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Fohes Fest

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13.12.2003
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Fohes Fest

„Frohes Fest!“


Ich bin ein großer Freund von Ritualen und Traditionen. Wir alle brauchen unsere Regeln, unsere Strukturen, um unser Leben überschaubar zu gestalten.
Eines meiner Rituale ist es, wann immer es geht am Heiligen Abend zu arbeiten, um jeglicher Form der weihnachtlichen Familienfeier zu entgehen.
Seit geraumer Zeit studiere ich und jobbe nebenbei im Krankenhaus.
Vielleicht ist es auch eher andersherum. Es kommt mir so vor, als habe sich meine Studientätigkeit verselbständig. Es ist mehr das vergeistigte in meinem Leben, wohingegen der materielle Wunsch nach Nahrung und Unterkunft überwiegt. Und diese schlichten Bedürfnisse befriedigt der einfache aber auch etwas geistlose Job als Stationshilfe im Krankenhaus.
Nun auch dieses Jahr werde ich wie in all den Jahren zuvor den unbeliebten Heiligabend Spätdienst an mich reißen, um den familiären Feierlichkeiten zu entgehen.
Und dass obwohl Weihnachten nur im kleinen Kreise begangen wird und somit den Anschein einer kuscheligen kleinen Familienfeier erweckt. Weihnachten bei meiner Familie wird im so genannten engsten Familienkreis begangen, weil der „erweiterte Familienkreis“ schon lange keine Lust mehr hat an diesem besonderen Krippenspiel teilzunehmen.
Weihnachten war bei uns immer schon besonders, ganz speziell. Dies lag vor allem an dem besonderen Verhältnis meiner Mutter zu ihren beiden Ehemännern. Mit dem ersten Mann, Ludwig, meinem leiblichen Vater, war Weihnachten immer laut und unruhig. Dies lag hauptsächlich daran, dass die beiden sich immer viel zu sagen hatten und dies auch ausgiebig taten, meist im geschrieenen Austausch von Kraftausdrücken.
Mit dem zweiten Mann Bernd änderte sich unser Weihnachtsfest drastisch. Es wurde ruhig und besinnlich. Wir zelebrierten eine echte stille Nacht. Dies lag überwiegend daran, dass meine Mutter und Bernd sich schon seit ihrer Eheschließung gar nichts mehr zu sagen hatten.
Dritte Person in diesem Weihnachtsmärchen ist mein Großvater mütterlicherseits Adolf, der darauf bestand nur „Addi“ gerufen zu werden. Dies mag an seinem etwas zwiegespaltenen Verhältnis zu seiner recht erfolgreichen Karriere damaliger Zeiten bei der Waffen SS liegen.
Aber auch er passt gut in den Rahmen dieser heiligen, besonders Stillen Nacht. Denn seit vor nunmehr fünfzehn Jahren sein Frau, die ihm treu ergeben seien musste, starb verstummte auch er. Nachdem er ihr in fünfunddreißig Ehejahren diese Ergebenheit sowohl verbal als auch manuell sehr massiv nahe legte, verlor er seine eigentliche Lebensaufgabe.

Mit sechzehn gelang es mir zu ersten Mal der häuslichen Idylle des Weihnachtsfestes zu entfliehen. Ich hatte damals einen Nebenjob in einem Imbiss und ergriff sofort die Chance am heiligen Abend zu arbeiten.
Das schien mir auch gut so, denn das Weihnachtsfest des Jahres 1985, ein Jahr zuvor, stellte einen besonderen Höhepunkt in einer langen Reihe von ganz besonderen Weihnachtsfesten dar.
Schon seit Mittag werkelte meine Mutter in der Küche am Festagsmenü. Und wie immer, so lang ich denken kann, wird das, was sie da produziert erbärmlich schrecklich schmecken.
Bis heute konnte ich die Frage nicht klären, ob ihr erster Mann sie ausgerechnet am 24. Dezember verlassen hat, weil in fünf Ehejahren die Furcht vor dieser elendigen Weihnachtsgans so immens gewachsen war, oder ob der Braten so misslang, weil meine Mutter am Mittag des heiligen Abends schon die erste Flasche Korn geleert hatte um das scheitern ihrer ersten Ehe gebührend zu betrauern.
Wie dem auch sei, das Elend nahm seinen Lauf. Auf dem Plattenteller drehte sich fröhlich „Weihnachten mit Heintje“ und Heintjes Stimme erklang nicht minder fröhlich in unserem Haus.
Ich hockte trotzig in meinem Jugendzimmer und mein Cassettenrecorder quälte sich um Heintje wenigstens aus meinem kleinen Reich zu fernzuhalten. Im Nachbarzimmer lag Opa schnarchend auf dem Bett.
Es geschah wie jedes Jahr. Pünktlich um 17 Uhr klingelte meine Mutter mit einer kleinen versilberten Glocke, um uns zu Tisch zu rufen.
Da wir am heiligen Abend natürlich nicht schnöde in der Küche essen konnten, sondern alle zusammen festlich am Weihnachtsbaume, wurde der Wohnzimmertisch ein wenig hochgekurbelt und ausgezogen.
Als ich das Wohnzimmer betrat saß mein Stiefvater Bernd schon auf „seinem“ Sessel am Kopf der Tafel. Er war gerade von seinem alltäglichen Frühschoppen aus seiner Stammkneipe um die Ecke namens „Fuchsbau“ zurückgekehrt. Er hatte noch rosige Wangen und eine ganz rote Nase von der Kälte draußen. Demonstrativ wedelte er mit den Armen, um zu zeigen wie kalt ihm noch immer war.
Ich musste neben Opa auf dem Sofa Platz nehmen. Meine Mutter hatte auf der anderen Stirnseite des Tisches einen Küchenstuhl als Sitzgelegenheit für sich selbst platziert. Da der Tisch in seiner Höhe immer optimal auf die Sitzhöhe meines Stiefvaters eingestellt war, konnte ich vom durchgesessenen Sofa aus bequem mein Kinn auf die Tischplatte legen, ohne mich zu bücken, und meine Mutter hatte beim Essen den Tisch immer genau auf Kniehöhe.
Die Tafel war schon gedeckt mit unserem Festtagsgeschirr, einer schreienden Hässlichkeit aus rosa Blüten und hellbraunen Ornamenten.
Großvater, der sich unbeobachtet fühlte, nahm noch kurz sein Gebiss heraus und speichelte es ein, damit es besser am Gaumen haftete.
Im Hintergrund duldete Roy Black, der mittlerweile Heintje abgelöst hatte. Ich fragte mich, ob diese Form des Musikterrorismus bei heranwachsenden Jugendlichen bleibende Schäden hinterlässt.

Nun Auftritt meine Mutter: In der einen Hand die große Fleischplatte, auf der fettig triefend und leicht verkohlt die Weihnachtsgans prangte. In der anderen Hand die randvoll gefüllte Sauciere, die schon bedenklich aus der Waagerechten trieb. Der Blick meiner Mutter strahlend aber doch leicht wirr, was daran liegen mochte, dass sie weniger die Ente als sich selbst mit Sherry abgeschmeckt hat.
Mutig machte sie den ersten Schritt ins Wohnzimmer, umschiffte in weitem Bogen den Weihnachtsbaum, wobei schon eine wenig Sauce über den Rand der Sauciere dümpelte. Auf dem Weg zum Tisch schien sie etwas das Gleichgewicht tu verlieren, strauchelte, schaffte es jedoch ohne weitere Verluste die Sauce auf dem Tisch zu platzieren, und wenig später landete auch die Gans krachend auf dem für sie vorgesehenen Platz. Opa, dem hörbar der Speichel im Mund zusammenlief, forderte laut und feucht: „Gib mir die Innereien! Gib mir die Innereien!“
Glücklicher alter Mann, da deine ertaubenden Geschmacksknospen nicht mehr die volle Grausamkeit dieses Mahles erfassen können.
Den Leidensweg des Rotkohls und der Kartoffeln auf dem Weg zu Tisch erspare ich mir zu berichten.
Als schließlich die Familie glücklich vereint am Tisch saß, war es an meinem Vater den Wein zu entkorken. Er bemühte sich, diesen Akt zusammen mit dem Portugieser Weißherbst in seinem Arm möglichst festlich zu gestalten. Der Wein stammte zwar aus dem unteren Preissegment eines Billigdiscounters, ist aber, da Wein in unserem Hause meist aus Tetrapacks genossen wird, wirklich etwas besonderes.
Nun ist es vielleicht an der Zeit, sich kurz dem Weihnachtsbaum zu widmen. Die leicht vertrocknete zwei Meter Fichte in unserem Wohnzimmer war passend zum Geschirr festlich in rosa und braun geschmückt. Unter dem Baum schon eine Anhäufung abgefallener Nadeln, die ihrerseits schon mit dem Weihnachtsfest abgeschlossen hatten. Zwischen Bergen von Lametta, unter deren Last sich die Zweige schon bedenklich bogen ragte eine Vielzahl brennender goldener Kerzen hervor.

Zurück zum Mahl.
Meine Mutter ließ es sich nicht nehmen, den von ihr zubereiteten Vogel selbst zu tranchieren. Man könnte auch sagen, außer ihr war niemand bereit dieses zähe vertrocknete Tier zu zerlegen.
Verbissen kauten wir schweigend. Die Sauce triefte vor Fettaugen und schmeckte nur nach Mondamin. Ich musste jedoch reichlich davon nehmen, da sie das einzig legitime Gleitmittel war um das trockene Fleisch den Hals hinunter zu befördern. „Lang nur kräftig zu!“, ermunterte meine Mutter mich noch. Nachdem die zweite Flasche Wein geleert war wagte mein Stiefvater zwischen zwei Bissen mehliger Kartoffeln einen kühnen Vorstoß: „Sagt Mal Ihr Lieben, wie wäre es, wenn wir unsere Liebe Mutter nächstes Jahr einmal entlasten, und am heiligen Abend alle zusammen essen gehen?“
„Das können wir uns gar nicht leisten, jetzt wo du arbeitslos bist.“, fauchte meine Mutter vorschnell zurück. Erinnerte sich aber trotz leicht vernebelter Sinne an den besinnlichen Anlass unserer Zusammenkunft und korrigiert schnell: „Ach Bernd, Schätzchen, zu Hause schmeckt es doch immer noch am besten.“
Ein Stück Gans blieb mir quer im Hals stecken, ich musste husten. Als ich mein Weinglas geleert hatte und unbemerkt auch das von meinem Großvater, dessen Gebiss lautstark an einem Gänsehals schabte, platzte es aus mir heraus: „Mama deine Gans schmeckt einfach Scheiße!“
Wortlos begann meine Mutter zu weinen. Ich kam nicht dazu diese voreilige Bemerkung zu bereuen, denn sofort hatte ich eine schallende Ohrfeige von meinem Stiefvater sitzen, der übrigens darauf bestand, dass ich ihn „Papa“ nannte und es hasste, wenn ich „Bernd“ zu ihm sagte.
Vor Wut und Schmerz fegte ich meinen Teller mit dem Handrücken leer, wodurch sich fettige Sauce über Bernds Sonntagsanzug ergoss. Prompt hatte ich die nächste Ohrfeige sitzen.
In meiner Mutter erwachten Beschützerinstinkte. Sie stand auf wobei der Stuhl hinter ihr umfiel. Um das Gleichgewicht zu halten, krallte sie sich krampfhaft in der Tischdecke fest. „Wage es nicht noch einmal meinen Sohn zu schlagen!“ schrie sie. Die Augen schienen aus ihrem Gesicht zu quellen.
Dann machte Sie einige beherzte aber nicht unbedingt koordinierte Schritte auf meinen Stiefvater zu, vergaß jedoch die Tischdecke loszulassen. Dadurch riss sie sowohl den Festagsbraten als auch das gesamte Geschirr vom Tisch. Erst jetzt bemerkte mein Großvater, dass etwas nicht stimmte und ließ von seinem Gänsehals ab. Ich benutzte die allgemeine Verwirrung und trat Bernd gegen das Schienbein. Er wollte mir gerade erneut eine langen, da lag meine Mutter schon auf ihm. Eigentlich wollte sie ihm am Revers seines ‚Anzuges aus dem Sessel ziehen und schütteln. Aufgrund seines Übergewichts und ihres verlorengetrunkenen Gleichgewichts misslang diese Übung jedoch. So lag sie halb auf ihm, zerrte hektisch an ihm rum und brabbelte immer wieder: „Wach es nich! Wach es nich!“
Ich nutzte den Tumult, um mich außerhalb der Reichweite meines Stiefvaters zu bringen.
Dieser schüttelte nach kurzem Ringen meine Mutter ab, die rücklings auf dem Teppich landete.
„Lass mich in Ruhe du alte Schlampe!“, brüllte er, von den Schmerzen in seinem Bein und dem Portugieser Weißherbst entfacht. „Außerdem hat Dein Sohn recht, Du kochst erbärmlich!“
Meine Mutter saß nur brüllend auf dem Teppich, griff um sich und bewarf meinen Stiefvater mit Rotkohl und Kartoffeln. Ich fürchte sein Sonntagsanzug war jetzt endgültig verloren.
Inzwischen hatte Opa jedoch unbemerkt das Wohnzimmer verlassen. Und als ich versuchte mich leise zu verdrücken, stieß ich mit dem Zurückkehrenden zusammen. Auf seinem Kopf trohnte seine Uniformmütze, mit dem Adler und dem Hakenkreuz auf der Stirn. Was jedoch viel bedrohlicher erschien war seine alte Armeepistole in der rechten Hand. Ich wich zurück auf das Sofa.
„Wag es nicht meine Tochter zu entehren!“ schrie er, und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, gab er einen Warnschuss in die Decke ab. Mutter zuckte zusammen, verstummte augenblicklich.
„Dir werd’ ich Benehmen beibringen!“ Erneuter Warnschuss.
Mein Stiefvater war mittlerweile so in rage, dass er sich wenig beeindruckt zeigte.
Er stand auf, ging zur Wohnzimmertür, schob Opa beiseite Richtung Weihnachtsbaum und verließ mit den Worten „Ihr spinnt doch alle, mir reichts, ich geh’ in den Fuchsbau.“ die Wohnung.
Opa stolperte rückwärts und fiel in den Weihnachtsbaum. Sowohl seine Uniformmütze als auch der Baum fingen sofort Feuer. Voll Panik rannte ich in den Keller und holte den Feuerlöscher. Als ich das Wohnzimmer wieder betrat, brannten schon die Vorhänge.
Irgendwie gelang es mir sowohl diese als auch den Weihnachtsbaum und Opa zu löschen. Als ich dann im dichten Rauch im Wohnzimmer stand war es still, endlich war es ganz still. Selbst Roy Black war mittlerweile verstummt.

Opa hatte riesiges Glück. Er erlitt nur leichte Verbrennungen und wurde noch am selben Abend wieder aus dem Krankenhaus entlassen. Weit nach Mitternacht hörte ich meinen Stiefvater wie er die Wohnungstür aufschloss. An seinem stampfenden Schritt merkte ich, wie betrunken er war. Wortlos sank er ins Bett. Ich schlief tief und traumlos diese Nacht.

Die nächsten vier Wochen erhielt ich Stubenarrest wegen der Wasserschäden, die ich mit dem Feuerlöscher angerichtet hatte.
Meine Mutter und mein Stiefvater renovierten schweigend das Wohnzimmer.

 

Hallo kai 2434!

Eine herrlich unterhaltsame Kurzgeschichte über die negative Einstellung deines Protagonisten zu Weihnachten – ein wunderbar übertriebener und sehr amüsant zu lesender Text. Besonders die Szene beim Festmahl gefiel mir gut. Weiter so! :thumbsup:

Titel: "Frohes Fest"
Schreib einfach eine PM an Alisha oder Maus, die berichtigen das dann.

Viele Weihnachtsgrüße,

Michael :xmas:

 

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