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Fenster
"Mach endlich das Fenster zu", schreit Timm von vorne. Durch den Schimmer sehe ich ihn vorm Lenkrad sitzen und lache, will irgendwas antworten, aber versinke in der Rückbank. Das Leder fühlt sich wie Baumrinde an. Kratzig und hart. Der Tacho zeigt einhundert km/h an, aber wenn ich nach draußen schaue, kommt es mir vor, als würde das Auto still stehen und es wäre die Welt, die sich langsam bewegt.
Die Jungs nennen es "eine Reise machen". Eben die Grenze passieren, in Eindhoven den Mittelsmann treffen, ein paar Kilogramm Haschisch entgegen nehmen und mit der Ware wieder nach Deutschland fahren. Zwei, drei Stunden dauert das Unterfangen. Noch leichter an Geld kommen ist schwer und für jeden von uns sind stets ein paar Päckchen Grass als Belohnung dabei. Ich brauche das Zeug, schon alleine, um den Schimmer zu erhalten. Die Welt soll sich bewegen, während ich stehe; soll für mich weinen, soll für mich lachen.
Ich halte den Kopf aus dem Fenster und der Fahrtwind weht so heftig in mein Gesicht, dass mir das Atmen schwer fällt und ich kräftig husten muss. Timm stöhnt. Er ist nervös; weit kann es nicht mehr sein, bis wir Holland verlassen. Dreimal hab ich die Reise gemacht, aber nie war es so entspannt wie heute. Der Kerl, der uns den Stoff verkauft hat, lud uns mit spanischen Akzent auf einen Joint ein. An sein Zwinkern erinnere ich mich mehr als an das ganze Geschäft. Danach versank die Welt in grellen Farben und ich im Stillstand.
"Scheiße, eh", sagt Timm leise und sieht entsetzt zu mir. Ich schaue nach, was ihn so aufregt. Mehrere Streifenwagen des Bundesgrenzschutzes und der Polizei stehen am Seitenstreifen und winken vereinzelt Autos aus dem Verkehr.
Meine Lippen sind so trocken. Ich atme den Luftzug vom Fahrtwind ein. Es beruhigt mich und meine Gedanken werden klarer. Wenn der Polizist uns mit der Kelle herauswinkt, werden wir auffliegen. Unter mir, im Sitzfutter sind sieben Kilogramm Haschisch versteckt; genug Stoff, um eine Weile ins Gefängnis zu wandern. Sie werden nicht mal einen Spürhund brauchen, um es zu finden.
Irgendwie komme ich in diesem Moment auf die Idee, mich anzuschnallen. Timm flüstert wieder, ich solle das Fenster zumachen, aber ich kicher nur vor mich hin. Ein paar Monate im Gefängnis, vielleicht würde es reichen, dass der Schimmer von meinen Augen verschwindet? Es wäre wie eine Ausfahrt von dieser Autobahn, auf der ich seit Jahren fahre, und nicht einmal mehr die Bremse oder das Gaspedal bediene. Mein Blick wandert auf die Polizisten. Der mit der Kelle hebt die Hand und winkt ein Auto heraus. Wir fahren im Schritttempo an ihnen vorbei.
Ich lasse mich fallen. Es ist vorbei, die Straßenkontrolle wird immer kleiner im Seitenspiegel. Timm atmet erleichtert aus und ich greife mit den Fingern in das Sitzleder. Vorbei, vorbei, wir sind vorbei. Ich lalle und lache, lasse meinen Kopf nach hinten fallen. Die Reise geht weiter; ihre Endstation ist noch längst nicht in Sicht. Bevor Timm wieder zu Schreien anfängt, greife ich nach links und kurble das Fenster hoch.
Aachen, 26.12.2006