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Fernsehen bei Gewitter

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28.08.2012
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Fernsehen bei Gewitter

Immer am Nachmittag lädt sich die Luft statisch auf. Wer mich dann betrachtet, sieht ein ängstliches Tier, das auf ein Gewitter wartet. Ganz ruhig, zumindest nach außen. Kein Ton, nur das Rauschen der Blätter, keine Bewegung, bis die Straße sich blau färbt, bis die Laternen anspringen und mit ihnen die Gedanken.

Ich denke an meinen Bruder. Ich denke an eine Szene aus meiner Kindheit, in der mein Bruder mich einen Psycho nennt und ich spüre, wie sich etwas in mir zusammenzieht, ich verschränke die Arme vor der Brust und senke mein Kinn, mache mich klein, obwohl ich schon lange erwachsen bin.

Vielleicht saß ich so ähnlich im Wartezimmer der Kinderpsychologin Frau Doktor Müller. Oder Maier, ich weiß nicht mehr, der erste Buchstabe war ein M, da bin ich mir sicher, denn seitdem verbinde ich das große M mit etwas Ungutem, einer Blockade. Einer Mauer, an der man nicht vorbeikommt.
An den Wänden hingen schwarzgerahmte Poster von Rizzi, Wolkenkratzer mit irren Gesichtern, der Himmel war ein Durcheinander aus Vögeln und Ufos, Wolken und Sternen, alles war Chaos und Frau M. war eine Sau mit einer schwarzen Perücke auf. Zumindest in meiner Erinnerung. Ihre Haut war bröckelig vom Puder, ihre Nase plattgewalzt, mehr Rüssel als Nase, und um den Hals trug sie eine Perlenkette, eine Bocciakugelkette, die mich an das Drahtgestell mit den aufgefädelten Holzringen im Wartezimmer denken ließ, die ich mit dem Mittelfinger weggeschnippt hatte, bis meine Mutter Lass das zischte.

Frau M. hatte ihre Meinung und ich hatte meine. Ihrer Meinung nach gab es eine Erklärung für das alles und eine Lösung namens Ritalin. Meine Meinung spielte keine Rolle, ich war ein Kind, und so setzte ich in den kommenden Wochen Morgen für Morgen meine beste Wolkenkratzergrimasse auf, während ich die Tabletten aus dem Blister drückte, in den Mund steckte, die Wohnung verließ, die Treppen hinabstieg, das Fahrrad aufschloss, meiner Mutter zuwinkte, die auf dem Balkon stand und erst in sicherer Entfernung spuckte ich die Tabletten an der immer gleichen Stelle wieder aus.

In der Schule malte ich mir aus, wie dort ein Baum wuchs. Ein Roboterbaum. Denn das eine Mal, als ich das Ritalin tatsächlich geschluckt hatte, wurde ich selbst zum Roboter, ich hörte die Lehrerin durch einen engen, metallischen Gang sprechen, sehr deutlich, sehr klar, aber alles andere war verschwunden – der Blick aus dem Fenster, das Kippeln mit dem Stuhl, Michaelas Witze, nichts machte mehr Spaß, alles war kalt. Ich war gerade mal elf und fand das Leben so unendlich traurig, ich war ein Roboter und jemand hatte den Schalter umgelegt, der für die Farben zuständig war.

Mein Bruder nannte mich einen Psycho, weil ich Tabletten schlucken musste, um zu funktionieren, vor allem aber wohl, weil ich es trotz der Tabletten nicht tat. Meine Mutter schwieg, wenn ich meine Fünfen nach Hause brachte, ihr meine Einträge im Hausaufgabenheft vorlegte. Kein Ton, keine Bewegung, nur das Rauschen des Fernsehers, der immer lief. Aber in ihr türmten sich die Wolken auf.

Meine Mutter schwieg, bis sie mir schrieb, und ich schaffte es nur, die ersten Zeilen ihres Briefes lesen. Denn da war es wieder, das wahre Monster meiner Jugend – die Enge, die zu kleine Wohnung, das mit meinem Bruder geteilte Zimmer, keine Tür, die sich abschließen ließ und kein Platz zum Denken, und so stopfte ich den Brief in die Hosentasche, stürmte die Treppen herab, schloss das Fahrrad auf, spuckte aus, immer wieder, ich trat in die Pedale und spuckte in den Fahrtwind, ich saß im Klassenraum und stank, wie wenn man seinen Handrücken ableckte und daran roch. Ich sah aus dem Fenster und kippelte auf meinem Stuhl, ich bekam nicht mit, wie der Brief mir aus der Tasche fiel, bemerkte nicht, wie die Pausenglocke schrillte, wie die anderen Kinder sich im Halbkreis aufstellen und auf mich zeigten und lachten. Sogar Michaela, meine beste Freundin, Michaela, bei der ich so oft übernachtet hatte, deren Eltern mich mit in den Urlaub genommen hatten, einfach so, weil ich dazugehörte, bis nach Österreich, weiter weg, als meine Eltern jemals gereist waren, sogar Michaela stand mit den anderen im Halbkreis und zeigte auf mich und las mit bescheuert verstellter Stimme die Worte meiner Mutter vor. Michaela mit dem großen M.

Psycho. Nicht mehr nur daheim, jetzt auch in der Schule, plötzlich war alles wie Fernsehen bei Gewitter in unserer kleinen Wohnung im zweiten Stock in der J.-M.-Straße – nicht erlaubt, keine Flucht möglich, gerade dann, wenn man sie am meisten brauchte, wenn das Chaos am größten war, jetzt hieß es, die Unruhe zu ertragen und das heißt es bis heute, jeden Nachmittag, bis die Straße sich blau färbt, jede Nacht, wenn die Gedanken sich im Kreis drehen, bis mir schwindlig wird. Aber irgendwann schlafe ich ein. Und irgendwann wache ich wieder auf und für ein paar Stunden herrscht dann Stille hinter meiner verschlossenen Tür und irgendwann ist die Stille für immer.

 

Krasse Geschichte. Hat sich für mich flüssig gelesen. Es gab keine störenden Elemente. Du nimmst jedenfalls kein Blatt vor den Mund im Text.

 

Ein spannendes Thema und du hast dich gut in den Protagonisten hineinversetzt. Man kann nachfühlen, weshalb er die Tabletten ausspuckt... Aber dann hängt die Geschichte: Ich verstehe das mit dem Brief nicht, "der als Schriftform wie ein Gewitter aus der Mutter herausgebrochene Erguss" - an wen ging der Brief? An das "Ich" in der Erzählung? Ich glaube keine Mutter würde ihrem Teenager, von dem sie weiß, dass er sich nicht konzentrieren, einen Brief schreiben? Das ist unglaubhaft. Am Ende deutest du Tod/Selbstmord an... das finde ich auch unglaubhaft für jemanden der an Attention Deficit Disorder leidet. Und der dritte Punkt, den ich nicht verstehe, ist, weshalb Michaela sich gegen das "Ich" im Text wendet. Ich denke aber, wenn du der Entwicklung der Geschichte und der Person mehr Raum lässt, kannst du vieles lösen. Viel Erfolg damit!

 

Vielen Dank, Lorelei. Ich habe mich sehr über deine Worte gefreut. :)

Danke auch dir, Finkins.

1. Der Brief an die Tochter

Ich verstehe, dass du das für unglaubwürdig hältst. Ich denke aber, dass die Erzählerin nicht nur diese Aufmerksamkeitsstörung ist und man ihr zutrauen kann, einen Brief zu lesen. Vielleicht wäre ein Gespräch tatsächlich sinnvoller, aber auch die Mutter ist ja nicht perfekt.

Aus eigener Erfahrung kann ich übrigens berichten, dass es mir sehr häufig leichter fällt, mich auf einen Text zu konzentrieren als einem Gespräch zu folgen. Den kann man dann notfalls mehrmals lesen. ;)

2. Das Ende

Laut Studien gibt es einen Zusammenhang zwischen AD(H)S und erhöhter Suizidialität. Aber auch wenn es die nicht gäbe, finde ich auch hier wieder, dass man die Erzählerin nicht zu eindemensional sehen sollte. Nur weil eine Person übergewichtig ist, trinkt sie nicht automatisch gerne Cola. :bier:

3. Michaela

Ich sehe da eine Gruppe von Kindern und Michaela mittendrin. Und da kann ich mir gut vorstellen, dass Michaela sich der Gruppe beugt, auch wenn sie tief in sich drin vielleicht ganz anders empfindet. Ich versuche, diesen Gedanken in die Überarbeitung einfließen zu lassen und deinen Vorschlag umzusetzen.

 

Hallo @Neska,

ich finde, dass dein Thema relevant ist und finde es auch lesenswert. Allerdings sehe ich noch einiges an Verbesserungspotential, da mich der Text noch nicht so richtig fesseln konnte. Ich habe mich gefragt, woran das liegt. Ich sehe in folgenden Bereichen die Gründe dafür und liefere dir jeweils konkrete Textstellen mit, damit du meinen Eindruck nachvollziehen kannst.


Die Figur ist für mich noch zu distanziert, emotional zu weit entfernt. Für mich ist es immer besonders wichtig, dass ich einer Figur folgen kann, dass ich mir ihr nah fühlen kann und das ist hier eher aus einer Entfernung erzählt. Es ist eine starke Verdichtung der Lebensgeschichte und die Erzählstimme schaut eher rückblickend und von außen auf die tragischen Lebensumstände. Es gibt ja den Hinweis "Show don't tell" und ich habe mich immer gefragt, was damit genau gemeint ist und habe vor kurzem in einem Schreibratgeber eine schöne Perspektive darauf gefunden: Im Grunde geht es um den Faktor Zeit. Spielt sich die Handlung im jetzigen Augenblick ab, entfaltet sich das gerade direkt vor mir als Leser? Dann ist es Show. Oder wird der zeitliche Verlauf zusammengefasst, verdichtet, also beispielsweise mehrere Wochen oder Monate in einen Satz bzw. Paragraphen zusammengefasst? Dann ist es nach dieser Perspektive Tell. Finde ich faszinierend, weil eben beides seine Daseinsberechtigung hat und es so in meinen Augen greifbarer wird. Bezogen auf deine Geschichte hätte ich mir mehr Show gewünscht, also das unmittelbare Erleben von Szenen, die sich im jetzigen Moment vor mir als Leser entfalten. Du machst das beispielsweise auch schon hier bei diesen beiden Stellen:


An den Wänden hingen schwarzgerahmte Poster von Rizzi, Wolkenkratzer mit irren Gesichtern, der Himmel war ein Durcheinander aus Vögeln und Ufos, Wolken und Sternen, alles war Chaos und Frau Doktor M. war eine Sau mit einer schwarzen Perücke auf.
Hier bekomme ich als Leser ein Bild, bin direkt in der Situation und genau davon würde ich gerne mehr lesen.

Ihre Haut war bröckelig vom Puder, ihre Nase plattgewalzt, mehr Rüssel als Nase, und um den Hals trug sie eine Perlenkette, eine Bocciakugelkette, die mich an das Drahtgestell mit den aufgefädelten Holzringen im Wartezimmer denken ließ
Finde es hier auch eine gelungene Beschreibung, die Figur sieht sie ja als Sau und dann folgt die Beschreibung, die ich kaufe und mir gut vorstellen kann. Genau das meinte ich weiter oben, davon wünsche ich mir mehr, damit deine Geschichte noch unmittelbarer wird.

Hier sehe ich Verbesserungspotential:

Wer mich dann betrachtet, sieht ein ängstliches Tier, das auf ein Gewitter wartet. Ganz ruhig, zumindest nach außen.
Hier hätte ich mir gewünscht, wie es sich für die Figur anfühlt, so ein ängstliches Tier zu sein, dass aber doch paralysiert ist und sich nicht bewegt bzw. ganz ruhig bleibt. Was sind das für Gedanken? Wie fühlt sich das an? Wie bewertet diese Figur ihre Welt?
Ihrer Meinung nach gab es eine Erklärung für das alles, die sich ADS nannte und eine Lösung namens Ritalin. Meine Meinung spielte keine Rolle, ich war ein Kind, und so setzte ich in den kommenden Wochen Morgen für Morgen meine beste Wolkenkratzergrimasse auf, während ich die Tabletten aus dem Blister drückte, in den Mund steckte, die Wohnung verließ, die Treppen hinabstieg, das Fahrrad aufschloss, meiner Mutter zuwinkte, die auf dem Balkon stand und erst in sicherer Entfernung spuckte ich die Tabletten an der immer gleichen Stelle wieder aus.
Das meine ich mit der Verdichtung. Hier sind viele Informationen und auch viele Szenen in einen Paragraphen verdichtet. An dieser Stelle fände ich Dialoge, Reflektionen und innere Konflikte spannend, um deiner Figur näher zu kommen. Hier sehe ich viel Potential für eine mögliche Überarbeitung.
Ich war gerade mal elf und fand das Leben so unendlich traurig, ich war ein Roboter und jemand hatte den Schalter umgelegt, der für die Farben zuständig war.
Hier hätte ich mir gewünscht, selbst auf diese Schlussfolgerung zu kommen. So ist es traurig, aber es entfaltet noch nicht die Wirkmacht, wenn ich selbst als Leser auf diese Schlussfolgerung komme. Dann wäre es noch tragischer.

Vielen Dank für deine Geschichte, bin gespannt wie sich das weiter entwickelt, finde, dass du hier ein wichtiges und relevantes Thema hast und bin gespannt, was du sonst noch schreibst.

Beste Grüße
MRG

 

… denn da war es wieder, das wahre Monster meiner Jugend – die Enge, ...

Mein Bruder nannte mich einen Psycho, weil ich Tabletten schlucken musste, um zu funktionieren, vor allem aber wohl, weil ich es trotz der Tabletten nicht tat.
Guter Titel,

Neska,

und wie schon das individuelle Drama von meinen Vorrednern ausgebreitet wird, gibt mir das Eingangszitat Gelegenheit, über das harmlos wirkende „funktionieren“ das soziale im individuellen Elend, der „Abweichung“ anzuschneiden, kam doch das eben genannte Verb „funktionieren“ mit den Truppen Napoleons in den deutschen Sprachraum um sich mit der industriellen Revolution weiter auszubreiten und bedeutet seither für Maschine wie Individuum, dass „vorschriftsmäßig“ gearbeitet wird und somit „funktioniert“ und „in Ordnung“ ist (eine ältere, keineswegs harmlosere Bedeutung schwimmt noch im ähnlichen, aber nur den sozialen Bereich umschlingende „fungieren“ – in einem „Amt“, einer „Rolle“) mit.

Und wenn’s mal „nicht“ funktioniert kommt für eine, i. d. R. die „schwächeren“ Seite die Furcht und die Angst (in deren Plural „Ängste“ die klangliche Verwandtschaft der Superlativ der psychologisch bestimmten „Enge“ mitschwingt, am engsten), vor der selbst der größte Rabauke unter meinen Hunden buchstäblich Schiss hatte ...

Immer am Nachmittag lädt sich die Luft statisch auf. Wer mich dann betrachtet, sieht ein ängstliches Tier, das auf ein Gewitter wartet ...

Zu mosern gibt’s da nix , find ich - vllt. hier ein klein bissken

..., alles war Chaos und Frau Doktor M. war eine Sau mit einer schwarzen Perücke auf.
stört nicht mal das an sich entbehrliche „auf“. Erwähnenswert wäre vllt., wenn Frau Dr. die Perücke in der Hand hielte (um die eigene Begrenztheit aufzuzeigen könnte sie damit staubwischen ...)

… Aber hier ist der Bruch der Zeitenfolge anzuzeigen

Welche Rolle spielte meine Mutter in diesem Schauspiel, frage ich mich rückblickend, war sie Held oder Schurke?
spielte – frage – war -
An sich stört mich auch das an sich entbehrliche „rückblickend“ im mündlichen Vortrag nicht …, wohl aber in Schriftform, denn der Rückblick zeigt sich schon im Wechsel der Zeitenfolge „spielte, frage, war ...

ähnlich weiter unten

Ich sah aus dem Fenster und kippelte auf meinem Stuhl, ich bekam ..., wie die anderen Kinder sich im Halbkreis aufstell[t]en und auf mich zeigten und lachten.

Ihrer Meinung nach gab es eine Erklärung für das alles, die sich ADS nannteKOMMA und eine Lösung namens Ritalin.
(der Relativsatz „die …“ ist zu Ende)

Ich schaffte es nur, die ersten Zeilen ihres Briefes [zu] lesen, …

Wie dem auch wird -

gern gelesen vom

Friedel,

der jetzt über die lang zurückliegende Zeit gar nicht parat hat, ob wir uns schon einmal begegnet sind - und vllt. den Wiederholungstäter gibt, mit einem

herzlich willkommem hierorts!

 

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