabhängig.“ Ich schlucke meine Wut gegen mich selbst hinunter.
Tim sieht mich an. Nicht schockiert, nicht wütend, nein, ganz zärtlich. Ich muss in seine schönen, dunkelbraunen, ja fast schwarzen Augen sehen. Irgendwie fühle ich mich wie in einen Bann gezogen, wie in Trance. Ich glaube all meine Sorgen vergessen zu haben. Seine Augen scheinen näher zu kommen, plötzlich spüre ich seine Lippen auf meinen. Sie waren weich und sanft, ein Kribbeln durchfährt meinen Körper. Ein gutes Gefühl macht sich in mir breit, welches ich schon lange nicht mehr hatte. Ein Gefühl der Geborgenheit, geliebt zu werden, ein Gefühl, das mir schon lange nicht mehr gegeben wurde.
Wochen vergingen und unsere Sucht wurde ärger. Gemeinsam probierten wir immer härtere Drogen aus, doch waren wir noch nicht beim härtesten angelangt.
Die letzten Tage bis zum Anstehenden HIM - Konzert, vergingen schnell und nun stehen Tim und ich vor der Bühne in der 4. Reihe, wo wir uns die schreckliche Vorband von HIM anhören. Da jeder in „Partystimmung“ ist, nehme ich schnell eine kleine Spritze aus meiner Tasche und injiziere mir den Inhalt. Ein paar Sekunden und ich bin wieder voll da. Ich sehe wie Tim das gleiche macht.
Dann lautes Kreischen, Ville, Linde, Gas, Burton und Migè treten auf die Bühne. Sie beginnen mit „Wicked Game“ und fahren mit andere schnelle Lieder fort. Ich schreie den Text mit, bin total aufgedreht. Plötzlich diese Melodie, Ville kreischt „Join me, the song for all lovers“ in das Mikrofon. Ich spüre einen festen Griff um meine Hüfte. Tim dreht mich zu sich und küsst mich. Ich bin wieder wie in Trance, spüre dieses Gefühl wieder.
Zu Hause angekommen, gehen wir in mein Zimmer. Meine Mutter ist nicht da...wie immer.
Ich lege mich aufs Bett, denn ich bin völlig erschöpft. Tim setzt sich zu mir.
„Was hältst du davon, wenn wir noch kurz an den Strand gehen“, fragt er in einem sanften Ton.
„Jetzt noch? Ich bin echt müde!“ Er küsst mich.
„Ja jetzt noch! Wenn du das nimmst geht’s dir sicher besser.“
Er hält eine kleine Plastiktüte mit weißem Pulver hoch.
Obwohl ich solche starken Drogen noch nie genommen hatte, zögere ich nicht lange und pumpe mir das Zeug in den Körper. Plötzlich spielt wieder dieses unbekannte, aber schöne Lied in mir: „...my broken wings pull me down. This pain tortures my soul. Why can’t it stop? God, I cry for help, why don’t you hear me? Now I’m liing here on the ground and I know I am fallen…”
Ja, ich bin gefallen, sehr tief gefallen…
Wir sind fast am Strand, doch Tim schlägt jetzt eine andere Richtung ein.
„Ich zeig dir jetzt MEINEN Lieblingsplatz, schließe deine Augen, aber ja nicht schummeln, okay?“
Ich tue was er sagt und gebe ihm die Hand.
„Augen auf!“
Ich öffne meine Augen und habe eine wunderbare Aussicht vor mir. Es ist nur das weite Meer zu sehen, der Mond spiegelt sich darin und die Wellen schlagen an die Klippe. Jetzt erst bemerke ich, dass es da mindestens 300 Meter hinuntergeht.
„Gefällt es dir“, fragt mich Tim und setzt sich auf den Rand der Klippe. Ich setzte mich zu ihm.
„Ja, es ist wunderschön!“ Nochmals höre ich dieses Lied in mir. Ich möchte wissen woher es kommt.
„Tim?“
„Ja, Schatz, was ist?“
„Hörst du auch immer so ein unbekanntes Lied in dir?“
„Nein, welches?”
"...my broken wings pull me down, this pain tortures my soul...Woher kommt das, weißt du von welcher Band es ist?“
„Nein, tut mir leid, aber ist doch völlig egal, oder?“
„Nein, ist es nicht. Dieser Text passt genau zu meinem Leben, das ist etwas seltsam.“
„Naja...schon, aber...“, weiter kommt er nicht, denn das Klingeln meines Handys unterbricht ihn. Ich nehme ab.
„Grüß Gott, spricht hier Shy Lindström“, meldet sich eine tiefe Stimme.
„Ja, wer sind Sie, bitte?“
„Ich bin Mr. Pärsenäkken, Beamter der Polizei. Ich habe schlechte Nachrichten für Sie. Ihre Mutter ist bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Sie war stark alkoholisiert."
Ich stehe völlig unter Schock, bemerke nicht einmal, dass mir das Handy aus der Hand rutscht und ins Meer hinabfällt. Tränen steigen mir in die Augen. Eigentlich hasste ich meine Mutter, doch ganz tief in mir liebte ich sie. Ich kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
„Hey, Süße, was ist denn“, fragt Tim und umarmt mich.
Schluchzend bringe ich ein paar unverständliche Wörter heraus, doch mein Freund versteht mich sofort.
„Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr. Dieses Leben muss ein Ende haben, es kann so nicht mehr weitergehen. I’m liing here on the ground and i know I am fallen…”
“Meinst du das Ernst?“
„Natürlich, would you join me in death”, frage ich ihn lächelnd.
„Wenn du das wirklich willst. Ich meine sterben.
Ohne dich hätte mein Leben gar keinen Sinn mehr“, gab er mir ebenfalls lächelnd zurück.
Er nimmt meine Hand, küsst mich ein letztes mal. Wir schreien:
„This Life ain’t worth livin’!!! Join us in death!”
Während wir Anlauf nehmen, höre ich wieder das Lied, und ich weiß jetzt auch von wem es ist...
Why didn’t you catch me?
My broken wings pull me down
This pain tortures my soul
Why can’t it stop?
God, I cry for help, why don’t you hear me?
Now I’m liing here on the ground
And I know I am fallen
The fight is over, I’ve lost it
I’ll close my eyes…
…forever….