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Fina und ich

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12.02.2020
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Fina und ich

Es war heiß in jenem Sommer, in dem meine Mutter mit Fina und mir aus der Stadt aufs Land zog. Ganze Tage streunten wir in der neuen Umgebung umher, während meine Mutter alles, was sie zu geben hatte, in die Renovierung unseres neuen Hauses steckte. Tagsüber bestrich sie Wände mit heller Lehmfarbe und ihrer Trauer. Nachts hörte ich die frisch geschliffenen Dielen ächzen und es schien mir ein dunkles Wimmern darin zu sein, ein schweres Atmen. Ich wusste, das war die Trauer meiner Mutter; das Haus atmete sie raus in die Nacht. Die Trauer umgab meine Mutter so dicht, dass niemand hindurch kam. Aber ich hatte Fina.

Das neue Haus mochte ich sehr. Ich mochte, wie es die Trauer meiner Mutter in sich aufnahm, wie es uns alle tröstete. Trotzdem wollte ich nicht allein in meinem Zimmer sein, hatte meine Matratze zu Fina geschafft und schlief jede Nacht bei ihr. Ich redete nicht viel in dieser Zeit. Eigentlich nur mit Fina. Fina dagegen redete mit allen, mit dem Bäcker im nächsten Dorf, mit unseren Großeltern, wenn sie uns besuchten, mit den Kindern, auf die wir hier und da trafen. Und wenn niemand zum Reden da war, dann sang sie. Sie sang viel in diesem Sommer.

Als wir eines Tages vom Dorf zurück nach Hause gingen, sagte sie: „Erik hat erzählt, dass es nicht weit von uns ein Spukschloss gibt. Er sagt, die Hintertür ist offen und man kommt einfach so rein, und dass noch alle Möbel drinstehen und überall liegt meterhoch der Staub. Das gucken wir beide uns an, Levi. Gleich morgen.“
„Ich glaub nicht, dass ich das will, Fina“, sagte ich. „Ich hab Angst, wenn‘s spukt.“
„Ach, spuken gibt’s doch gar nicht, Dummkopf. Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin doch dabei.“

In dieser Nacht konnte mich auch das Atmen des Hauses nicht beruhigen. Als ich einschlief, träumte ich von meinem Vater und dass er in dem Spukschloss wohnte. Am nächsten Morgen weckte mich Musik, die aus der Küche heraufdrang. Fina war die Einzige, die Musik hörte in jenen Tagen. Sie fürchtete die Stille, die meine Mutter umgab und das Haus vollkommen auszufüllen schien. Doch es war egal, wie laut Fina das Radio drehte, gegen diese Stille kam nichts und niemand an. Meine Mutter machte uns Frühstück. Und während Fina und ich unser Müsli aßen, stand sie an die Spüle gelehnt und schaute aus dem Fenster, wie jeden Morgen seit wir hier eingezogen waren.

Nach dem Frühstück machten wir uns gleich auf den Weg. Ich war nie ohne Fina in dieser Zeit, nur darum ging ich mit, um bei ihr zu sein. Wir gingen über die Streuobstwiese hinter unserem Haus. Die Luft war schon warm und ließ die kommende Hitze des Tages erahnen. Und während wir gingen und Fina sang, umklammerte die Angst mit festem Griff meinen Rücken. Wie einen zu schweren Rucksack trug ich sie zum Schloss, das ein altes, kleines Gutshaus war. Ein mit Feldsteinen gepflasterter Weg lief auf das Haus zu, dessen Mauerwerk aus Backsteinen bestand und von dunklen Holzbalken durchzogen war. Rechts und links des Weges standen Gräser hüfthoch, dazwischen Goldgarbe, die hier überall wuchs, und mich an Sonnen in einem grünen Himmel denken ließ. Wir folgten einem Pfad, auf dem das Gras heruntergetreten war und standen schließlich vor dem Hintereingang.

„Lass uns reingehen!“, sagte Fina und drückte die Klinke hinunter. Die Tür gab bereitwillig den Weg in einen Flur frei, auf dessen dunklem Holzfußboden ein alter, ausgeblichener Läufer lag. Die fünf Türen, die vom Flur abgingen, waren alle geschlossen, sodass einzig das Licht, das durch die Hintertür fiel, den Flur ein wenig erhellte. Ein muffiger Geruch nach abgestandener Luft und altem Holz strömte mir in die Nase. Fina stand für einen Moment bewegungslos da und ich hoffte schon, dass sie es sich anders überlegt hatte, da ging sie rein. Natürlich folgte ich ihr. Die Holzdielen knarzten, als wir den Flur betraten; mir schien es eine Warnung zu sein, aber Fina ließ sich nicht beirren. Zwei der Türen führten in Kammern ohne Fenster, in denen Regale mit verstaubten Einmachgläsern standen. Hinter der dritten Tür fanden wir zwei Betten, die jeweils an der Wand rechts und links der Tür standen. Zu jedem gehörte eine vergilbte Matratze, ein Nachttisch sowie ein Holzschrank. Auf einer der Matratzen lag ordentlich zusammengerollt ein Schlafsack. Dann gab es noch eine Küche, in deren Mitte ein Holztisch mit vier Stühlen stand. Auf dem Tisch stand ein Einmachglas aus einer der Kammern, bis zum Rand gefüllt mit Zigarettenkippen. Vor einem alten Herd lagen Holzscheite, der Holzboden vor der Feuerluke war schwarz und angekokelt. Es roch nach kaltem Feuer und abgestandenem Zigarettendunst; außerdem verbarg sich etwas Dunkles und Unheilvolles in dieser Küche.

„Fina, ich hab Angst“, sagte ich.
„Komm einfach, Levi!“ Fina nahm meine Hand und ging auf die letzte geschlossene Tür zu. Sie führte auf eine große Diele. Der Boden bestand hier nicht aus den langen, dunklen Holzbrettern wie im Flur, sondern glänzte bernsteinfarben und war in quadratischen Mustern angeordnet. Durch Fenster, die fast bis zur Decke reichten, fiel die Morgensonne in den Raum, die auch das Buntglas der zweiflügeligen Eingangstür zum Leuchten brachte. Im Unterschied zu den Räumen zuvor war die Diele komplett leer. „Wow!“, sagte Fina. Ich entspannte ein wenig, weil der Raum so friedlich wirkte. Es war hier wärmer, auch die Luft war besser. Ein sanfter Luftzug strich über meinen Hals und ich fröstelte.
„Fina“, sagte ich, „wir sollten nicht hier sein. Lass uns gehen.“
„Ach was!“, antwortete sie und schlug ein Rad.

„Du kannst helfen!“, hörte ich eine Stimme sagen. Sie klang rau und heiser, als hätte sie lange nicht gesprochen. Ich blickte mich um, Fina schlug noch ein Rad.
Die Stimme wiederholte und war jetzt ganz nah: „Du kannst helfen!“
„Fina, komm!“, rief ich und lief so schnell ich konnte durch die Diele und den dunklen Flur, um das Haus herum, quer durchs hüfthohe Gras, über den Feldsteinweg, an den Feldern vorbei, über die Streuobstwiese hinter unserem Haus zurück in Finas Zimmer. Dort versteckte ich mich in ihrem Bett, unter ihrer Decke. Fina kam kurze Zeit später. Ich zitterte und sagte: „Hast du denn die Stimme nicht gehört, Fina? Du hast ein Rad geschlagen. Aber es war niemand sonst da. Nur die Stimme."

Fina hatte keine Stimme gehört.
"Levi hört Stimmen!" kicherte sie. Aber ich konnte nicht darüber lachen und auch nicht aufhören zu zittern. Schließlich setzte sie sich neben mich, hielt mich im Arm und flüsterte: "Alles in Ordnung, Levi. Alles in Ordnung."
Eine Kühle hatte sich dort in der Diele auf meine Haut gelegt. Sie war nicht unangenehm in der Hitze des Sommers, aber verstörend und angsteinflößend. Ich sagte Fina nichts von der Kühle, ich wollte nicht, dass sie sich sorgte. Meine Mutter bestrich irgendwo eine Wand mit ihrer Trauer. Wenigstens ich musste normal bleiben. Den Rest des Tages blieben wir zu Hause. Wir lagen auf einer Decke im Schatten eines alten Apfelbaumes. Fina las mir aus einem ihrer Bücher vor, aber ich hörte nicht richtig zu. Ich schaute in das Blätterdach des Apfelbaumes, das nur an wenigen Stellen die Sonne hindurchließ, versuchte die Kühle auf meiner Haut zu ignorieren, aber sie war da, lenkte mich ab. In dieser Nacht schlief ich bei Fina im Bett.
„Du bist so schön kalt“, sagte sie, bevor sie einschlief.

In der Nacht träumte ich vom Spukschloss. Ein Vater, nicht meiner, wohnte darin mit seiner Tochter, die aussah wie Fina, und einem Sohn, der aussah wie ich. Der Sohn war stumm. Doch als er vor einem Spiegel stand, war sein Spiegelbild ich. Und mit heiserer Stimme sagte er zu mir: „Du kannst helfen!“ Ich schreckte hoch und schwitzte, trotz der kühlen Nachtluft, die durch das Fenster hineindrang, trotz der Kühle, die seit dem Spukschloss auf meiner Haut lag. Lange lag ich wach, lauschte Finas Atem und dem dunklen Atem des Hauses.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war die Sonne schon so weit gewandert, dass sie in Finas Zimmer schien. Die Kühle auf meiner Haut war noch da. Fina war schon aufgestanden, doch es drang keine Musik aus der Küche herauf. Als ich nach unten ging, kam meine Mutter in ihrem Maleroverall aus einem der Zimmer. Sie machte mir Frühstück und stand an der Spüle, während ich mein Müsli aß und an den Jungen aus meinem Traum dachte. Ich war froh, dass sie bei mir in der Küche war. Ihre Stille bekümmerte mich nicht, nur die Trauer, die sie umgab.

Nach dem Frühstück ging ich in mein Zimmer und nahm die Wiesenfibel heraus, die ich von meinen Großeltern geschenkt bekommen hatte, und zwischen deren Seiten ich gepresste Blätter und Blüten von der Wiese hinter unserem Haus aufbewahrte. Ich blätterte zur Echten Kamille und nahm vorsichtig die gepresste Blüte heraus. In meiner Wiesenfibel stand, dass sie eine Heilpflanze ist. Ob sie auch die Kühle heilen konnte? Ich ging ins Bad, um mir die Zähne zu putzen, sah in den Spiegel und mein Spiegelbild sagte: „Du kannst helfen!“ Ich ließ die Zahnbürste fallen, rannte in Finas Zimmer und verkroch mich unter ihrer Decke wie am Tag zuvor. Zunächst hielt ich die Augen geschlossen, dann traute ich mich, Finas Bettdecke zu betrachten. Es waren viele kleine Pferde darauf, die meisten waren braun, manche schwarz und auch ein paar Schimmel waren dabei, die ich sanft streichelte. Dann stand ich auf, ging mit einer Schüssel in den Garten und pflückte Kamillenblüten. Ich ließ warmes Wasser in die Badewanne laufen, zerrieb die Blüten zwischen meinen Händen und ließ sie ins Wasser fallen. In der Wanne liegend atmete ich den Duft der Kamille tief ein, bevor ich so lange untertauchte, wie ich konnte. Das wiederholte ich einige Male: Einatmen, untertauchen, auftauchen, einatmen, untertauchen, auftauchen ... , bis Fina plötzlich neben der Wanne stand.
„Badewanne? Bei dieser Hitze?“, fragte sie.
Ich fing an zu weinen und erzählte ihr von der Kühle, die sich im Spukschloss auf meine Haut gelegt hatte.
„Zeig mal her!“
„Komisch!“, sagte sie und kaute auf ihrer Unterlippe. „Komm raus, wir fragen Erik, vielleicht weiß der irgendwas.“
Weinend zog ich den Stöpsel, weinend stieg ich aus der Wanne und weinend zog ich mich an.
„Jetzt hör auf!“, sagte Fina schließlich, aber den ganzen Weg ins Dorf, wo wir zum Bolzplatz wollten, hielt sie meine Hand. Auf der kleinen Mauer vor der Bäckerei saß ein Mann mit langem schwarzem Haar, das in der Sonne glänzte. Ich hatte ihn schon öfters auf dieser Mauer sitzen sehen, immer allein, immer schweigsam. Doch heute, als wir an ihm vorbeigingen, sagte er: „Hilf, wenn du helfen kannst!“

Danach rannten Fina und ich den restlichen Weg zum Bolzplatz, wo Erik im Schatten der Bäume mit anderen Kindern Fußball spielte.
„Hallo Fina, wollt ihr mitspielen?“, fragte er, als er uns sah, aber Fina schüttelte den Kopf.
„Komm mal her“, sagte sie. Erik kam auf uns zu, sein schweißnasses blondes Haar klatschte ihm am Kopf fest.
„Sag mal, was weißt du über das Spukschloss?“, fragte Fina. „Was für ein Spuk soll es denn dort geben? Wird man da verflucht oder was?“
„Wieso wollt ihr’n das wissen?“
„Wir waren ja letztens da und Levi hat eine Stimme gehört. „Du kannst helfen!“ hat die gesagt und jetzt ist er immerzu ganz kalt, wird gar nicht mehr richtig warm. Hier, fühl mal!“ Fina nahm Eriks Hand und legte sie auf meinen Unterarm, wo Erik sie schnell wieder wegzog. Ich wischte mir mit dem Handrücken Rotz von der Nase, weil ich nach dem Ereignis beim Bäcker wieder angefangen hatte zu weinen.
„Und? Weißt du, was das ist? Wie kriegt er denn das wieder weg?“
„Keine Ahnung! Aber ihr könnt ja mal den irren Lothar fragen, der schläft da manchmal, hat so lange, schwarze Haare, habt ihr bestimmt schon mal gesehen, der sitzt öfter mal vorm Bäcker, vielleicht weiß der was.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Ich hab Angst vor dem.“
„Jetzt sei kein Baby, Levi!“, sagte Fina. „Du kannst nicht immerzu weglaufen, wenn du Angst hast, du willst doch, dass das wieder weggeht, oder?“
Also gingen wir zurück zum Bäcker, wobei Fina meine Hand nahm und mich hinter sich herzog: „Nun komm schon, lass dich nicht so ziehen, du bist schwer!“
Lothar saß nicht mehr vor der Bäckerei und Fina wollte noch mal zum Spukschloss gehen, weil er vielleicht dort sein würde. Da ließ ich ihre Hand los und lief nach Hause.
Ich hörte sie noch rufen: „Dann geh ich eben allein!“

Zu Hause angekommen, verkroch mich erneut unter Finas Bettdecke. Ich wollte die Kühle nicht und den Umzug nicht und, dass mein Vater tot war, nicht und helfen, wollte ich auch nicht. „Sei kein Baby, Levi!“, hatte Fina gesagt. Aber wie ging das? Wie war man mutig? Wieder betrachtete ich die Pferde auf Finas Decke, die braunen, die schwarzen und die weißen. Ich begann sie zu zählen und zählte sie alle. Dann stand ich auf, ging ins Bad und stellte mich vor den Spiegel, während mein Herz galoppierte wie die Pferde auf Finas Decke. Ich konnte ihn sehen, den Jungen, der aussah wie ich, auch wenn ich nur mich selbst sah. Aber er sagte nichts und so ging ich wieder, legte mich mit meiner Wiesenfibel unter einen Apfelbaum, war aber zu abgelenkt und sah einfach nur zu, wie der Wind sanft über die Gräser und Blumen der Wiese strich.

„Der irre Lothar war nicht da“, sagte Fina, als sie vom Spukschloss kam. „Wir müssen noch mal wann anders hin.“
„Und was, wenn die Stimme wieder da ist?“
„Dann fragst du, wie du helfen kannst.“
„Das hab ich ja schon versucht. Ich hab ihn vorhin im Spiegel gesehen, aber er hat nichts gesagt.“
„Wen hast du im Spiegel gesehen?“
„Na, den Jungen.“
„Welchen Jungen denn?“
„Den Jungen, der im Spukschloss wohnt mit seiner Schwester und seinem Vater. Der Junge, der mir gesagt hat, dass ich helfen soll.“
„Woher weißt du denn das alles mit dem Jungen und dem Vater und so? Ich denke, du hast nur eine Stimme gehört? Levi, jetzt rück mal langsam raus mit der Sprache, was ist alles passiert? Was weißt du denn nun?“
Da erzählte ich ihr alles, was passiert war.
„In der Nacht, nachdem wir im Schloss waren, hab ich geträumt, dass im Schloss ein Junge wohnt, mit seiner Schwester und seinem Vater. Und als er in den Spiegel geguckt hat, hat er mir gesagt, dass ich helfen kann, und da wusste ich natürlich, dass es der gleiche Junge ist, und heute Morgen dann, als du nicht da warst, da hab ich Zähne geputzt und auch in den Spiegel geguckt und da hat er mir wieder gesagt, dass ich helfen kann und …“, an dieser Stelle fing ich an zu weinen, fuhr aber fort: „… und da bin ich weggerannt und dann hab ich aber vorhin, als du beim Schloss warst, noch mal in den Spiegel geguckt und da hab ich ihn gesehen, aber er hat nichts gesagt, war einfach nur stumm …“
„Hast du denn vorhin gefragt, wie du helfen kannst?“
Ich wusste nur, wie man Angst hatte, nicht, wie man mutig war, aber das sagte ich nicht. Ich ignorierte das galoppierende Pferd in meiner Brust, ging noch mal ins Bad, stellte mich noch mal vor den Spiegel, fragte: „Wie kann ich denn helfen?“
Doch der Junge blieb stumm.

Am Abend lag ich auf meiner Matratze in Finas Zimmer und dachte an den stummen Jungen. Wach lag ich da und hatte genauso viel Angst davor, zu träumen, wie davor, nicht zu träumen. Ich hörte Fina in den Schlaf hinübergleiten, ballte meine Hände zu Fäusten und fragte: „Fina, gehst du morgen noch mal mit mir zum Spukschloss?“
„Klar!“, murmelte sie. „Wird alles gut, wirst schon sehen!“
Dann schlief auch ich ein. Als Fina mich am nächsten Morgen weckte, war der Himmel grau, Wassertropfen rannen das Fenster herab, geträumt hatte ich nicht.

Nach dem Frühstück gingen wir zum Gutshaus. Feiner Nieselregen lag mehr in der Luft, als dass er fiel. Es war der erste Regen seit ein paar Wochen und er störte mich nicht. Ich strebte vorwärts, während Fina sang: „Alle, die Tod und Teufel nicht fürchten, müssen Männer mit Bärten sein.“ Ich fürchtete weder Tod noch Teufel. Ich fürchtete mich vor meiner Angst, am meisten fürchtete ich mich davor, wieder wegzulaufen. Der Nieselregen hatte sich auf die Gräser gesetzt und während wir über die Streuobstwiese gingen, lief er mir in dünnen Rinnsalen die Beine herunter.

Wie zwei Tage zuvor, betraten wir das Gutshaus durch die Hintertür. Die Türen, die vom Flur abgingen, waren alle wieder geschlossen.
„Lothar?“, rief Fina flüsternd in den Flur hinein. Stille.
Ich ging voran, direkt auf die Tür zu, die zur Diele führte, Fina folgte mir. Im Schneidersitz ließ ich mich nieder, stellte mir Wurzeln vor, die aus mir heraus in den Boden wuchsen; legte die Handflächen auf das Holz, schloss die Augen und hoffte auf Antworten. Ein Luftzug, fein wie ein Flüstern, strich über mein Schlüsselbein, umrundete meinen Bauchnabel und kletterte meinen Rücken wieder hinauf. Ich zitterte, während ich das Flüstern gewähren ließ. Dann öffnete ich die Augen und sah Fina mir gegenüber vor dem asphaltgrauen Himmel auf einer Fensterbank sitzen.
„Na endlich“, sagte sie. „Ich dachte schon, du willst da ewig sitzen bleiben. Und hat der Junge was gesagt?“ Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Antworten bekommen, nur ein Flüstern, das ich nicht verstand.
„Dann lass uns gehen!“ sagte Fina. „Lothar ist jedenfalls auch nicht hier, aber wir können ja draußen noch mal gucken.“

Wir verließen das Gutshaus, streunten durch die umliegenden Wiesen; Lothar sahen wir nicht. Unweit vom Haus fanden wir einen Stall und kletterten durch eine offene Luke in der Wand, weil die Tür sich nicht öffnen ließ. Es fiel nur wenig Licht in den Stall, aber wir erkannten vier Boxen. Im hinteren Teil schloss sich eine Werkstatt mit einem Fenster und Regalen an, in denen Werkzeuge und allerlei Krimskrams lagen. Fina setzte sich auf einen hölzernen Hocker, der vor einer Werkbank stand. Ich denke nicht, dass sie den Luftzug wahrnahm, der durch die Werkstatt strich.

„Guck mal …“, sagte sie und zeigte auf ein Regal, aus dem in diesem Augenblick eine Zange polternd auf den Boden fiel. Wir zuckten erschrocken zusammen. Eine weitere Zange donnerte auf den Boden, dann ein Hammer, aus dem Luftzug wurde ein Wind, aus dem Wind ein Sturm. Fina und ich suchten Schutz unter der Werkbank, während Werkzeuge und der Krimskrams durch die Luft flogen, gegen die Wände geschleudert wurden, zu Boden knallten. Wir hörten das Fenster über uns zerbersten, hielten uns fest umklammert.
„Was ist das?“, fragte Fina. Ich wusste es nicht. Bilder schossen mir durch den Kopf, Fetzen von etwas, das ich nicht verstand. Ich erkannte die Werkstatt, auf der Werkbank lag eine Frau, um sie herum standen Männer in Uniformen. Ich hörte die Stimme des Jungen, rau und heiser.
„Mudder, stah up!“
Immer wieder.
„Mudder, stah up!“
Die Frau stand auf und löste sich auf, wie die Soldaten, wie die Stimme des Jungen, wurde zu einem Flüstern. Es war still, als ich mich in Finas Armen wiederfand. Wir krochen unter der Werkbank hervor und Fina zeigte weinend auf meine Nase: „Levi, du blutest ja.“
Da begann auch ich zu weinen und wischte mit dem Handrücken das Blut ab, das mir aus der Nase rann. Es vermischte sich mit dem Staub, der sich überall auf uns festgesetzt hatte, zu bröckeligen Krümeln. Durch die Luke kletterten wir zurück ins Freie, der Himmel war noch immer grau, aber der Nieselregen hatte aufgehört.

„Geht’s dir gut? Hast du dir irgendwas getan?“, fragte Fina und klopfte den Staub zuerst von meinen und dann von ihren Sachen.
„Alles in Ordnung“, sagte ich.
Das Nasenbluten hatte aufgehört, ich hatte Kopfschmerzen, die Kühle war immer noch da.
„Das war echt gruselig, Levi. Keine Ahnung, was das war. Ich hatte solche Angst. Das muss ich Erik erzählen, von rumfliegenden Sachen hat der nix erzählt. Oh Mann, gut, dass uns kein Hammer oder so erschlagen hat. Stell dir mal vor ...“
Ihre Tränen hatten helle Pfade auf ihrem staubigen Gesicht hinterlassen.
„Hat der Junge denn was gesagt? Ist deine Haut jetzt wieder warm?“
Ich schüttelte den Kopf, wusste nicht, wie ich ihr erzählen sollte von den Fetzen, die ich nicht verstand, sagte nichts. Sie umarmte mich.
„Lass uns trotzdem jetzt erst mal nach Hause gehen!“

Hand in Hand machten wir uns auf den Rückweg, gingen vom Stall zum Haus und am Haus vorbei, kamen zum Hintereingang und sahen, dass die Tür offen war.
„Warte mal!“, sagte Fina. „Ich geh nur mal kurz gucken, ob Lothar drinnen ist.“
Aber ich ließ Finas Hand nicht los, schüttelte den Kopf.
„Gut, dann komm mit!“
Wieder schüttelte ich den Kopf.
„Ist die Kühle noch da?“
Ich nickte.
„Na also, lass uns drinnen nachsehen, ob Lothar da ist, vielleicht kann er helfen.“

In dem Moment hörte ich eine Stimme sagen: „Du kannst helfen!“
Sie klang tiefer als zuvor, nicht rau und auch nicht heiser. Fina drehte sich um, ich auch, uns gegenüber stand Lothar. Es war das erste Mal, dass ich ihn richtig ansah. Langes schwarzes Haar fiel ihm wie ein Vorhang aus Seide beidseits des Gesichts herunter bis zur Brust. Er schaute mir in die Augen und sagte: „Gehst du rein, hilfst du ihnen und euch!“
Dann dreht er sich um und ging.
„Geht die Kühle dann weg?“, fragte Fina ihm hinterher. Aber er antwortete nicht.
„Geht die Kühle davon weg?“, rief sie, nun lauter.
Da konnte ich Lothar nicken sehen. Die asphaltgraue Wolkendecke begann löchrig zu werden, hier und da war bereits blauer Himmel zu sehen.

Als ich mich wieder zum Haus drehte, sah ich die Hintertür wie ein offenes Maul auf mich warten.
„Ich komme mit!“, sagte Fina und nickte.
„Ich komme mit dir mit!“
Ich schloss die Augen, dachte an Finas Bettdecke mit den Pferden, dachte an die braunen, die schwarzen und auch die weißen Pferde. Dann ging ich einen Schritt auf die Tür zu, dann noch einen und noch einen … Schließlich standen wir direkt vor dem Eingang. Der muffige Holzgeruch kam mir vertraut vor, auch das Knarzen der Dielen, als wir den Flur betraten.

Nachdem ich die Tür zur Diele geöffnet hatte, spürte ich den erwarteten Luftzug, der mir über das Schlüsselbein strich. Wir waren kaum in der Mitte des Raumes angekommen, als mit einem Knall die Fenster und Buntglasscheiben der Eingangstür zerbarsten. Glas flog umher, fiel in Zeitlupe zu Boden, zusammen mit mir. Ich sah die Eingangstür mit unversehrten Buntglasscheiben, sah Männer in Uniformen hereinkommen, sah ein Mädchen, einen Mann, fühlte mich körperlos und spürte gleichzeitig die Tränen des Jungen meine Wangen hinablaufen. Ich hörte seine Schreie, die meine waren, sah Blut auf dem bernsteinfarbenen Muster eine Lache bilden, wusste nicht, wessen Blut das war, sah ein rotes Rinnsal über grauen Boden laufen, sah den Kopf meines Vaters, sah seine braunen Locken auf Asphalt liegen. Ich sah nur seinen Hinterkopf, nicht seine Augen, wollte wissen, musste wissen, ob seine Augen offen oder geschlossen waren, aber konnte mich ihm nicht nähern. Ich erinnerte mich an meinen Körper und spürte Schmerzen, sah den Kopf meines Vaters sich auflösen, schrie: „Nein!“ und hörte eine vertraute Stimme: „Levi! Levi! Wach auf, mach die Augen auf!“

Ich öffnete die Augen und sah in Finas tränenverschmiertes Gesicht.
„Levi!“, sagte Fina und drückte mich viel zu fest. „Ich hatte solche Angst! Du bist einfach so umgefallen. Einfach so.“
„Autsch!“ sagte ich, weil Fina so fest drückte und mein Körper schmerzte. Ich setzte mich auf, spürte Blut aus meiner Nase rinnen, wischte es mit dem Handrücken weg. In der Diele war es still und friedlich. Ich hörte Vogelgezwitscher und sah die Sonne durch die Wolken brechen. Die Glassplitter auf dem Boden glitzerten. Die Kühle auf meiner Haut war fort und die Sonne fühlte sich warm und vertraut an.
„Du brauchst keine Angst mehr zu haben, Fina! Es ist vorbei.“

Der Weg nach Hause war mühsam. Mein Körper schmerzte überall. Ich erzählte Fina alles, was passiert war, und weinte die ganze Zeit. Als wir zu Hause ankamen, stand unsere Mutter an der Spüle. Sie schaute aus dem Fenster, während sie einen Pinsel ausspülte. Als sie uns sah, kam sie auf uns zu, nahm uns beide in den Arm und sagte: „Ich bin fertig! Ich bin jetzt fertig!“

 

Hi @Katta,

sehr sehr seltsam. In den 70ern habe ich jede Woche die "Gespenster-Heftchen" gekauft. Am Ende der Geschichten stand immer: 'Seltsam, aber so steht es geschrieben.' Dann bin ich unter die Bettdecke. Das könnte auch so eine Geschichte gewesen sein.

Sie hat mir gefallen. Wobei es nicht das Seltsame war sondern deine Erzählweise. Authentisch, der Sicht beider Kinder angemessen. Die Eindrücke von Sommer, Regen, Wiesen, wie man alles als Kind sieht.

die seit dem Spukschloss auf meiner Haut lag. Lange lag ich wach
... da kam ich ins Stolpern.
und da hat er, mir wieder gesagt
das Komma kann auf jeden Fall weg
Ich schüttelte den Kopf, wusste ich nicht

Ich sah die Eingangstür mit unversehrten Buntglasscheiben, sah Männer in Uniformen hereinkommen, sah ein Mädchen, einen Mann, fühlte mich körperlos und spürte gleichzeitig die Tränen des Jungen meine Wangen hinablaufen. Ich hörte seine Schreie, die meine waren, sah Blut auf dem bernsteinfarbenen Muster eine Lache bilden, wusste nicht, wessen Blut das war, sah ein rotes Rinnsal über grauen Boden laufen, sah den Kopf meines Vaters, sah seine braunen Locken auf Asphalt liegen. Ich sah nur seinen Hinterkopf, nicht seine Augen ...
Ich sah zu viele sah's ...

Schön gemacht, diese kleine Geschichte aus der Kinderwelt. Und sehr seltsam ...

Grüße
Morphin

 

Hallo @Katta,

mir hat deine poetische Art zu erzählen auch sehr gefallen. Für mich war die Geschichte vor allem deshalb spannend, weil sie Möglichkeiten zur Interpretation lässt. Vordergründig scheint es eine reine Gruselgeschichte zu sein, aber möglicherweise ist es auch Levis Art, den Tod des Vaters zu verarbeiten, eine labile Psyche, die sich mit dem kindlichen Glauben an Geister und mit Träumen mischt. Er muss nicht nur den Verlust des Vaters sondern auch die geistige Abwesenheit der Mutter und den Umzug verarbeiten, was sich für mich ebenso in Wahnvorstellungen oder - um es milder zu formulieren - eben in kindlichen Fantasien äußern könnte. Am Ende scheint genug Zeit verstrichen zu sein, sodass sowohl Levi als auch die Mutter über das Gröbste hinweg sind. Etwas unklar bleibt mir allein die Position Finas. Sie wirkt fast übermenschlich, alles scheint an ihr abzuprallen, bis zum Schluss auch sie in Tränen ausbricht, aber das könnte auch nur in der Vorstellung Levis passieren.

Tagsüber bestrich sie Wände mit heller Lehmfarbe und ihrer Trauer. Nachts hörte ich die frisch geschliffenen Dielen ächzen und es schien mir ein dunkles Wimmern darin zu sein, ein schweres Atmen. Ich wusste, das war die Trauer meiner Mutter, das Haus atmete sie raus in die Nacht. Die Trauer umgab meine Mutter so dicht, dass niemand hindurch kam.
Das gefällt mir sehr gut.

Fina war im Frühjahr zehn geworden, ich war ihr kleiner Bruder und würde im Herbst acht werden.
Finde ich etwas umständlich formuliert. Vorschlag: Aber ich hatte meine Schwester. Fina war zehn, zwei Jahre älter als ich und das einzige Mädchen, das ich bewunderte. So sparst du dir den Bruder, und das genaue Alter finde ich auch nicht so wichtig für die Geschichte.

Ich mochte, wie es die Trauer meiner Mutter in sich aufnahm, wie es nachts atmete, wie es uns alle tröstete.
Könnte weg, weil du es ein paar Sätze vorher schon erwähnt hast.

Fina dagegen redete mit allen, mit dem Bäcker im nächsten Dorf, mit unseren Großeltern, wenn sie uns besuchten, mit den Kindern, auf die wir hier und da trafen, mit allen
sagst du schon am Satzanfang.

Erik sagt, da spukt‘s.
Auch entbehrlich.

Nach dem Frühstück machten wir uns gleich auf den Weg.
Würde hier eine neue Zeile beginnen.

Wie einen zu schweren Rucksack trug ich sie zum Schloss, das ein altes, kleines Gutshaus war.
Vorschlag: Wie einen zu schweren Rucksack trug ich sie zum Schloss, einem alten kleinen Gutshaus.

Natürlich folgte ich ihr, ich wäre ihr überallhin gefolgt in jener Zeit.
Das hast du vorher bereits erwähnt.

Ihre Stille bekümmerte mich nicht, nur die Trauer, die sie umgab und die so undurchdringlich war.
Könnte auch weg.


Gern gelesen von Chai

 

Hallo lieber @Morphin und liebe @Chai,

vielen lieben Dank für eure Kommentare. Es freut mich, dass euch die Schreibweise gefallen hat, denn ich habe immer ein bisschen Angst vor Kitsch und es ist ja doch manchmal ein schmaler Grat zwischen stimmungsvoll und kitschig. Darum bin ich froh, dass in den ersten zwei Kommentaren das Wort "kitschig" schon mal nicht gefallen ist, puh! In erster Linie ging es mir um die Stimmung von Levi in diesem Sommer, der abwesenden Mutter, dem noch abwesenderen Vater usw. Keine Ahnung, wieso sich da diese Geistergeschichte entwickelt hat. Ich war/bin vor allem besorgt, dass es eben gar nicht zueinander passt, die Stimmung und die Gespenstergeschichte, aber ich finde deine Lesart, Chai, da ganz wundervoll. Ich muss noch mal schauen, vielleicht entschärfe ich Fina noch ein bisschen, so einen Kommentar habe ich auch irgendwie erwartet, denn ich habe mich selbst auch gefragt, ob sie nicht zu cool ist, denn sie ist ja auch noch ein Kind.

@Morphin
Danke fürs Fehlerfinden, die verbessere ich. Das mit dem "lag" und "lag" ist mir gar nicht aufgefallen, da schau ich mal, wie ich das verbessere. Und bei den vielen "sahs" muss ich noch mal in mich und über den Text gehen, die sollten natürlich etwas Dynamik bringen, aber vielleicht ist es auch etwas zu viel des Guten ;-)

@Chai

Das gefällt mir sehr gut.
Das freut mich. Ich mag auch die Vorstellung, dass das Haus irgendwie beseelt ist und bei der Heilung hilft.

Finde ich etwas umständlich formuliert. Vorschlag: Aber ich hatte meine Schwester. Fina war zehn, zwei Jahre älter als ich und das einzige Mädchen, das ich bewunderte. So sparst du dir den Bruder, und das genaue Alter finde ich auch nicht so wichtig für die Geschichte.
Das Bruder hab ich eigentlich nur drin, weil Levi weiblich klingt und ich nicht wusste, ob jedem klar ist, dass es ein Jungenname ist. Allerdings kann man das ganze auch mit zwei Schwestern lesen, wäre auch egal. Das Alter ist auch nicht wichtig, das stimmt schon. Es wird ja klar, dass es sich um Kinder handelt und auch um GEschwister, also wahrscheinlich lasse ich einfach den Satz: Aber ich hatte Fina. und den zweiten Satz lösche ich.

Könnte weg, weil du es ein paar Sätze vorher schon erwähnt hast.

sagst du schon am Satzanfang.

Auch entbehrlich.

Würde hier eine neue Zeile beginnen.
Stimme allen vier Sachen zu.
Darf ich an dieser Stelle noch mal eine user-Frage stellen? Nämlich: Kann ich auch so zitieren, dass mein Zitat auf das du dich beziehst auch sichtbar ist? Das wäre ja schon einfacher ...

Vorschlag: Wie einen zu schweren Rucksack trug ich sie zum Schloss, einem alten kleinen Gutshaus.
Ich finde schon, dass es "zum SChloss, das ein altes kleines Gutshaus war" heißen muss, weil mMn so deutlich wird, dass es eben nur Schloss genannt wird. Ok, deutlich wird es möglicherweise in deinem Satz auch, aber für mich ist der falsch, weil ein Schloss eben kein kleines Guthaus ist.

Das hast du vorher bereits erwähnt.

Könnte auch weg.
Ja, auch die beiden Vorschläge werde ich übernehmen. Beim Löschen bin ich gerne dabei. Alles raus, was keine Miete zahlt ...

Vielen Dank euch zweien für euer Feedback.
Es hat mich sehr gefreut, dass es so positiv war, aber ich warte noch mal ab, was noch kommt ;-)

Viele Grüße
Katta

 

Hallo @Katta,

ich kopiere die eigenen Zitate immer direkt aus dem Text, wenn ich sie einem Kommentar gegenüberstellen will. Vielleicht gibt es da noch eine einfachere Möglichkeit, aber das wäre schon mal eine Variante.

Viele Grüße,
Chai

 

Liebe @Chai,
dann mach ich das auch so, muss mich erstmal reinfriemeln ... Danke dir!

Lieber @Rob F,
vielen Dank fürs Lesen, auch das so genaue Lesen und natürlich deine Mühe, mir auch noch einen Kommentar zu schreiben.

Es gelingt dir, die Handlung bis zum Ende interessant zu halten. Dazu gehören für mich verschiedene Elemente: Wer ist Fina? Ist sie real? Was ist genau ist passiert, dass zu der Trauer der Mutter und den seltsamen Ereignissen führt? Wodurch ist der Vater gestorben? Was hat es mit der Kühle auf sich, was wissen die Dorfbewohner ... ? Die zweite Hälfte könntest du m.E. etwas kürzen. Ich fand es dann zum Ende hin doch etwas viel, durch die Ortswechsel und die verschiedenen Personen.
Es freut mich, dass der Spannungsbogen da ist. Ich bin allerdings unsicher, ob ich es nun so gut finde, dass dir nicht klar war, wer Fina ist, und überlege einzufügen, "Aber ich hatte meine Schwester Fina". Hätte dein Interesse mit dieser Info weniger gehalten?
Wenn du eine Idee hast, was genau ich dMn kürzen solllte bzw was du kürzen würdest, würde ich mich freuen, wenn du noch mal vorbeischaust :-)

Es war heiß in jenem Sommer, in dem meine Mutter mit Fina und mir aus der Stadt raus aufs Land zog.
"aus der Stadt" könntest du streichen
An dem Satz hab ich ne Weile rumgedoktort, weil der irgendwie nicht so richtig fließen wollte. Ich bin unsicher ob "aufs Land" --> "aus der Stadt" impliziert und dachte dann: vielleicht nicht für jeden. Ich lasse darum "aus der Stadt" erstmal drin, aber ich habe das "raus" gelöscht :-)

Die Trauer umgab meine Mutter so dicht, dass niemand hindurch kam.
Vorschlag für den abschließenden Nebensatz:
"..., niemand kam hindurch."
(mal ohne "dass")
Ja, ich weiß, was du meinst. Ich finde auch, dass es zumindest ein "das(s)" zuviel ist... aber hier das "dass" weglassen, gefällt mir nicht so gut. Ich grübel noch mal ...

Das neue Haus mochte ich sehr. Ich mochte, wie es die Trauer meiner Mutter in sich aufnahm, wie es uns alle tröstete.
Wortwiederholung ; du könntest z.B. "Ich mochte" im zweiten Satz streichen.
Ja, du hast ja einige Wiederholungen aufgelistet und bei einigen stimme ich dir auch zu, bei anderen, wie diesem Beispiel hier nicht. Ich habe nicht grundsätzlich etwas gegen Wortwiederholungen, sondern mag sie oft, weil sie für mich und mein Sprachgefühl Rhythmus erzeugen, auch Stimmung usw.

Die fünf Türen, die vom Flur abgingen, waren alle geschlossen, sodass einzig das Licht, das durch die Hintertür fiel, den Flur ein wenig erhellte.
würde ich in zwei Sätze unterteilen
Ich könnte schreiben: Einzig das Licht, das durch die Hintertür fiel, erhellte den Flur ein wenig. Dann finde ich aber, dass dieser Satz mit dem nächsten kollidiert im Sinne von zu wenig Variation, aber kann auch sein, dass das Quatsch ist. Ich glaube, ich brauche da erst ein bisschen Abstand zum Text, um das beurteilen zu können.

... außerdem verbarg sich etwas Dunkles und Unheilvolles in dieser Küche, etwas Schmerzvolles, viel schmerzvoller als die Trauer meiner Mutter.
Wortwiederholung ;
hier beschreibst du etwas allgemein, aber nicht, wodurch die Protagonisten das wahrnehmen
Auch hier stört mich die Wortwiederholung nicht, aber ja, ich muss noch mal grübeln, wie Levi das wahrnimmt, woran er das merkt ...

... und ging auf die letzte geschlossene Tür zu. Sie führte auf eine große Diele.
zu einer großen
Meinst du nicht, das beides geht? Hmmm... jetzt bringste mich zum Grübeln ... vielleicht regionsbedingt?

Erst machte sie sich lustig, aber dann machte sie sich Sorgen, weil ich ...
Wortwiederholung, Vorschlag:
"Erst machte sie sich lustig, war dann aber besorgt, da ich ..."
Auch hier ist die Wortwiederholung beabsichtigt.

Lange lag ich wach, lauschte Finas Atem und dem dunklen Atem des Hauses.
Wortwiederholung
Hier ebenso :-)

In meiner Wiesenfibel stand, dass sie eine Heilpflanze war.
m.E. muss es am Ende "ist" heißen. Es ist ja allgemein so, nicht nur in der Vergangenheit.
Stimmt. Ich frage mich aber auch gerade, ob es vielleicht indirekte Rede sein muss? Also: sei. Was meinst du?

Ich wollte die Kühle nicht und den Umzug nicht und, dass mein Vater tot war, nicht und helfen, wollte ich auch nicht.
... und auch nicht, dass ... ;
kein Komma nach "helfen" ;
ggf. muss es heißen: "... dass mein Vater tot ist, ..." , bin aber nicht sicher
Ja, da hakt es auch. Ich würde den eigentlich gerne so lassen, mit den drei unds, aber ich bin nicht sicher, wie das mit dem Kommata ist, besonders bei "mein Vater tot war, nicht" Bist du denn hier gestolpert und hattest Probleme die Aussage zu verstehen oder findest du deine Variante einfach schöner?
Mit dem "ist" könntest du Recht haben, aber das klingt auch total seltsam. Vielleicht sagt ja noch jemand etwas dazu. Ich warte da noch mal ab.

Ich hatte nicht gefragt. Ich wusste nur, wie man Angst hatte, nicht, wie man mutig war, aber das sagte ich nicht. Ich ignorierte das galoppierende Pferd in meiner Brust, ging noch mal ins Bad, stellte mich noch mal vor den Spiegel, fragte: „Wie kann ich denn helfen?“
Satzbeginn ; Wortwiederholung
Ich habe den ersten Satz gelöscht. Die zwei "ichs" gehen für mich bis jetzt (wie gesagt ohne Abstand zum Text) in Ordnung, auch die beiden "noch mal" ... wenn ich das lese, klingt es (momentan) ok für mich.

Wir verließen das Gutshaus, streunten durch die umliegenden Wiesen, Lothar sahen wir nicht.
Punkt nach "Wiesen"
Hier geht es wieder um Rhythmus, keine Ahnung, ob man Satzzeichen so verwenden darf. Aber ein Punkt ist halt eine andere Pause. Es ist eher eine Aufzählung ...

Ich denke, den Rest habe ich so weit übernommen und noch ein paar mehr Kommafehler dabei gefunden :Pfeif:

Danke noch mal und
viele Grüße
Katja

 

Hallo @Katta,

an sich gefällt mir, dass du hier eine Geschichte mit verschiedenen Facetten aufwirfst und ausrollst; ich mag auch die Kindersicht der Geschichte, das Kindliche an sich in ihr. Ein Spukschloss - ok, man könnte jetzt fies sein und sagen, das ist irgendwo ein Topos der Kinderliteratur, aber ich denke mir, hey, wieso nicht, man muss auch nicht immer das Rad neu erfinden.

Du machst hier viele Dinge richtig und insgesamt habe ich die Geschichte nicht ungerne gelesen, aber ich möchte auf einen Punkt zu sprechen kommen: Die Trauer der Mutter und Show/Tell.

Wie du die Trauer der Mutter durch den Erzähler kommunizierst, könnte man"Tell" nennen, also, im Grunde behauptet dein Erzähler stets, die Mutter sei sehr traurig (und das versucht er anhand von Bilder zu kommunizieren), aber die wirkliche Traurigkeit der Mutter mag nicht so recht auf mich überspringen, weil du nie tatsächlich zeigst, wie die Trauer der Mutter aussieht.
Beispiel:

Tagsüber bestrich sie Wände mit heller Lehmfarbe und ihrer Trauer.
Dass sie die Wände nicht mit Trauer bestreicht, ist klar. Dein Erzähler möchte hier kommunizieren, dass die Mutter die Wand mit einer gewissen Attitüde streicht, dass das Streichen an sich ein Akt der Trauer darstellt. Meine Frage wäre: Wieso versuchst du, die Trauer so zu kommunizieren? Das ist nicht böse gemeint, sondern eine konstruktive Frage meinerseits, nicht falsch verstehen. Ich denke, es ist verdammt schwer, Trauer wirklich in Szenen zu beschreiben. Wie raucht sie ihre Zigarette? Wie isst sie? Wie blickt sie? Wie spricht sie? Über was spricht sie? Wann schaltet sie das Licht an oder aus, was sieht sie im Fernsehen? Das wäre im "Show" die Trauer in Szenen zu kommunizieren für den Leser; so - wie gesagt, nicht böse gemeint - ist das sehr "tellig", und das Problem, das ich daran sehe, ist, dass die Trauer deiner Mutter hier in der Geschichte dadurch weniger greifbar und individuell und irgendwo "menschlich" wird, sondern sie bleibt irgendwo eine Projektionsfläche, in der deine Leser ihre Vorstellung, wie eine Mutter trauern würde, werfen werden/können - was dazu führt, dass man letztendlich nichts "Neues" oder "Eigenes" im Bezug auf Trauer von deiner Mutterfigur aus der Geschichte mitnehmen wird, da die größten Teile hiervon vom Leser selbst kommen, und nicht von der Geschichte.

Weitere Stellen, die ich hiermit einbeziehe:

Die Trauer umgab meine Mutter so dicht, dass niemand hindurch kam. Aber ich hatte meine Schwester Fina.

Das neue Haus mochte ich sehr. Ich mochte, wie es die Trauer meiner Mutter in sich aufnahm, wie es uns alle tröstete. Trotzdem wollte ich nicht allein in meinem Zimmer sein, hatte meine Matratze zu Fina geschafft und schlief jede Nacht bei ihr. Ich redete nicht viel in dieser Zeit.

außerdem verbarg sich etwas Dunkles und Unheilvolles in dieser Küche, etwas Schmerzvolles, viel schmerzvoller als die Trauer meiner Mutter.

Man könnte auch die Frage aufwerfen: Muss die Trauer der Mutter auf diese Art szenisch dargestellt werden, oder ist sie für die Geschichte eigentlich nicht relevant? Ich finde, die Trauer authentisch nachempfinden zu können, ist nicht unwichtig für die Geschichte, da letztendlich deine Protagonistin stark von ihr beeinflusst wird und sich - das ist meine Deutung der Geschichte - die Geschichte um das Spukschluss, um die Stimme, die sie hört und die Angst, die sie dabei empfindet, ohne den Todesfall des Vaters und die schlechte Verarbeitung und damit zusammenhängend das Leiden der Mutter, dessen Zeuge die Tochter wird und das auch sie - ob ihr das in ihrem Alter bewusst ist oder nicht - stark bedrückt, nicht auf die Art entfalten würde. Schlangensatz, long story short: Ich denke, ohne die unverarbeitete Trauer der Mutter, würde sich auch bei der Tochter die Fantasie des Spuks und der Stimme nicht ausprägen. Es kommt mir vor wie ein Symptom der unterdrückten Trauer, das auch mit der Mutter und ihrem Leiden zusammenhängt, das hier bei dem Mädchen ausbricht. Das Mädchen sieht eine emotionale Überforderung der Mutter und findet in ihr kein Rollenvorbild, wie man mit diesem Schicksalsschlag umgeht, und deswegen bricht diese morbide, fast psychotische Fantasie in ihr aus. In dem Sinne fände ich es gut, das Leiden und die Trauer der Mutter noch szenischer und eigener mitzubekommen, um die sehr schwierige Situation, in der sich das Mädchen befindet und die zu ihrer Fantasie führt, noch stärker nachempfinden zu können. Ich finde die Anzahl der Szenen, in der die Mutter auftaucht, in Ordnung hierfür; wie gesagt, ich plädiere nur für mehr "Show", mehr Eigenes an der Mutterfigur.

Ich hoffe, du kannst etwas mit meinen Gedanken anfangen.

Freue mich auf weitere Texte von dir!

Viele Grüße
zigga

 

Vielen Dank @Rob F fürs noch mal vorbeigucken und erklären

und

Hallo @zigga,
vielen Dank für deinen Kommentar, mit deinen Gedanken, kann ich auf jeden Fall etwas anfangen, wenn ich sie auch nur teilweise teile.

ok, man könnte jetzt fies sein und sagen, das ist irgendwo ein Topos der Kinderliteratur, aber ich denke mir, hey, wieso nicht, man muss auch nicht immer das Rad neu erfinden.
Ob nun fies oder nicht, man kann das sagen, weil es ja doch vordergründig erstmal eine Geistergeschichte ist und damit vielleicht erstmal öde und vorhersehbar. Ich grüble gerade noch, ob ich das noch etwas auflösen könnte, aber vermutlich nicht, d.h. ich habe ja (für mich) versucht keine klassische Geistergeschichte zu schreiben, sondern Levi sehr ins Zentrum zu holen, aber ja, der Plot ist Geistergeschichte, ich glaube da kann ich nicht viel dran rütteln und nehme einfach dein "man muss auch nicht immer das Rad neu erfinden" und mache es mir darauf gemütlich für die Dauer dieser Geschichte.

Du machst hier viele Dinge richtig und insgesamt habe ich die Geschichte nicht ungerne gelesen
Nicht ungern gelesen also, hmmm :D Vielleicht schaffe ich ja ein "gerne gelesen" beim nächsten Mal ;-)

Wie du die Trauer der Mutter durch den Erzähler kommunizierst, könnte man"Tell" nennen, also, im Grunde behauptet dein Erzähler stets, die Mutter sei sehr traurig (und das versucht er anhand von Bilder zu kommunizieren), aber die wirkliche Traurigkeit der Mutter mag nicht so recht auf mich überspringen, weil du nie tatsächlich zeigst, wie die Trauer der Mutter aussieht.
Ja, absolut. Der Erzähler behauptet, dass die Mutter traurig sei, bzw. er interpretiert das Verhalten der Mutter als traurig. Die Frage ist mMn nun, wie er darauf kommt und ob du, als Leser, zur gleichen Schlussfolgerung kämst, wenn der Erzähler nirgendwo sagen würde, dass die Mutter traurig sei. Und ich glaube, dass würdest du, denn das vordergründigste Merkmal der Mutter (bzw. ihrer Trauer) in der Geschichte ist doch ihre Abwesenheit und die kann ich ja nur zeigen, indem sie eben nicht da ist. Darum sag ich jetzt mal: Die Trauer der Mutter soll gar nicht auf dich überspringen, wenn schon dann soll ihre Abwesenheit auf dich überspringen, es soll auf dich überspringen wie die Kinder da sich selbst überlassen sind, während die Mutter (sich gesund?) renoviert.

Tagsüber bestrich sie Wände mit heller Lehmfarbe und ihrer Trauer.
Dass sie die Wände nicht mit Trauer bestreicht, ist klar. Dein Erzähler möchte hier kommunizieren, dass die Mutter die Wand mit einer gewissen Attitüde streicht, dass das Streichen an sich ein Akt der Trauer darstellt.
Ich sag jetzt mal: Nein, das mit der Attitüde ist nicht, was der Erzähler kommunizieren möchte, aber es ist ok, wenn du es so liest und wenn sich in deinem Kopf ein Bild dazu einstellt, _wie_ die Mutter traurig eine Wand streicht, dann ist das doch ok. Ist das nicht was Gutes?

Meine Frage wäre: Wieso versuchst du, die Trauer so zu kommunizieren? Das ist nicht böse gemeint, sondern eine konstruktive Frage meinerseits, nicht falsch verstehen. Ich denke, es ist verdammt schwer, Trauer wirklich in Szenen zu beschreiben. Wie raucht sie ihre Zigarette? Wie isst sie? Wie blickt sie? Wie spricht sie? Über was spricht sie? Wann schaltet sie das Licht an oder aus, was sieht sie im Fernsehen? Das wäre im "Show" die Trauer in Szenen zu kommunizieren für den Leser; so - wie gesagt, nicht böse gemeint - ist das sehr "tellig", und das Problem, das ich daran sehe, ist, dass die Trauer deiner Mutter hier in der Geschichte dadurch weniger greifbar und individuell und irgendwo "menschlich" wird, sondern sie bleibt irgendwo eine Projektionsfläche, in der deine Leser ihre Vorstellung, wie eine Mutter trauern würde, werfen werden/können - was dazu führt, dass man letztendlich nichts "Neues" oder "Eigenes" im Bezug auf Trauer von deiner Mutterfigur aus der Geschichte mitnehmen wird, da die größten Teile hiervon vom Leser selbst kommen, und nicht von der Geschichte.
Keine Sorge, du kannst ruhig deine Fragen stellen, so funktioniert ja Kommunikation nun mal und ich finde, dass man als Autor:in Antworten auf solche Fragen haben sollte. Ich versuche die Trauer so zu kommunizieren, weil ich damit vor allem Levi und sein Leben, nicht seine Mutter "zeigen" will. Und Levi ist ja nicht nur Beobachter, der beschreibt, wie die Mutter etwas tut, sondern er interpretiert und ordnet ein (in diesem Spannungsfeld zwischen erlebter Kindheit und der retrospektiven Erwachsenenperspektive). Im Übrigen beobachtet er ja zB dass die Mutter immer an der Spüle steht und aus dem Fenster schaut. Für mich reicht das tatsächlich, für mich ist das irgendwie genug Show an dieser Stelle.

das ist meine Deutung der Geschichte - die Geschichte um das Spukschluss, um die Stimme, die sie hört und die Angst, die sie dabei empfindet, ohne den Todesfall des Vaters und die schlechte Verarbeitung und damit zusammenhängend das Leiden der Mutter, dessen Zeuge die Tochter wird und das auch sie - ob ihr das in ihrem Alter bewusst ist oder nicht - stark bedrückt, nicht auf die Art entfalten würde. Schlangensatz, long story short: Ich denke, ohne die unverarbeitete Trauer der Mutter, würde sich auch bei der Tochter die Fantasie des Spuks und der Stimme nicht ausprägen. Es kommt mir vor wie ein Symptom der unterdrückten Trauer, das auch mit der Mutter und ihrem Leiden zusammenhängt, das hier bei dem Mädchen ausbricht. Das Mädchen sieht eine emotionale Überforderung der Mutter und findet in ihr kein Rollenvorbild, wie man mit diesem Schicksalsschlag umgeht, und deswegen bricht diese morbide, fast psychotische Fantasie in ihr aus.
Du bist ja nicht der Einzige, der die Geschichte so liest, was mir wirklich gut gefällt. Was ich mich aber schon die ganze Zeit frage: Ist es dir (euch) nicht zu viel mit dem, was am Ende passiert? Das die Fenster zerbersten und so, das Nasenbluten etc. Ordnest du das alles unter Fantasie/Psychose ein? Wie gesagt, ich finde die Interpretation gut, möchte nur verstehen, wie genau es in diesem Fall wirkt ...

In dem Sinne fände ich es gut, das Leiden und die Trauer der Mutter noch szenischer und eigener mitzubekommen, um die sehr schwierige Situation, in der sich das Mädchen befindet und die zu ihrer Fantasie führt, noch stärker nachempfinden zu können. Ich finde die Anzahl der Szenen, in der die Mutter auftaucht, in Ordnung hierfür; wie gesagt, ich plädiere nur für mehr "Show", mehr Eigenes an der Mutterfigur.
Hmm, also im Moment seh ich diese Notwendigkeit noch nicht. Kann ja natürlich noch kommen. Im Moment mag ich das Abwesende der Mutter, ich finde nicht, dass wir Leser von ihr mehr sehen müssten, denn Fina und Levi sehen sie ja auch nicht viel. Aber ich nehme die Stelle der Trauer an einer deiner zitierten Stelle raus ("schmerzvoller als die Trauer meiner Mutter").

Vielen Dank für deinen schönen Kommentar, er hat mich sehr gefreut.
Viele Grüße
Katta

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Katta!

Das ist m.A.n. eine außerordentlich gute Geschichte, die viel Raum für Interpretation lässt. Mir gefällt dein bildhafter Schreibstil, deine Liebe zu emotionalen Details, (mag auch die Mutter, die mit ihrer Trauer die Wände streicht) er ist individuell, kein Abklatsch irgendwelcher literarischer Vorbilder, gehört zu jenen Texten, die mich schon durch ihre Sprache beeindrucken, völlig egal, was sie mir erzählen. Wobei in dieser Story auch der Inhalt Potential hat. Für mich steht Sprache ohnehin immer einen Schritt vor dem Inhalt.

Die Frau stand auf und löste sich auf, wie die Soldaten, wie die Stimme des Jungen, wurde zu einem Flüstern.
Das markierte "wie" und das Komma solltest du weglassen. Auch das doppelte "auf" ließe sich vermeiden: Die Frau erhob sich und ...

Sie schaute aus dem Fenster, während sie einen Pinsel ausspülte. Als sie uns sah, kam sie auf uns zu, nahm uns beide in den Arm und sagte: „Ich bin fertig! Ich bin jetzt fertig!“

Dieses "Während" würde mir mein Papyrus-Schreibprogramm sofort um die Ohren hauen. Das ginge aktiver. ;)
Wie auch immer, mir gefällt der Schlussatz in seiner Bildhaftigkeit. Die Mutter spült endgültig den Pinsel aus. Sie ist fertig!
Gut gemacht!

Ich freue mich auf weitere Texte von dir. :)

 

Hallo @Katta

ich habe Deine Geschichte sehr gerne gelesen. Ich mag die Art, wie Du beschreibst, war ganz nah an den Protagonisten, da ist tolles Kopfkino entstanden. Die Geschichte hat etwas Mysthisches und Melancholisches, was mich sehr anspricht. Du arbeitest subtil, beschreibst die Angst, sodass sie förmlich greifbar ist.

Hier ein paar Leseeindrücke:

Tagsüber bestrich sie Wände mit heller Lehmfarbe und ihrer Trauer. Nachts hörte ich die frisch geschliffenen Dielen ächzen und es schien mir ein dunkles Wimmern darin zu sein, ein schweres Atmen. Ich wusste, das war die Trauer meiner Mutter; das Haus atmete sie raus in die Nacht. Die Trauer umgab meine Mutter so dicht, dass niemand hindurch kam. Aber ich hatte Fina.

Das hast Du sehr schön beschrieben.
Ich hab mich die ganze Zeit gefragt, ob Fina die Schwester ist und gehe davon aus. Oder täusche ich mich?

Das neue Haus mochte ich sehr. Ich mochte, wie es die Trauer meiner Mutter in sich aufnahm, wie es uns alle tröstete.

Auch diese Stelle hat mir sehr gut gefallen.

Und wenn niemand zum Reden da war, dann sang sie. Sie sang viel in diesem Sommer.

Sehr schön ausgedrückt.

Nach dem Frühstück machten wir uns gleich auf den Weg. Ich war nie ohne Fina in dieser Zeit, nur darum ging ich mit, um bei ihr zu sein.

Das klingt ein wenig holprig.
Vorschlag: In dieser Zeit war ich nie ohne Fina. Ich ging nur mit, um bei ihr zu sein.

Wie einen zu schweren Rucksack trug ich sie zum Schloss, das ein altes, kleines Gutshaus war. Ein mit Feldsteinen gepflasterter Weg lief auf das Haus zu, dessen Mauerwerk aus Backsteinen bestand und von dunklen Holzbalken durchzogen war. Rechts und links des Weges standen Gräser hüfthoch, dazwischen Goldgarbe, die hier überall wuchs, und mich an Sonnen in einem grünen Himmel denken ließ. Wir folgten einem Pfad, auf dem das Gras heruntergetreten war und standen schließlich vor dem Hintereingang.

Schön beschrieben. Ich begleite die Protas gerne auf ihrem Weg.

Zwei der Türen führten in Kammern ohne Fenster, in denen Regale mit verstaubten Einmachgläsern standen. Hinter der dritten Tür fanden wir zwei Betten, die jeweils an der Wand rechts und links der Tür standen. Zu jedem gehörte eine vergilbte Matratze, ein Nachttisch sowie ein Holzschrank. Auf einer der Matratzen lag ordentlich zusammengerollt ein Schlafsack. Dann gab es noch eine Küche, in deren Mitte ein Holztisch mit vier Stühlen stand.

Wortwiederholungen.
Sie führte auf eine große Diele.

Müsste es nicht heißen: ... in eine große Diele?

Ich entspannte mich ein wenig, weil der Raum so friedlich wirkte.

Hier fehlt ein mich.

Es war hier wärmer, auch die Luft war besser. Ein sanfter Luftzug strich über meinen Hals und ich fröstelte.

Vorschlag: Hier war es wärmer, man konnte besser atmen. Ein sanfter ...

Die Stimme wiederholte und war jetzt ganz nah: „Du kannst helfen!“

Das klingt holprig.
Vorschlag: Die Stimme wiederholte die Worte und war mit einem Mal ganz nah.

Eine Kühle hatte sich dort in der Diele auf meine Haut gelegt. Sie war nicht unangenehm in der Hitze des Sommers, aber verstörend und angsteinflößend. Ich sagte Fina nichts von der Kühle, ich wollte nicht, dass sie sich sorgte.

Diese Stelle hat mir sehr gut gefallen.
Wenigstens ich musste normal bleiben. Den Rest des Tages blieben wir zu Hause.

Wortwiederholung.
Vorschlag: Den Rest des Tages verbrachten wir zu Hause.

In dieser Nacht schlief ich bei Fina im Bett.
„Du bist so schön kalt“, sagte sie, bevor sie einschlief.

Hier war ich irritiert, denn weiter oben hattest Du geschrieben, dass sie immer bei Fina schläft.

„Komm mal her“, sagte sie. Erik kam auf uns zu, sein schweißnasses blondes Haar klatschte ihm am Kopf fest.

Das erzeugt ein komisches Bild. Eher ... klebte

Der Nieselregen hatte sich auf die Gräser gesetzt und während wir über die Streuobstwiese gingen, lief er mir in dünnen Rinnsalen die Beine herunter.

Erzeugt ein komisches Bild, als ob der Regen nur auf ihren Beinen ist und den Rest des Körpers ausspart.

Im Schneidersitz ließ ich mich nieder, stellte mir Wurzeln vor, die aus mir heraus in den Boden wuchsen; legte die Handflächen auf das Holz, schloss die Augen und hoffte auf Antworten. Ein Luftzug, fein wie ein Flüstern, strich über mein Schlüsselbein, umrundete meinen Bauchnabel und kletterte meinen Rücken wieder hinauf. Ich zitterte, während ich das Flüstern gewähren ließ. Dann öffnete ich die Augen und sah Fina mir gegenüber vor dem asphaltgrauen Himmel auf einer Fensterbank sitzen.

Sehr schöne Stelle. Toll beschrieben.

Nachdem ich die Tür zur Diele geöffnet hatte, spürte ich den erwarteten Luftzug, der mir über das Schlüsselbein strich. Wir waren kaum in der Mitte des Raumes angekommen, als mit einem Knall die Fenster und Buntglasscheiben der Eingangstür zerbarsten. Glas flog umher, fiel in Zeitlupe zu Boden, zusammen mit mir. Ich sah die Eingangstür mit unversehrten Buntglasscheiben, sah Männer in Uniformen hereinkommen, sah ein Mädchen, einen Mann, fühlte mich körperlos und spürte gleichzeitig die Tränen des Jungen meine Wangen hinablaufen. Ich hörte seine Schreie, die meine waren, sah Blut auf dem bernsteinfarbenen Muster eine Lache bilden, wusste nicht, wessen Blut das war, sah ein rotes Rinnsal über grauen Boden laufen, sah den Kopf meines Vaters, sah seine braunen Locken auf Asphalt liegen. Ich sah nur seinen Hinterkopf, nicht seine Augen, wollte wissen, musste wissen, ob seine Augen offen oder geschlossen waren, aber konnte mich ihm nicht nähern. Ich erinnerte mich an meinen Körper und spürte Schmerzen, sah den Kopf meines Vaters sich auflösen, schrie: „Nein!“ und hörte eine vertraute Stimme: „Levi! Levi! Wach auf, mach die Augen auf!“

Da hab ich Gänsehaut bekommen. Tolle Stelle.

Die Kühle auf meiner Haut war fort und die Sonne fühlte sich warm und vertraut an.
„Du brauchst keine Angst mehr zu haben, Fina! Es ist vorbei.“

Sehr schön. Ich war erleichtert.

Der Weg nach Hause war mühsam. Mein Körper schmerzte überall. Ich erzählte Fina alles, was passiert war, und weinte die ganze Zeit. Als wir zu Hause ankamen, stand unsere Mutter an der Spüle. Sie schaute aus dem Fenster, während sie einen Pinsel ausspülte. Als sie uns sah, kam sie auf uns zu, nahm uns beide in den Arm und sagte: „Ich bin fertig! Ich bin jetzt fertig!“

Ein tolles Ende.

Ganz liebe Grüße und ein schönes Wochenende,
Silvita

 

Hallo Zigga!
Das ist m.A.n. eine außerordentlich gute Geschichte, die viel Raum für Interpretation lässt. Mir gefällt dein bildhafter Schreibstil, deine Liebe zu emotionalen Details, (mag auch die Mutter, die mit ihrer Trauer die Wände streicht) er ist individuell, kein Abklatsch irgendwelcher literarischer Vorbilder, gehört zu jenen Texten, die mich schon durch ihre Sprache beeindrucken, völlig egal, was sie mir erzählen. Wobei in dieser Story auch der Inhalt Potential hat. Für mich steht Sprache ohnehin immer einen Schritt vor dem Inhalt.
Hallo @Manuela K.,
auch wenn ich nicht Zigga bin, vielen lieben Dank für deinen so positiven Kommentar. Ein kleiner Nachzügler, wie schön. Das liest sich alles so toll, was du schreibst, da muss ich erstmal wieder etwas Luft rauslassen aus meiner Brust. Dein "erhob" ist auf jeden Fall gekauft. Das mit dem "wie", da bin ich irgendwie unsicher, ob das dann noch verständlich ist. Es gibt eine Ausschreibung für eine Geisterhaus-Anthologie und ich überarbeite die Geschichte gerade noch mal, auch weil ich sie dort vielleicht einreichen möchte (bin ja noch neu im Business und nicht sicher, was ich von den ganzen Anthologien halte). Aber dein Kommentar macht auf jeden Fall Mut, es zumindest mal zu versuchen.
Vielen Dank noch mal fürs Lesen und dann auch noch mir schreiben.
Viele Grüße
Katta

Hallo @Silvita,
auch dir vielen Dank für deinen Kommentar. Ich habe gar nicht mehr mit Kommentaren zu diesem Text gerechnet. Ich freue mich, dass auch dir die Geschichte gefallen hat.

Ich hab mich die ganze Zeit gefragt, ob Fina die Schwester ist und gehe davon aus. Oder täusche ich mich?
Nee, das ist schon richtig.

Schön beschrieben. Ich begleite die Protas gerne auf ihrem Weg.
Das ist gut zu wissen. Ich wusste oft nicht, ob es zu viel Setting ist. Schön, wenn es funktioniert.

Hier war ich irritiert, denn weiter oben hattest Du geschrieben, dass sie immer bei Fina schläft.
Naja, ich hatte weiter oben geschrieben, dass Levi seine Matratze in Finas Zimmer geschafft hat, d.h. er schläft normalerweise auf seiner Matratze in Finas Zimmer.

Deine Textarbeit hilft mir auf jeden Fall auch noch mal bei der Überarbeitung. Die Wortwiederholungen, die du zitierst, waren allesamt unbeabsichtig, die werde ich entsprechend verändern. Auch die holprigen Stellen schaue ich noch mal an. Dann werde ich dem Kind wohl auch einen anderen Namen geben, habe mich gefragt, ob es wichtig ist, dass die Leser wissen, dass Levi ein Junge ist und bin dann jetzt zu dem Entschluss gekommen, dass es wichtig ist, weil auch das GEschlecht etwas ist, dass ihn mit dem Jungen im Gutshaus verbindet. Offenbar lesen die meisten tatsächlich Levi als einen Mädchennamen.

Vielen Dank dir fürs Lesen und auch deinen Kommentar.
Viele Grüße
Katta

 

Hi Katta!

Ich bitte vielmals um Entschuldigung für meinen Nick-Fauxpas. Da war ich wohl in Gedanken beim Vorkommentar.
Mir fällt grade auf, dass beim Erheben wieder die Sich-Doppelung drinnen ist.
Muss irgendwie anders gehen. :confused:

Die Frau stand auf und löste sich auf, wie die Soldaten, wie die Stimme des Jungen, wurde zu einem Flüstern.

Aber das Auflösen bezieht sich auf die Frau, die Soldaten und nicht auf den Jungen. Es wird nur seine Stimme zu einem Flüstern. Daher monierte ich das "wie".
Ginge auch mit: ... des Jungen, sie wurde zu einem Flüstern.

Anyway. Auf jeden Fall abschicken zur Ausschreibung. :)

 

Hey Manuela,
ah, jetzt verstehe ich. Eigentlich dachte ich folgendes: DIe Frau löst sich auf und wird zu einem Flüstern, das gleiche mit den Soldaten und auch mit der Stimme des Jungen. Also dann so, wie es dort steht. Hmmm... scheint nicht klar zu sein, dass die Frau und die Soldaten auch zu dem Flüstern werden ... muss ich dann noch mal gucken, wie ich das deutlicher mache.

Ausschreibungsdeadline ist im September. Da hab ich noch ein bisschen Zeit für die Überarbeitung.
Danke noch mal, Katta

 

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