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Flüchtige Grenzen

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29.03.2017
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Flüchtige Grenzen

Frühmorgens beim Spazieren ist es besonders ruhig. Nur die Rufe vereinzelter Eulen aus dem Wald sind zu hören. Florian mag das so sehr, dass er eines Tages beschließt, ans Dorfende zu ziehen. Zwar kann er das nächstgelegene Haus noch immer sehen, allerdings nur mit einem Feldstecher. So ist gut, denkt er.
Florians Lieblingsplatz ist die Veranda. Dort sitzt er gerne im Schaukelstuhl, wo er den ganzen Tag hin und her wippen und an seiner Pfeife ziehen kann. Da kommt ihm eines Tages eine Idee. Jawohl, sein neues Zuhause soll zur eigenen Gemeinde werden. Die Vorstellung behagt ihm. Und er bläst eine Lunge voll Nebel in Richtung Dorf.

In ein paar Wochen ist es so weit. Für Florian ist längst alles klar, die Abstimmung überfällig, er hat die ganze Sache angestoßen, und will dafür stimmen. Doch dann geschieht etwas, was er nicht für möglich gehalten hätte. Zweifel kommen in ihm hoch. Je näher der Tag rückt, desto mulmiger sein Gefühl. Ob das klug ist, was da gerade im Gange ist?

Ende März, als längst die Bienen summen sollten, herrscht noch immer tiefer Winter. Nur noch ein paar Tage bis zum mit Bestimmtheit größten Ereignis des Dorfes seit dem Zweiten Weltkrieg, wo der damalige Bürgermeister Flüchtigen eine Unterkunft gewährte, sie inoffiziell versteckte, und kurzerhand dafür aus dem Dorf verbannt wurde. Die Legende sagt, dass er im nahegelegenen Wald einen Platz zum Leben gefunden hat, denn der ehemalige Bürgermeister wurde schon zwei Mal zufällig von Spaziergängern entdeckt, die beide unabhängig voneinander das Gleiche berichteten, nämlich, dass er, der Bürgermeister, sie an Robinson Crusoe oder Tarzan erinnere; ein alt wirkender Mann mit langem Bart, zerzausten Haaren, schmutzigem Gesicht und leichter Kleidung. Als man sich über den Weg lief, habe er sich jeweils unaufgeregt umgedreht, und sich in den Wald zurückgezogen.

Wenn Florian gerade nicht schläft oder stundenlang seine Pfeife raucht, verschwindet er im Wald. Und es kommt vor, dass Florian erst dann zurückkehrt, wenn die ersten Hähne krähen. Dann bereitet er im Morgengrauen nicht selten einen Wildschwein-Braten zu, den er mit ein paar ungeschälten, dafür stark gewürzten Kartoffeln verzehrt. Doch sein Appetit ist nicht mehr derselbe.
Eines Morgens, als die Reise besonders erschöpfend war, und Florian im Bett liegend dabei ist, einzuschlafen, schreckt er aufgrund eines lauten Knalls hoch. Mit einem Satz ist er am Schrank, nimmt sein Gewehr in den Anschlag, springt nach draussen und inspiziert im losen Nachthemd die Umgebung. Der Nebel liegt tief, und die Sonne hat noch ein paar Momente, bis sie dem Tag den Stempel aufdrücken kann.
„Hallo?“, ruft Florian in den Wald.
Alles, was er hört, sind die Rufe vereinzelter Vögel.
„Wer ist da?“

Das Radio geht an. Und Florian beginnt zu fluchen. Es ist die Sendung zum Mittag. Der Sprecher legt wie gewohnt ein zügiges Tempo vor, ist an jenem Tag aber besonders laut. Von der Toilette aus hört Florian den Mittelteil, der aus einer Brandrede besteht. Er presst seine Hände auf die Ohren, schüttelt den Kopf, und stellt dann fest, dass es kaum etwas nützt. Als das Ende gebrüllt wird, befindet sich Florian wieder im Schlafzimmer, wo auch er anfängt, laut zu werden. Zwei geschriene Monologe, die simultan laufen; einer vom Schlafzimmer aus, der andere vermutlich auch. Als den beiden langsam die Luft ausgeht, und sich der Radio-Mensch in gewohnt exzentrischer Manier verabschieden möchte, packt Florian kurzerhand das Radio, und schmeißt es geradeheraus durch das Fenster, wo es ein paar Meter vom Haus entfernt im Schnee landet.
Am Abend strömt kalte Luft durch die kaputte Fensterscheibe. Die Scherben liegen noch immer verteilt am Boden. Und Florians Schlafzimmer wird zur Eishöhle.
Am nächsten Morgen holt er barfuß das Radio, und wundert sich, als er den Deckel zu den Batterien öffnet, dass diese fehlen. Hat etwa jemand …

Florian verdrängt nichts. Denn er schaut täglich in den Spiegel, und klagt über sich. Manchmal sieht er sich doppelt. Seit Kurzem sind sogar drei Florian im Spiegel zu sehen. Wenn er lange genug wie ein Wolf seine Zähne fletscht, dann verschwinden zwei.
Erst Angst haben von jenem, dann von diesem. Immer Angst. Angst. Angst. Angst. Florian beschließt, keine Angst mehr zu haben. Die Angst kann ihn mal. Wie der Rest des Dorfes.
Doch die Angst ist hartnäckig.
„Holz hacken, Wasser schleppen“, lautet sein Mantra. Holz gehackt hat er zwar schon mehr als genug. Und Wasser kommt aus dem Hahnen. Trotzdem wiederholt es hundertfach, es gefällt ihm.

Dann geht Florian jagen. Jeden Abend. Das tut ihm gut. Die Sau herauslassen, während er eine erschießt. Illegal zwar, aber na und! Dafür zerlegt er Muster gerecht das ganze Vieh. Florian zeigt dem Dorf den Mittelfinger.
Eines Abends auf der Jagd. Es ist Vollmond. An einen Baum lehnend wartet er drei Stunden, bis er endlich das Grunzen der Wildsau hört. Florian leckt sich den Speichel von den Lippen.
Peng! Daneben. Peng! Daneben.
Florian flucht.
Auf dem Weg zurück flucht Florian noch immer. Seither sind mehr als dreißig Minuten vergangen.
Zu Hause wirft er Scheitholz in den Kamin. Und als er im Kippstuhl sitzend seine Pfeife raucht, hört er mit dem Fluchen auf und beginnt nachzudenken.
Auswandern? Eher nicht, davonlaufen bringt auch nichts. Außer, man ist ein Tier, das sich versteckt. Aber er ist kein Tier. Florian ist ein Mensch. Wie die anderen aus dem Dorf. Auch sie sind Menschen. Aber … Florian holt tief Luft und betrachtet den Mond, der durch die Fensterscheiben scheint. Wenn er doch nur die Wildsau legen könnte, und ein Fest machen. Vielleicht würden sich dann die Gemüter beruhigen. Man würde sich in die Arme nehmen und wie bei Herr der Ringe ganz zu Beginn: mit festlicher Musik auf Festbänken tanzen, saftiges Fleisch verspeisen (seine Wildsau), literweise Bier trinken und dann, während Knallraketen im Himmel explodieren, wie der kleine Hobbit von der Bildfläche verschwinden. Ist es also das, was er will, verschwinden? Aber er tanzt doch so gerne. Nicht mehr wie früher, aber ein Funken Lust ist noch vorhanden, auch wenn Florian das niemals zugeben würde.
Als die Nacht langsam endet, legt er sich ins Bett. Morgen ist schließlich der Tag. Aber er kann nicht schlafen, und dann schläft er doch. Aber nur drei Stunden.

Es musste so kommen. Alle haben es gewusst. Auch Florian, der sich mit beiden Händen in den Hosentaschen und Tabak kauend davonschleppt. Weder sieht er die Blicke der anderen, noch hört er ihr Geflüster. Dennoch fühlt es sich an, als würde er beschimpft und bespuckt. Als er sich einmal kurz umdreht, um noch einen letzten Blick auf das Wahllokal zu werfen, wird im Übel und er muss sich beinahe übergeben. Dann geschieht es doch, und saure Flüssigkeit mit Stücken kommt ihm hoch, ein ganzer Mundvoll, er schluckt alles, aus Versehen auch den Kautabak.
Am Rande des Dorfes muss er verschnaufen. Der Nachgeschmack im Mund bringt ihn schließlich dazu, die Dose mit Kautabak aus seiner Brusttasche hervorzuholen. Er schiebt ein Stück zwischen Gaumen und Zähne. Florian geht es erbärmlich.
Ein zwölfjähriger kommt daher gelaufen und sucht Augenkontakt. Allein wie er ihn angafft, denkt Florian, ein echter Pisser.
„Scheiße gelaufen, hm“, sagt der Pisser.
„Bitte?“ Florian traut seinen Ohren nicht. Der Pisser hat wahrscheinlich nicht mal Haare am Sack und spielt den Bürgermeister. So ein Pisser! Gerade möchte Florian etwas sagen, da schneidet ihm der Pisser das Wort.
„Eben, scheiße gelaufen. Hast du Tomaten auf den Ohren, Opa?“ Dann läuft er davon, während er stinkfrech den Mittelfinger ausstreckt.

Als Florian in seiner Hüte ankommt, greift er instinktiv zum Gewehr. Erst betrachtet er es, dann spielt er damit. Schließlich richtet er es gegen den Spiegel. Nie hat er daran gedacht. Doch in jenem Moment fühlt es sich überraschend beruhigend an. Abzug drücken. Aus. Ende.
Doch ihm fehlt der Mut, und Patronen gibt es auch keine mehr. Florian schließt die Augen und flucht innerlich. So sehr, dass sich sein Körper verkrampft.
Nachdem er wieder locker ist, kommt ihm eine Idee.
In Vollmontur marschiert er, das Gewehr über die Schulter gelegt, Richtung Dorf. Der Pisser von vorhin würde davonrennen, sähe er Florian in dieser Aufmachung; man kann den Terror kilometerweit sehen, besser gesagt spüren, weil die Erde wegen Florians Schritten bebt. Doch als Florian der Dorfgrenze näher kommt, beginnt seine Verwandlung. Und ehe er am ersten Bewohner vorbeigeht, marschiert er nicht mehr, sondern schleicht. Wie ein alter Mann, der gleich in sich zusammenfällt. Florian hört wieder das Tuscheln der Leute. Mit jedem Wort, das er hört, senkt er seinen Kopf tiefer. Sein Gewehr symbolisiert keinen Stolz mehr. Den Dorfbewohnern muss es vorkommen, als trüge er einen ganzen Hirsch auf seinem Rücken. Florian blickt immer tiefer. Schließlich ist er dem Boden so nah, dass er den Ameisen in die Augen schauen kann. Oder nach einem Loch Ausschau halten, wohin er sich verkriechen könnte.

„Tut mir leid, Sir“, Vorschrift ist Vorschrift.
„Wie? Äh …“
„Der Bürgermeister hat klare Vorgaben gemacht. Verkauf ausschließlich an Dorfbewohner. Und sie, ähm …“
Florian würde ihm am liebsten das Gewehr ins Gesicht halten. Auch wenn nur zum Spass. Doch ihm fehlt die Kraft. Er muss sich auf den Stuhl setzen.
„Gibt es wenigstens ein Glas Wasser? Ich … ich habe Durst und mir ist schwindelig.“
Der Verkäufer überlegt.
Florian legt sein Gesicht in beide Hände, bewegt seinen Kopf hin und her, aber nur gerade so leicht, dass man es eigentlich nicht merkt, und wartet auf eine Antwort. Doch der Verkäufer überlegt noch immer.
Dann bringt ihm der Verkäufer einen Becher mit lauwarmem Wasser. Florian bedankt sich dafür.

Florian erinnert sich nicht mehr, wie er in seinem Bett landete. Er weiß nur, dass es drinnen kalt und draussen nass ist, und dass der Kamin kaum noch Wärme spenden dürfte, falls nicht die letzten Kohlen bereits verglüht sind.
Als er auf die Toilette muss, versucht er aus dem Bett zu steigen. Sein Körper jedoch bereitet ihm große Schmerzen, und so lässt er sich langsam auf die Matratze zurückfallen.
Als er wieder aufwacht, muss er nicht unter die Decke fassen, um zu prüfen, ob noch alles trocken ist, denn der Harndrang ist immens. Beim Versuch aufzustehen, geschieht es. Besser gesagt, es geschieht nichts. Nur die Rufe einer Eule aus den Tiefen des Waldes sind zu hören. Florian zieht ernsthaft in Betracht, ins Bett zu machen. Er strengt sich an, wie damals seine schwangere Frau in den Presswehen, und spürt, wie er rot anläuft. Doch seine Beine bewegen sich keinen Millimeter.
Ein paar Minuten später gelingt es Florian immerhin, aufrecht im Bett zu sitzen. Statt aber diesen Erfolg zu feiern, verlangt er unmögliche Dinge von seinem Körper, Florian wird übermütig, und beugt sich über den Bettrand hinaus, wobei er sein eigenes Gewicht unterschätzt. Und so donnert er mit voller Wucht gegen den Boden, wo er sich fürchterlich den Kopf stößt. Wenn er wenigstens heulen könnte. Stattdessen verkrampft er sich und ist einfach nur wütend; wütend auf sich; auf die Welt; auf alles.
Der Druck in der Blase ist nun gigantisch. Die Erleichterung, nicht in Worte zu fassen.
Während sich Florian vollpisst, kommen ihm nicht nur die Tränen, er heult wie damals, als er von seiner Stiefmutter in den Keller gesperrt wurde.

 

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