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Familienstolz

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05.02.2003
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Familienstolz

In der ganzen Stadt war Karl als Halbnarr bekannt und beliebt. Er hätte, so sagte man, einen „Dachschaden“, bei ihm war „eine Schraube locker“, er litt an der „Wachauer Krankheit“, hatte also einen „Wurm in der Marille“. So blumig drückten sich seine ansonsten ganz und gar unpoetischen Mitbürger aus, nur um den Schrecken zu mildern, der sie zu befallen drohte, wenn sie an das Glück, das heißt an die Zufälligkeit und Zerbrechlichkeit ihrer eigenen „Normalität“ erinnert wurden.

Karl tat seinen Mitbürgern auch nicht wirklich die Gewalt der Hilflosigkeit an, sein Dachschaden war durchaus noch von dieser Welt, das gewohnte Netz der Weltbetrachtung wurde durch ihn nur angespannt, nicht aber zerissen. An seiner Tollpatschigkeit und Begriffsstützigkeit konnte man sich sogar erfreuen, es verursachte kein schlechtes Gewissen, über ihn zu witzeln, was allein schon einen Grund für seine Beliebtheit abgab.

Zu dieser trug weiters bei, dass er außerordentlich nützlich war. Karl war ein Bär von einem Mann, mit einem Kopf, der aussah, als hätte man das damals noch übliche Kopfsteinpflaster nach ihm benannt, mit Schultern wie ein Stier und mit ebensolchen Kräften. Man hatte ihm daher einen Posten bei der städtischen Müllabfuhr gegeben, wo er die schwersten Mistkübel in den Müllwagen hievte, als wären es Papierkörbe. Dabei zeigte er nie Anzeichen von Unmut, auch nicht von Kraftprotzerei, es war für die Bürger der Stadt wirklich ein leichtes, Edelmut zu demonstrieren und Karl hin und wieder eine Leberkäsesemmel zu spendieren.

In seiner Freizeit tat Karl zweierlei, er trug einen grünen Jägerhut und er passte auf seinen Bruder auf. Den grünen Jägerhut riss Karl jedes mal von seinem Kopf, wenn er einen sah, den er kannte, was praktisch dauernd der Fall war, schließlich hat man als Müllmann in allen Häusern eine gewisse Vertrauensstellung. Er liebte diesen Hut, der ihn auch in der Stadt an den Wald erinnerte, in dem Karl sich gerne aufhielt, weil ihn dort nichts verwirrte, sondern im Gegenteil alles an seinem Platz blieb, unverrückbar und verlässlich.

Der Bruder Karls hieß Josef und war kein Halbnarr, sondern ein Halbidiot. Seine geistige Beschränktheit war nicht mehr handlich, sondern schon unheimlich, er verursachte kein selbstzufriedenes Grinsen mehr, sondern schon eine handfeste Verstörung. Zu seinem Glück war er aber noch lange nicht „gefährlich“, so ließ man ihn „frei“ herumlaufen, ärgerte oder ergötzte sich an seinen gelegentlichen Ungehörigkeiten und vertraute im übrigen auf Karl, der stets peinlich darum bemüht war, das sein Bruder nicht allzu viel „anstellte“.

Das äußere Erscheinungsbild Josefs war so zerfahren, wie man sein Innenleben vermuten durfte, er war hager, hatte lange, dünne Haare, bewegte sich schlotternd und trug eine harte Unnachgiebigkeit in den Augen. Gerne bekleidete er sich mit einem sogenannten „Staubmantel“, der an ihm sogar im zugeknöpften Zustand einen wehenden Eindruck machte, seinen Kopf zierte kein Jägerhut, er ging vielmehr auch im Winter barhäuptig, als wollte er beweisen, dass ihm äußere Einflüsse nicht so schnell etwas anhaben konnten in seiner inneren Autarkie.

Karl hatte also auf Josef aufzupassen, für die Stadt war dies bequem, man konnte gerührt von „Geborgenheit in der Familie“ sprechen und die Kinder risikolos zur Nächstenliebe erziehen. „Seid dankbar,“ sagte man ihnen „und grüßt die Brüder, wenn ihr ihnen begegnet, sie können nichts dafür und Karl ist ein braver Mann, auf Erden – so fügten die Christen hinzu – kann sich eben keiner sein Schicksal aussuchen.“ Doch weil es die Realität nicht ertragen kann, wenn etwas allzu lange in Ordnung ist, setzte sie diesem gleichgewichtigen Idyll eine Störung entgegen: Von Zeit zu Zeit riss Josef aus.

Wenn dies geschah, gab es immer Probleme, denn Josef pflegte die Angemessenheiten von Zeiten und Orten sehr eigenwillig auszulegen. Er tauchte stets an unpassenden Orten auf oder zu unpassenden Zeiten, er setzte unpassende Handlungen und das alles in wechselnden Kombinationen oder auch alles zugleich. Mit Vorliebe spazierte er mitten auf der Straße, genau die Mittellinie entlang, er ging in Geschäfte und sang dort lautstark und durchaus richtig Kirchenlieder, er schöpfte Wasser aus dem Brunnen vor dem Rathaus und goss es über die parkenden Autos, auch über die mit geöffnetem Schiebedach, bei Fußballspielen pflegte er wie ein 100 m – Läufer im Zuschauerraum hin und her zu rennen, als wäre er selbst einer der Spieler. Sein Meisterstück aber lieferte Josef anlässlich einer ursprünglich feierlich angelegten Wohnhausübergabe.

Wohnhausübergaben waren in der kleinen Stadt beliebte Gelegenheiten für die örtlichen Politiker, sich dafür rühmen zu lassen, dass sie das Geld der Steuerzahler hin und wieder tatsächlich auch für diese wieder ausgaben. Was in diesem Fall zählte, war die Öffentlichkeit, so war aus dem Parkplatz vor dem Wohnblock ein Festplatz gemacht worden, mit Rednerpult samt flankierenden Lorbeerbäumchen, mit Lautsprecheranlage, selbstverständlich mit Musikkapelle und mit einigen Sesselreichen vor dem Rednerpult, von denen aus man die neue, stolze und noch blitzblanke „Wohnanlage“ bewundern konnte. Die Sessel hatte man aus dem Speisesaal eines dem Oberpolitiker nahestehenden Lehrlingsheimes entliehen, sie waren aus Plastik und etwas abgenützt, nur die erste Reihe der Sessel, die für die Honoratioren bestimmt war, war aus Holz und würdevoll dunkelbraun.

Es war schönes Wetter, ein sonniger Juni-Tag, alles verlief wie geplant, die künftigen Wohnungsinhaber signalisierten dankbaren Frohsinn, sehr zu Freude der eintreffenden Funktionäre, die ihrem latenten Hang zur Güte und Menschenfreundlichkeit unter diesen Umständen freien Lauf lassen konnten. Kinderköpfe wurden gestreichelt, Augen zwinkerten kumpelhaft, Hände wurden erst innig ergriffen und dann mannhaft gedrückt.

Doch da kam Josef. Er kam mit seinem Staubmantel und er kam zum Schrecken aller – allein. Vergnügt und höchst interessiert schlotterte er daher, schnell fand er Gefallen an dem bunten Geschehen, feixend stand er erst ein wenig herum und fand dann zu seiner Überraschung im allgemeinen Gedränge sogar noch einen freien Sessel. Wie nicht anders zu erwarten, war es ein Stuhl in der ersten Reihe.

Der anwesende Oberpolitiker, der sich, so sagte er, diesen Termin ohnehin nur mühsam freihalten hatte können, was ihm aber ein aufrichtiges Anliegen gewesen war, hatte gerade seine Festrede begonnen. Es war eine optimistische Rede, ganz im Sinne der hoffnungsvollen Jungfamilien, von Zukunft wurde gesprochen, vom Säen der Samen und vom Ernten der Früchte.

Josef, der schließlich nur ein Halb- und kein ganzer Idiot war, begriff nach einiger Zeit, dass er hier einem ernsten und würdigen Schauspiel beiwohnte. So gab er sich alle Mühe, alles richtig zu machen, schon um seinen Bruder Karl nicht zu verärgern, dem er entwischt war, der ihn aber erfahrungsgemäß früher oder später wieder finden würde.

Was Josef sicher wusste, war, dass er am Ende einer so ernsthaften Rede applaudieren musste. Wissen und dessen Anwendung sind jedoch nicht immer einfach unter einen Hut zu bringen, es stellte sich nämlich heraus, dass es äußerst schwierig war, festzustellen, wann diese Rede nun eigentlich zu Ende war. Es blieb Josef somit nichts anderes übrig, als sicherheitshalber bei jeder – auch noch so kleinen – Sprechpause des Oberpolitikers in heftigen Applaus auszubrechen. Dass die Rede dann trotzdem immer noch weiterging, störte ihn nicht, ja, er betrachtete es sogar als kleinen Erfolg, dass es ihm gelang, den hohen Herrn durch seine Begeisterung zum Weiterreden angeregt zu haben.

Wie nicht anders zu erwarten, wurde das Engagement Josefs mit der Zeit von vielen der Anwesenden als leicht peinlich empfunden. Politiker wünschen sich zwar nichts sehnlicher, als spontanen Applaus zu ernten, doch mögen sie es nicht, wenn dieser Applaus von Halbidioten kommt, die als solche bekannt sind und die sich daher wirklich nicht als „opinion leaders“ eignen. Trotzdem war es im Interesse eines reibungslosen Ablaufes praktisch unmöglich, dieses sanft nagende Peinlichkeit schnell und störungsfrei zu entschärfen. Der einzige, der dies gekonnt hätte, wäre Karl gewesen, den man immer inbrünstiger herbeisehnte, doch Karl ließ sich zum Leidwesen der Organisatoren nicht blicken.

Zur allgemeinen Erleichterung fand die Rede des Oberpolitikers irgendwann einmal doch ein Ende, der Applaus durfte nun allgemein sein und Josefs Begeisterung durfte in schützender Übereinstimmung aufgehen. Nun trat die Musikkapelle auf den Plan, was dem Oberpolitiker eine neue Aufgabe zuwies, denn er musste nun erwartungs- und traditionsgemäß einen Marsch dirigieren und zwar einen „schneidigen“ Marsch, der die Dynamik seiner Leistungen atmosphärisch untermalen sollte.

So geschah es auch. Die Musiker strafften ihre Instrumente, nahmen entschlossene Hand- und Mundhaltungen an und stürzten sich auf Kommando ihres Gastdirigenten hinein in die reißende Blechbläserflut eines österreichischen Militärmarsches. Josef geriet unversehens in eine galoppierende Euphorie. Wie allen anderen Anwesenden fuhr der Militärmarsch auch ihm direkt ins Rückenmark, das seinerseits heftige Bewegungsimpulse in den Kopf sandte. Im Unterschied zu den anderen wurden diese Impulse bei ihm dort aber nicht mimisch entschärft, sonder führten zu unmittelbaren motorischen Ergebnissen. Josef sprang also auf, marschierte wehenden Ganges zur Kapelle, stellte sich neben den Oberpolitiker und dirigierte mit flatternden Armen mit.

Die Folgen dieses Tuns konnten nicht mehr einfach übergangen werden. Als erste konnten sich einige der Musiker das Lachen nicht mehr verkneifen, was besonders bei den Bläsern verheerende Folgen hatte, der Militärmarsch verlor durch ihren Ausfall jedenfalls rasch an Schneidigkeit und Klangvolumen. Das musste wiederum den Haupt-Dirigenten irritieren, der sich langsam echten Verhaltensproblemen gegenübersah, wodurch er parallel zur Schneidigkeit des Marsches an persönlicher Souveränität verlor. Um dies nicht offenbar werden zu lassen, begann er als gelernter Volksheld hemmungslos zu lächeln, was aber vergeblich blieb, denn das Desaster hatte bereits die Grenze zur Eigengesetzlichkeit überschritten.

Infolge der Ereignisse begannen nämlich die bis dahin erfolgreich ruhig gestellten Kinder zu rebellieren, ihre disziplinierten Fluchtversuche konnten jedenfalls auch durch noch so massives mahnendes Zischen der Festgäste nicht mehr vertuscht werden. Reflexartig eröffneten daraufhin die anwesenden Mütter unter den auffordernden Blicken der Väter einen Wettbewerb, welches Kind wohl am besten und schnellsten zu zähmen war, ein pädagogisches Fiasko war die natürliche Folge. Elterliche Augen rollten wild in ihren Höhlen, die Vornamen der Kinder wurden zu phonetischen Menetekeln vertont, ein bisher noch gar nicht bemerkter Hund riss sich los und markierte sein neues Terrain an einem der Lorbeerbäumchen neben dem Rednerpult.

Von der Musikkapelle waren jetzt fast nur mehr die Schlaginstrumente zu hören, was der ganzen Szene etwas Urwaldartiges verlieh. Als dann auch noch außer Plan und eigenmächtig von den verwirrten Genossenschaftsfunktionären die ersten Schlüssel ausgehändigt wurden und die damit Bedachten sich sofort fluchtartig in ihre neuen Wohnungen absetzten, geriet die Veranstaltung endgültig ins Unkontrollierbare.

Wie eine Erscheinung, wie ein rettender Engel, stand plötzlich Karl da. Den Jägerhut auf dem Kopf, die Schuhe noch voll frischer Walderde, war er gerade von einem Spaziergang heimgekehrt, hatte seinen Bruder nicht vorgefunden und sich sofort auf den Weg gemacht, um Schlimmes zu verhindern.

Doch was Karl sah, schreckte ihn nicht, sondern erstaunte ihn tief und freudig. Er sah seinen Bruder Josef inmitten einer städtischen Festveranstaltung im Mittelpunkt stehen, unter all den Ehrengästen und zukünftigen Wohnungsinhabern stand Josef da und dirigierte unter offenbar allgemeiner Anteilnahme die städtische Musikkapelle. Ruhig ging Karl zu ihm hin, nahm in an der Hand und führte ihn nach Hause.

An diesem Tag war Karl zum ersten Mal ein bisschen stolz auf seine Bruder.

 
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hallo herr_bert,
ich muss wohl mehr ausgeschlafen sein, um deine geschichte wirklich in ihrer tiefe zu interpretieren...

somit nur kurz:
ich habe mich amüsiert - gerade über die "übliche peinlichkeit" der "peinlichen".

und ich danke dir für sätze wie:

Infolge der Ereignisse begannen nämlich die bis dahin erfolgreich ruhig gestellten Kinder zu rebellieren, ihre disziplinierten Fluchtversuche konnten jedenfalls auch durch noch so massives mahnendes Zischen der Festgäste nicht mehr vertuscht werden.
das ist sprachlich sehr amüsant, sarkastisch und zeugt von viel perspektivisch interessantem humor! mehr davon!

gruß,
nikto

ps: willkommen auf kg.de - das hatte ich ganz vergessen!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo herr_bert,

die Geschichte hat mir sehr gefallen. Ich konnte gut "mitfeiern". Dein sprachlicher Witz hat mich auch überzeugt. Stellen wie

"Doch weil es die Realität nicht ertragen kann, wenn etwas allzu lange in Ordnung ist, setzte sie diesem gleichgewichtigen Idyll eine Störung entgegen: Von Zeit zu Zeit riss Josef aus."

oder

"der Militärmarsch verlor durch ihren Ausfall jedenfalls rasch an Schneidigkeit und Klangvolumen."

haben mich lachen lassen.

Solche Geschichten lese ich gerne.

Allerdings vermisse ich etwas die vordergründig satirische Aussage. Für mich gehört die Storry doch mehr nach Humor.

Rabe

 

Hi herr_bert,

die Geschichte hat mir das ein oder andere lächeln entlockt. Ich würde ja gern was konstruktives sagen, aber mir fällt nichts ein.

In der ganzen Stadt war Karl als Halbnarr bekannt und beliebt.
Mir gehts ähnlich. :D

 

Hallo!

Ich danke Euch für die positiven Kommentare.

@nikto,

es freut mich, dass Dich die Geschichte amüsiert hat und Dir mein Humor gefallen hat. Danke auch für Deinen Willkommensgruß. :)

@Rabe,

gut, dass ich Dich zum Lachen bringen konnte. Ich empfinde die Aussage der Geschichte eigentlich nicht als zu subtil für eine Satire. Aber vielleicht würde sie auch in die Rubrik Humor passen.

@Kalchas
Auch wenn Dir nichts Konstruktives einfällt, hat es Dein Kommentar in sich. ;)

herr_bert

 

Mich hat die Erzählperspektive irritiert, du erzählst aus der Sicht eines allwissenden Autors, was dem ganzen doch die Spannung nimmt. Da du keine Person richtig ausgewählt hast, kann man sich auch mit keiner identifizieren. So heißt es immer "der Oberpolitiker" und "das Dorf".

Für ein leichtes Schmunzeln sorgt zwar der Idiot, der sich aber bei seinem Tun nichts denkt, also zufällig agiert.

Über ein leichtes Aha-Erlebnis kommt der Text nicht hinaus, wird aber an keiner Stelle langweilig.

Um mitzureißen braucht die Geschichte einen Protagonisten und einen Antagonisten die einen Konflikt austragen. Das wäre (nur zum Beispiel) der Fall, wenn Karls Bruder geistig normal wäre und den Politiker aus irgendeinem Grunde nicht leiden könnte und deshalb seinen Bruder applaudieren lässt - was niemanden zum offenen Widerspruch reizt, da man einen Idioten ja nicht als solchen bezeichnen darf in der Öffentlichkeit. Dadurch käme auch das satirische Element besser zum Tragen, eben die Doppelmoral gegenüber den Beknackten unserer Gesellschaft.

 

an sich ist die Geschichte nichts besonderes, aber durch deinen Stil und die überaus gelungenen Formulieren wird sie großartig, absolut mein Geschmack.

Ich würde auch sagen, daß es nicht unbedingt eine Satire ist, eher so ein Grenzfall, macht aber nichts. Ich habe jedenfalls sehr gelacht, mehr davon!

Gruß, Yoro

 

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