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Francis Bacon und Theresa Berkeley

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30.12.2003
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Francis Bacon und Theresa Berkeley

London, November 2311​

Fragmente fielen aus dem Riss in der Zeit. Meistens waren es nur Lumpen oder ausgestopfte Tiere, dann und wann ein Apfel oder die merkwürdigen Besitztümer exzentrischer Wissenschaftler. Manchmal aber waren es Schriftstücke: Notizen auf Zetteln, Karteikarten oder auf den unpraktischen Datenträgern vergangener Jahrhunderte.

Professor Pantheas hob alle Fundstücke auf, die mit dem missglückten Experiment in Zusammenhang standen, in einem erbitterten, wenn auch aussichtslosen Versuch der Rechtfertigung.

„Über den Zusammenhang von mechanistischer Naturwissenschaft und patriarchalischen Werten. – Francis Bacon (1560 – 1626) bediente sich der traditionellen Vorstellung von der Natur als weiblichem Wesen. Seine Anschauung, man solle der Natur mit Hilfe mechanischer Folterwerkzeuge ihre Geheimnisse entreißen, erinnert stark an die weit verbreitete Folterung von Frauen während der Hexenprozesse des frühen 17. Jahrhunderts, mit denen Bacon als Generalstaatsanwalt sehr vertraut war.
Carolyn Merchant, Der Tod der Natur, USA, 20. Jh.“

„Im Frühjahr 1828 wurde eine berühmt-berüchtigte Maschine für Mrs. Berkeley gebaut, um ihre Klienten darauf auszupeitschen. [Die Maschine] konnte verschieden weit geöffnet werden, um den Körper in jeden gewünschten Winkel zu bringen. In Mrs. Berkeleys Memoiren gibt es eine Abbildung, darauf ist ein Mann auf der Maschine zu sehen, ganz nackt. Unterhalb der Maschine sitzt eine Frau, Brüste, Bauch und Geschlecht sind entblößt; sie bearbeitet sein Werkzeug mit den Händen, während Mrs. Berkeley seine Rückseite mit Birkenruten peitscht. Die Frau, die als Reiberin agiert, soll Miss Fisher darstellen, eine gutaussehende, hochgewachsene Brünette, an die sich alle noch erinnern dürften, die in jenen Tagen in der Charlotte Street Besuche machten. – Anonym, London, 19. Jh.“

„In Bacons Novum Organum sah Kant die entscheidende Revolution des Denkens, welche die Wissenschaft auf die Bahn ihrer neuzeitlichen Entwicklung lenkte. Die bedeutendsten Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts (Boyle, Hooke, Newton) fanden in Bacons Werk ihre methodologischen Grundlagen [...]

Bacons Novum Organum ist der zweite Band seiner ursprünglich auf sechs Bände angelegten Instauratio Magna (Große Erneuerung), die eine Erneuerung der Wissenschaft von Grund auf einleiten sollte.
Lieuwen, Lexikon der Philosophie, Den Haag, 21. Jh.“

„In ihren späteren Tagen arbeitete Mrs. Berkeley gelegentlich für die Krone und half bei der Entdeckung so manchen staatsgefährdenden Geheimnisses. Ihre Natur als Gouvernante machte es ihr zu einem Vergnügen, das physische und psychische Zerbrechen eines Mannes nicht nur zu spielen, sondern wirklich herbeizuführen. Ihre Majestät Königin Victoria sprach sich jedoch aus verständlichen Gründen dagegen aus, Mrs. Berkeley ob ihrer Verdienste für das Vaterland in den Adelsstand zu erheben. – Aus einem Bericht der Horse Guards, London, 19. Jh.“

„Die Bände 4 – 6 der Instauratio Magna sind niemals geschrieben worden. Über den Inhalt dieser Werke – Die Leiter der Erkenntnis, Die Antizipationen der zweiten Philosophie, Die zweite Philosophie – können wir heute nur noch spekulieren. Die Schule von Horne vermutet, es handele sich bei der zweiten Philosophie um eine Wissenschaft des menschlichen Geistes, sozusagen einen systematischen Weg zur Menschenerkenntnis, welcher die Wissensgebiete der Psychologie, Soziologie, Geschichte und Politikwissenschaften ebenso tiefgreifend revolutioniert hätte wie das Novum Organum die Naturwissenschaften. – Lieuwen, Lexikon der Philosophie, Den Haag, 21. Jh.“


Arcadia, Neu-Atlantis, September 2311​

„Krator“, sagte Professor Pantheas verzweifelt, „du bist mit Abstand der hirnloseste Student der Wissenschaften, den ich je das Unglück hatte zu unterrichten. Früher oder später wirst du mich in den Untergang treiben!“

Cand. Sci. Ikaro Krators Gewand war ins Rutschen geraten, aber er getraute sich nicht, den weißen Leinenstoff zurechtzuziehen. Nicht, solange sein Doktorvater ihn dermaßen erbittert anstarrte, mit gesträubtem Bart und auf den Spitzen seiner Sandalen wippend. Krator duckte sich und versuchte, mindestens so unbeweglich wie die Statuen von Aristoteles und Popper auszusehen, die das Studierzimmer des Professors verstellten.

„Weißt du, woran mich dein blödsinniges Experiment erinnert?“ wütete Professor Pantheas. „Es ist ungefähr das Selbe, wie wenn man einer Katze ein Marmeladenbrot auf den Rücken bindet, um zu sehen, welche Seite beim Fallen unten landet. Und dann – einen Riss im Raum-Zeit-Gefüge zu erzeugen! Bist du dir dessen bewusst, dass du dir solche Experimente zuerst genehmigen lassen musst?“
„Ehrwürdiger Professor“, sagte Krator verzweifelt, „dieser Versuch ist unverzichtbar! Er wird uns verraten, wie das wahre Verhältnis der Geschlechter zueinander beschaffen ist. Ein ganzes Diorama der Anthropologie auf engsten Raum gebracht...“
„Ich begreife nicht, wie du das mit diesem monströsen Experiment klären willst!“ knurrte Professor Pantheas. „Was hast du dir davon versprochen, Francis Bacon und Theresa Berkeley zusammenzubringen – über einen zeitlichen Abgrund von 200 Jahren hinweg?“
„Den ultimativen Kampf der Geschlechter“, flüsterte Krator und zwirbelte eine Strähne seines blonden Tituskopfes. „Da ist auf der einen Seite Francis Bacon, der alles Weibliche aus voller Seele hasst, die Natur wie die Frauen, und sie nur verstehen lernen will, um sie zu beherrschen und auszubeuten.“
„Weiß ich, weiß ich“, sagte Pantheas, „Wissen ist Macht, und so weiter. Aber wer ist diese Theresa Berkeley? Von der habe ich noch nie etwas gehört!“
„Theresa Berkeley“, erklärte Krator, „ist die Erfinderin des Berkeley Horse.“
„Wie konnte sie denn ein Pferd erfinden?“ fragte Professor Pantheas voller Überdruss.
„Das Berkeley Horse ist ein Gestell, auf das sie ihre Kunden band, um sie desto leichter – äh – flagellieren zu können. Sie tat es aus Freude an der Sache – sie verstand die Männer nur soweit wie nötig, um sie zu beherrschen und auszubeuten. Und ertragen konnte sie Männer nur dann, wenn sie blutend und völlig erledigt auf dem 'Pferd' hingen. Im 19. Jahrhundert führte sie das berühmteste Flagellationsbordell von London und setzte sich als Millionärin zur Ruhe. Ich konnte für Francis Bacon keine geeignetere Gegnerin finden.“
„Willst du damit sagen, dass du eine peitschenschwingende Domina auf den Vater aller modernen Empirie und Psychologie losgelassen hast? Ha, Krator – das wäre zum Lachen, wenn es nicht so miserabel wäre. Wenigstens“, sagte Professor Pantheas über die Schulter, „wird es keinen Schaden anrichten. Er wird einfach seinen Hut nehmen und herausspazieren.“


London, St. Alban’s, September 1621​

Francis Bacon, Lord Verulam und Viscount St. Alban's, suchte seinen Hut.

„John, du Schurke“, brüllte er durchs Haus, „wo hast du meinen neuen Hut hingetan?“
„Auf den Stuhl in der Großen Halle, aber das waren Sie selbst, Mylord!“ antwortete sein Diener John frech.

John war Francis' Sekretär, Kammerdiener und Bettgefährte in einer Person. Für seinen Dienstherren, mochte der tausend Mal von König James in den Hochadel erhoben worden sein, fühlte er wenig Achtung. Wie sollte er denn auch, für diese traurige Gestalt, die immerfort Titelseiten für Bücher entwarf, die vielleicht am St. Nimmerleinstag geschrieben werden würden, für diesen Viscount nur dem Namen nach, der ständig pleite und völlig von der Gunst der Höflinge abhängig war, zu denen er niemals gehören würde; vor diesem Rosstäuscher, der seit fünfzehn Jahren eine Scheinehe mit Alice Barnham führte – keinen Tag unter sechzig war der heute und würde nie einen Erben zustande bringen, weil er seine Frau niemals anrührte. Hatte dafür aber einen Verschleiß an jungen Männern wie die älteste Hure der Fleet. Pfui Teufel!

Dennoch würde John jetzt mit seinem Herrn gehen müssen, denn heute war ein besonderer Tag. Francis Bacon, der Lordkanzler und jahrelang Generalstaatsanwalt der Krone gewesen war, musste aufs Gericht – zum ersten Mal in seinem Leben auf die andere, die falsche Seite, auf die Anklagebank. Und dazu brauchte er selbstverständlich seinen neuen Hut.

Widerwillig stand John auf und rückte seine Livree zurecht. Schon durchquerte sein Herr mit wehendem Mantel die Eingangshalle und griff nach dem Gegenstand auf dem Stuhl – aber dort lag nicht ein Hut, sondern ein Buch.

London, Charlotte Street, September 1831​

Victoria Carleton sah sich suchend im Zimmer um. Wo war denn dieses elende Buch schon wieder? Hatte sie es nicht eben auf den Sessel gelegt? Sie war in einem antik-griechischen Gewand aus der Kostümkammer zurückgekehrt und hatte noch ein wenig Zeit, ehe ihr nächster Klient kam. Und jetzt lag auf dem Sessel nicht „Die Philosophie im Schlafzimmer“ – ihr Lieblingsbuch des Meisters, des Marquis de Sade - sondern ein Hut. Ein merkwürdiger, überaus hässlicher Hut mit schlotförmigem Kopf und einer einzelnen weißen Reiherfeder. Verwundert nahm sie ihn in die Hände.

Victoria war eine junge Dame aus gutem Hause, gebildet, fast schon ein Blaustrumpf. Sie war auf verschlungenen Wegen aus dem reichen Haus ihres Vaters in das Bordell der Mrs. Berkeley gelangt, wo sie sich äußerst erfolgreich behauptete. Mrs. Berkeley schob ihr immer die Möchtegern-Intellektuellen zu, die Kaffeehausphilosophen, die gescheiterten politischen Journalisten. „Denn“, sagte Madame immer, „wenn es für einen Kerl nichts Höheres gibt, als gleichzeitig über Philosophie zu reden und die Rute zu spüren, dann kann dich keiner darin übertreffen, meine liebe Victoria!“

Victoria seufzte. Sie würde das Buch später suchen, es war ohnedies recht zahm, und sie konnte keine besonderen Kniffe daraus lernen. Statt dessen holte sie einen Kasten mit Schminkutensilien und begann, die verschiedenen Farben auf ihr molliges Gesicht mit dem winzigen, zugespitzten Mund aufzutragen. Das Aussehen musste haargenau stimmen. Verhurter Engel, oder vergeistigte Hure. Sie beherrschte das fast so gut wie der Meister es verstanden hatte, neue Spielarten des Lasters zu erfinden.


London, St. Alban’s, September 1621​

John hatte ein Buch mit einem derartigen Einband noch nie zu Gesicht bekommen. Es war lieblos gesetzt, unordentlich gebunden. Wofür sein Herr doch Geld ausgab! Der warf jetzt einen Blick auf das Titelblatt.
„Donatien Alphonse Francois Marquis de Sade“, murmelte Francis Bacon. „Die Philosophie im Schlafzimmer. – Philosophie und Schlafzimmer, das ist doch eine contradictio in se!“

Er blätterte um. John verhielt sich ganz still, um desto mehr mitzubekommen. Und tatsächlich: Entsprechend seiner Gewohnheit begann sein Herr laut zu lesen.

„Wollüstlinge jeden Alters und jeden Geschlechts, nur Euch widme ich dieses Werk! Nährt Euch an seinen Prinzipien. Sie sind Euren Leidenschaften günstig, und diese Leidenschaften, vor denen fade, kalte Moralisten Euch Angst einflößen wollen, sind nichts als die Wege der Natur, mit der diese den Menschen seiner Bestimmung zuführt. Lauscht nur diesen köstlichen Einflüsterungen, denn keine Stimme außer der Stimme der Leidenschaften vermag es, Euch zum Glücke zu führen.“​

Francis knallte das Buch zu. „Gedruckt?“ brüllte er. „Publiziert? Diese – diese schlecht erdachte – Karikatur einer Philosophie?“ Einen Augenblick stand er unbeweglich da, dann schlug er das Buch wieder auf und machte Anstalten, sich zum Lesen niederzulassen.
„Herr“, mahnte John, „das Gericht – die Wachen warten schon – Ihr müsst jetzt gehen!“
Francis hörte nicht auf ihn. Zu gefesselt war er, dachte John, von dem Machwerk dieses Advokaten der Abartigen, eines Advokaten, der vielleicht auch seine Sache vertreten würde. Murmelnd ließ er sich auf dem Stuhl nieder – und verschwand vor den Augen des entsetzten Dieners. Wenigstens war jetzt der neue Hut wieder da.

John hob den Hut mit zitternden Händen hoch und blickte hinein, als könne sich sein Herr in ihm befinden. Er sah unter dem Stuhl nach. Er umrundete ihn einmal. Dann beugte er sich vor und berührte ganz vorsichtig die Sitzfläche. Ihm wurde flau, als sein Magen, seine Hoden, als alle seine Eingeweide nach oben drängten. Dann verging das, und er fand sich im ungewöhnlichsten Gemach wieder, das er je gesehen hatte.

Halb verborgen stand er zwischen bodenlangen Vorhängen aus Samt. Die Stoffmenge hätte ausgereicht, um das Gefolge eines Herzogs einzukleiden. Die Fenster, stellte er fest, die Fenster waren verglast, und die einzelnen Scheiben waren ungeheuer groß, wie ein aufgeschlagener Foliant. Die Wände waren mit bedruckten Papiertapeten beklebt, die Liebesvögel und Kletterrosen zeigten. Ein großer türkischer Teppich lag auf dem Boden. John zählte mindestens vierzig Bücher, die auf Wandbord und Bett herumlagen. Es war das Zimmer eines Mannes von ungeheuerem Reichtum und Einfluss, nur dass die Gegenstände aus Gold und Silber, die er in einem solchen Raum erwartet hätte, die Kannen, Becher und Schalen, fehlten.

Lord St. Alban's, der Teufel sollte ihn holen, hatte die merkwürdige Transition anscheinend nicht bemerkt. Er saß auf einem gestreiften Sessel und las, die etwas kurzsichtigen Augen dicht an den Buchseiten. Vor ihm stand eine junge Frau. John hätte sich bei ihrem Anblick fast verschluckt, vor allem angesichts ihres Korsetts, das die Brüste nicht wie üblich abflachte, sondern sie auf die unanständigste Weise hoch und nach vorne schob. Aber um Anstand machte sich die junge Frau anscheinend keine Sorgen: Das Korsett war der einzige Teil ihrer Kleidung, der nicht durchsichtig war. Gegen seinen Vorsatz – denn die Stelle bei Francis Bacon war für John ein ausgezeichnetes Sprungbrett in die Politik – gegen seinen festen Vorsatz schaute er hin und nickte anerkennend. Na, dieser Anblick würde dem Alten aber gründlichst die Laune verderben!

„Ahem!“ räusperte sich die junge Dame – wenn sie denn eine Dame war. „Sir – dürfte ich um mein Buch bitten?“
Francis Bacon blickte auf und blinzelte. Dann schlug er das Buch zu. „Ist hier also“ – er klopfte auf den Titel – „dieses Schlafzimmer?“
Victoria lachte anerkennend und nahm ihm den Band ab. „Es könnte dieses Schlafzimmer gewesen sein“, sagte sie. „Aber Sie sind hier falsch – folgen Sie mir bitte, hier entlang – in den Empfangsraum. Zwar sind Sie ein wenig früh gekommen, aber Madame wird gleich da sein.“
Wie von einer Bühne gingen die beiden ab, und John schwankte kurz – sollte er das Zimmer durchsuchen oder hinterhergehen? Dann kämpfte er sich aus den Samtmassen heraus und holte seinen Herren in einem kleinen Saal ein.

So, das also war der Empfangsraum! Sehr gastfreundlich war man hier offensichtlich nicht.

London, Charlotte Street, September 1831​

Für neue Kunden, das wusste Victoria aus Erfahrung, war der Empfangsraum ein Schock. Das galt sogar für diejenigen, die ganz begierig in die Charlotte Street gekommen waren. Jetzt im September gab es zwar keine Brennnesseln mehr, die sonst die großen Vasen füllten, aber Bündel von Birkenzweigen lagen in flachen Wasserbecken, damit sie frisch und geschmeidig blieben, und Madames Kollektion war eindrucksvoll an den Wänden ausgestellt.

Sie hatte Ideen wie keine sonst, Mrs. Berkeley, nicht umsonst war sie die anerkannte Königin ihres Gewerbes. Ruten, Reitgerten, hölzerne Prügel; Peitschen mit Lederriemen, Peitschen mit geknüpften Schnüren, in die getrocknete Fischgräten und die Nadeln des verrückten Erfinders Madersperger eingeflochten waren. Dessen Maschine hatte niemals auch nur einen Stich genäht, aber die Nadeln – doppelspitzig und mit dem Öhr in der Mitte - eigneten sich wunderbar für die Anfertigung von Peitschen. Madame hatte von ihrer letzten Reise auf den Kontinent eine ganze Schachtel davon mitgebracht.

Ihre neueste Erfindung waren einige alte Schuhe, in deren Sohlen fingerlange Nägel steckten. Und natürlich das Pferd, das in der Mitte des Raumes stand, auf einer Bahn Leinwand, denn abgerechnet wurde nach sichtbaren Blutstropfen.

„Bitte, Mylord“, sagte Victoria und streckte die Hände nach dem Mantel ihres Kunden aus. Bisher war sie so verblüfft gewesen von seinem geräuschlosen Eindringen in ihr Boudoir – sie hatte sich doch nur kurz von der Tür abgewendet! - dass sie den Mann nicht genauer betrachtet hatte. Jetzt bemerkte sie mit Verblüffung seine Erscheinung, die einem der Porträts in der Ahnengalerie ihres Vaters entstiegen sein konnte. Der lange, pelzgefütterte Überwurf, den sie an ein Kammermädchen weitereichte, wog so viel wie ein Sack Mehl. Darunter trug er eine wattierte Jacke, bauschige Kniehosen, rote Strümpfe und – oh Himmel! – Schuhe mit Korksohlen. Sein Haar war lang, der Bart dicht und spitz, das ebenmäßige Gesicht streng und verkniffen. Unbestimmbares Alter, dachte Victoria, er könnte genauso gut vierzig wie siebzig sein. Und wenn er sich nicht wie ein Edelmann halten würde, wäre er nichts als ein gewöhnlicher Irrer. Nun, ein Verrückter war der ohnehin, in seinem elisabethanischen Kostüm. Victoria hatte noch nie jemanden gesehen, der eine Marotte so weit trieb wie es dieser hier tat.

Arcadia, Neu-Atlantis, September 2311​

Professor Pantheas blätterte in Ikaro Krators Notizbuch, es enthielt Material für die geplante Doktorarbeit.

„Aurelion, von 2056 – 2071 Leiter des Instituts für Hochenergiephysik in Colonia, stellte die erste künstliche Verwerfung im Raum-Zeit-Gefüge her. Dieser erste Spalt konnte für 300 Mikrosekunden aufrechterhalten werden und benötigte dafür eine Leistung von 1 Gigawatt. 25 Jahre später konnte ein Spalt mit einer Spannweite von 100 Jahreskilometern (also 100 Jahre zeitlicher und 1 km räumlicher Abstand, oder jede andere Aufteilung) mit der verhältnismäßig bescheidenen Leistung von 49 kW beliebig lange aufrecht erhalten werden. Wegen der Befürchtung, Paradoxa könnten zu nicht voraussagbaren Ereignissen in der Gegenwart führen, wurde die Forschung an den Raum-Zeit-Faltungen verboten, und dieses Verbot blieb beinahe 200 Jahre lang bestehen.“​

„Es hätte auch bestehen bleiben sollen!“ murmelte der Professor. Ein Herbststurm wehte Laub durch die Säulenreihen des Hofganges. Deprimiert schloss er die Läden und wandte sich vom Fenster ab. „Sie hätten verboten bleiben sollen... die Raumzeit-Spalten haben noch niemals irgend etwas zur Erkenntnis beigetragen und sind nichts als Narrengold, das unsere jungen Forscher auf Abwege lockt.“

Mit der betrübten Überlegenheit des älteren Menschen, der schon vor Jahren begriffen hat, worum der jüngere erst ringt, las der Professor Krators Prüfliste. Der Spalt in der Raumzeit ermöglichte keine gezielte Beobachtung des Geschehens an einem der beiden Enden. Krator wollte indirekt ableiten, was geschehen war, indem er Biografien und andere Literatur vor und nach der Erschaffung des Spaltes überprüfte und die Änderungen festhielt. Hier war unter anderem ein absolut lächerliches Werk aufgeführt, das behauptete, Francis Bacon wäre in Wirklichkeit der Verfasser der Shakespeare-Dramen gewesen. Ein weiteres, das zu beweisen behauptete, Francis Bacon wäre nicht der jüngste Sohn von Sir Nicholas Bacon und seiner Frau Anne gewesen, sondern der Sohn der Königin Elizabeth I. und des Grafen von Leicester, den diese, da sie schwanger war, im Jahre 1560 heimlich geheiratet hatte. Verächtlich betrachtete der Professor die Porträts, eine Galerie schmaler, spitzer Gesichter mit langen Hakennasen und dunklen Kulleraugen. Familienähnlichkeit war ja da – aber diese Renaissance-Porträts sahen sich doch alle irgendwie ähnlich. Er seufzte. Möglicherweise geschah nichts Schlimmeres, als dass kleine Änderungen in irgendwelchen alten Biografien auftauchten. Aber es konnte viel mehr geschehen. Unfassbar viel mehr.

Ganz plötzlich bekam der Professor eine heftige Gänsehaut.

London, Charlotte Street, September 1831​

Victoria hatte ihre Anweisungen bezüglich des Mylord Duncan schon am Vortag von Madame erhalten. „Geist ist nötig, viel Geist!“ hatte Madame gesagt. „Und völlige Mitleidlosigkeit. Du musst ihn gleichzeitig beeindrucken und demütigen. Und auch Athena wird kein Erbarmen mit einem unbotmäßigen Schüler kennen.“
„Wird er freiwillig mitmachen?“ hatte Victoria gefragt.
„Das weiß ich nicht“, antwortete Madame, „es ist aber nicht vereinbart, dass er aussteigen kann. Also halte den Zügel kurz.“

Der Widerstand dieses Kunden begann tatsächlich schon bei der Jacke, so dass Victoria am Klingelzug ziehen musste. Vier Novizinnen – wie Madame die Mädchen nannte, die noch zu jung für richtige Arbeit waren - kamen auf das Signal hin in den Empfangsraum, und mit vereinten Kräften hatten sie den Unbotmäßigen im Handumdrehen und im Naturkostüm auf das Pferd gebunden.
„Lasst mich sofort hier herunter!“ brüllte der Herr, „wisst ihr denn nicht, wer ich bin?“

„Und wer sind Sie also, Mylord?“ kam eine gelassene Stimme von hinten. Victoria drehte sich um. Es war Mrs. Berkeley, als griechische Göttin Athene gekleidet, mit weißem Kleid, goldenem Helm, Sandalen und Eulenstab. Das Kleid ließ die kräftigen Muskeln ihrer Arme sehen, als sie langsam um das Pferd herumging und sich neben Victoria stellte. Sie bückte sich herab und zischte ihr ins Ohr: „Ihn hätte ich nicht wiedererkannt!"

„Ich bin St. Alban's!“ schrie der Mann auf dem Pferd. Die beiden Frauen blickten ihn fragend an.
„Francis Bacon, Baron of Verulam und Viscount St. Alban's”, wiederholte der Mann.

Victoria hätte beinahe laut herausgelacht, aber sie beherrschte sich. Wohlan, ihr Ruf als Nemesis der Philosophen schien sich zu verbreiten! In dieser Woche waren schon Descartes und Aristoteles da gewesen, nun also auch noch Francis Bacon...
„Oh ja, Mylord“, sagte sie glatt und nur mit einer Spur Hohn in der Stimme. „Verzeiht bitte, dass ich Euch nicht gleich erkannt habe. Eure Werke haben einen unauslöschlichen Eindruck auf mich hinterlassen – das Novum Organum, das Neu-Atlantis – es ist mir eine besondere Freude, nun auch den Verfasser dieser Schriften in personam kennenzulernen.“
„Dann beweist Eure Ehrerbietung gefälligst damit, dass Ihr mich von diesem Höllentisch hier losbindet“, verlangte der Nackte. „So oder so wird das Folgen für Euch haben.“
„Mylord“, erinnerte Madame ihn mit süßer Stimme, „wir haben, wie ihr noch wissen werdet, eine schriftliche Vereinbarung getroffen. Ein Pfund für rote Striemen, drei Pfund für blutende Striemen, sieben Pfund, wenn Blut Eure Beine hinunterläuft, fünfzehn Pfund, wenn Blutflecken auf dem Leintuch zu sehen sind. Gar nichts, wenn wir vorzeitig aufgeben.“

„Mit einer Vettel treffe ich keine Vereinbarung!“ schrie Francis Bacon. „Und warum Blut?“

John, hinter dem Durchgang versteckt, griff nicht ein. Schließlich wusste sein Herr nicht, dass er ebenfalls hier war. Und gegen sechs Frauen zu kämpfen, von denen mindestens eine viel stärker aussah als er selbst, war ohnehin aussichtslos.

„Darum Blut!“ sagte Theresa Berkeley und schlug zu. Es pfiff und klatschte, und Francis Bacon stieß einen lauten Schrei aus. John verspürte eine unerwartet starke Befriedigung: Hatte er selbst von dem Alten nicht genug in dieser Hinsicht auszustehen gehabt? Und das mindere Personal in den Tiefen der Küche, das nicht einmal regelmäßig zu essen bekam und sich von den Resten ernährte, die im Topf verblieben: Mussten die nicht oft genug herhalten, nur so zum Spaß?

„Zur Hilfe!“ brüllte Johns Herr. „So mache mich doch einer hier los!“
„Sie sind nicht hierher gekommen, um sich retten zu lassen“, sagte die Göttin Athene kühl.

John überlegte, ob sie vielleicht beide tot und in der Hölle waren. Ums Leben gekommen durch einen verhexten Stuhl. Die Hölle war ein Ort, an dem Riesinnen mit starken Armen die Sünder auspeitschten. Wer wusste eigentlich wirklich, was Sünde und was Tugend war? Die Pfaffen schon mal nicht, wenn dies wirklich die Hölle war. Vielleicht, wenn er sich nicht so vorbildlich zurückgehalten, Gottes Gebot in Vertretung seines unwilligen Dienstherren befolgt und Francis' Lady Alice einen Erben gemacht hätte, wäre er dann nicht hier? Nein, denn dann wäre er wahrscheinlich in der Gosse der Fleet gelandet. Schließlich war sein Herr keiner von denen, die sich ein Kind, das sie nicht selbst gezeugt hatten, durch allerlei abergläubischen Schnickschnack aufschwatzen ließen. Der nicht.

Sein Herr war schließlich der gebildeteste und begabteste Mann seiner Zeit. Er hatte zudem ein System entwickelt, um Täuschungen und Vorurteile aller Arten säuberlich in Kategorien einzuteilen. Obschon ihm sein System jetzt nicht weiterzuhelfen schien.

Eben sprach Athenes Priesterin, jene mit dem herausfordernden Korsett, während Athene die Peitsche in geschickten Schwüngen in der Luft knallen ließ. Gelegentlich stach sie mit ihrem Eulenstab – einer umgedrehten Lanze, wie John bemerkte – in die fleischigeren Körperteile seines Herren.

„Das macht euch Pein, wie, dass ihr nicht wisst, warum ihr hier vor uns seid?“ fragte die „Priesterin“ höhnisch. „So lest denn eure eigenen Bücher und fragt euch, ob ihr nicht Grund habt, uns Frauen zu fürchten. Ihr habt uns nicht einmal den Platz eines wertlosen Haustieres in eurer idealen Gesellschaft zugewiesen. Warum nicht?“

„Aristoteles sagt über die Weiber ...“ begann Francis, und die Peitsche wurde mit gesteigerter Wucht auf sein Hinterteil geknallt. Er heulte auf.

„Aristoteles – den ihr hasst. Dessen überliefertes Werk nichts mehr ist als Trümmer, die den Fluss der Zeit hinuntertreiben – waren dies nicht eure Worte?“
Francis schaute nicht auf.
„Und was sagt Aristoteles nun über die Weiber?“ fragte die Priesterin in einem widerwärtig schmeichelnden Ton.
Francis reagierte wiederum nicht. Die Peitsche klatschte, aber nur leicht. Trotzdem zuckte er zusammen.
„Nun?“ fragte die Priesterin unerbittlich.
„Die Frau“, begann Francis Bacon stockend, „die Frau ist ein unvollständiger Mann. Sie ist minderwertig und muss sich dem Manne unterordnen.“
Die Priesterin gab ein Zeichen, und John hielt sich die Ohren zu.

„Habt Ihr das auch Eurer minderwertigen Königin erklärt?“ fragte die Priesterin.
„Ich habe keine Königin, sondern einen König. Königin Elizabeth ist seit achtzehn Jahren tot.“
„Und Ihr habt niemals ihre Gunst erringen können, nicht wahr?“ stichelte die Priesterin. „Ich wette, sie hat Euch auf den ersten Blick das Maß genommen. Jungfräulich war sie wohl, aber nicht keusch. Immer ein Auge für junge Männer. Habt Ihr euch nicht zu ein paar kleinen – hm – Schmeicheleien durchringen können?“
„Schweigt“, murmelte der gebundene Mann, „Ihr geht zu weit.“
Die Priesterin gab ein Zeichen, und die Peitsche tat ihren Dienst.
„Ich werde die Wahrheit schon aus Euch herausbringen“, höhnte die Priesterin. „Erst kommt das Geständnis, und dann kommt die Strafe! – Nun, wie war das - nicht einen winzigen Kuss hattet ihr für die große Gloriana? Der mächtigsten aller Frauen wart ihr nicht gefällig, nur aus Weiberhass?“
„Ich sage noch einmal, schweigt“, verlangte Francis. „Ihr habt sie wohl nicht gut gekannt.“

John war Königin Bess einmal vorgestellt worden, als junger Bursche von vierzehn Jahren. Er erinnerte sich lebhaft an den Schrecken, den sie ihm eingeflößt hatte. Ihr mit Eiklar, Bleiweiß, Lampenruß und Zinnober zu einer dämonischen Maske gestaltetes Gesicht, ihre widernatürlich dünne Taille – sie pflegte jeden Tag nur einen gebratenen Hühnchenflügel und ein wenig Wein zu sich zu nehmen – ihr hoch ausrasierter Schädel und vor allem ihre Zähne, schwarz wie morsche Knochen, schienen direkt aus einem Jenseits des Grabes zu stammen. Dann war sie auch noch mit einem kaum zwanzigjährigen Jüngling hinter einem Wandschirm verschwunden und außerordentlich erfrischt – und alleine – wieder hervorgekommen. John hatte seine Angst erst abgelegt, als die „gute Bess“ endlich gestorben war.

„Die berühmteste aller Frauen nicht gekannt?“ fragte die Priesterin. „Ihr meint nicht, was Ihr da sagt. Wäre ich ein Mann – und vor allem einer, dessen natürliche Begabungen nicht ausreichten, um mir eine Stellung bei Hofe zu verschaffen – also, ich hätte schon gewusst, wie ich mir helfen sollte. Denn schließlich, bei König James ist es Euch auch nicht schwergefallen, Gunst zu erlangen. Aber Ihr, ein Mysogynist – alles Weibliche ist Euch verhasst, und lieber verzichtet ihr feige auf Rang und Stellung, als dass...“
„Verdammt sollst du sein, Hexe, oder was immer du bist“, brüllte Francis. „Sie war meine Mutter!“

John schnappte schockiert nach Luft, die beiden Frauen traten einen Schritt zurück.
„Was sagt Athene?“ fragte die Priesterin langsam. „Ist das Majestätsbeleidigung?“
„Oh ja“, entgegnete die Göttin Athene und drehte sich so, dass der Gefesselte ihr Feixen nicht sehen konnte. „Das ist eine unerträgliche Beleidigung der größten Frau in der Geschichte Englands. Ich sage, fünfundzwanzig.“

Die Peitsche zählte rückwärts von fünfundzwanzig nach eins.

Arcadia, Neu-Atlantis, September 2311​

„Stell den Spalt ab!“ befahl Professor Pantheas. „Sofort!“
Krator streckte die Hand in Richtung des Paneels aus und wollte einen Regler in Richtung Null verschieben. Aber im letzten Augenblick zog er die Hand zurück.
„Was ist?“ fragte der Professor barsch.
„Die Daten stimmen nicht“, sagte Krator verzweifelt. „Zweihunderundzwölf Jahreskilometer sollten nicht diesen Energieverbrauch haben, wie er hier angezeigt wird. Der Spalt nimmt zu viel Energie auf. Entweder durchläuft er eine Barriere, oder – oder er verzweigt sich. Und wir wissen nicht, wohin die anderen Zweige führen...“
Vorsichtig streckte er die Hand wieder zum Regler aus, als der Spannungsmesser einen plötzlichen Abfall registrierte. Die Elektronik regelte sofort nach, stellte sich wieder auf die ursprüngliche Voltzahl ein – und wieder war der Energieverbrauch gestiegen. Auf dem Bedienteil lag jetzt ein wertvoller, goldgepunzter Dolch mit Damaszener Klinge.
„Ein Ende des Spaltes“, sagte Professor Pantheas in ätzendem Tonfall, „eines seiner vielen, vielen kleinen Enden kommt anscheinend genau hier heraus.“

London, Charlotte Street, September 1831​

“Madame!” sagte ein Diener in leisem, aber dringlichen Tonfall. „Madame, bitte, es ist dringend.“
Theresa Berkeley schien ihren Ärger nur mit Mühe zu bezwingen. Der Diener flüsterte in ihr Ohr. „Mylord Duncan?“ sagte Theresa überrascht. „Aber...“
„Er ist schon vor einer halben Stunde eingetroffen und wirkt allmählich ziemlich – äh, ungeduldig“, sagte der Diener.
Mrs. Berkeley drehte sich zu dem fast bewusstlosen Mann auf dem Pferd um. Einen Lidschlag lang schien sie nachzudenken, dann kam sie zu einem Entschluss. „Victoria“, sagte sie halblaut zu ihrer Gehilfin, „hol dir Hilfe und sieh zu, dass du ihn loswirst. Und zwar gründlichst!“
John zog seinen Dolch. Als er mit Victoria und seinem Herrn alleine war, verließ er sein Versteck und begann, die Fesseln um Francis Bacons Unterarme und Beine durchzusäbeln. Victoria erstarrte für einen Augenblick, als sie den zweiten Irren in Elisabethanischer Kleidung erblickte, einer Kleidung, die sie nicht als Livree erkannte. Dann trat sie auf John zu.
„Heda, Bursche!“ begann sie. John ließ sofort von Francis Bacon ab und drehte sich zu ihr um.
„Was denkst du eigentlich ...“ schimpfte Victoria, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken, als sie die Dolchspitze an ihrer Brust fühlte. Mit sichtlicher Befriedigung bohrte der junge Mann ihr die Waffe in den Brustansatz, gerade so fest, dass ein kleiner Blutstropfen erschien. „Hier wird nach sichtbaren Blutstropfen abgerechnet, oder nicht?“ fragte er, schnitt seinen Herrn endgültig los und trug, schleppte und zerrte ihn in Richtung von Victorias Schlafzimmer. „Nur Mut, Mylord, nur Mut – ich kenne den Rückweg!“ Im Zimmer angekommen, warf er den Dolch auf den Sessel und erkannte im selben Augenblick seinen Fehler, aber es war zu spät – die kostbare Prunkwaffe war schon verschwunden. Er wuchtete seinen Herrn in den Sessel und hoffte, dass der unbeschadet, wenn auch nackt in St. Alban's herauskommen würde. Dann rannte er nach den Kleidungsstücken seines Herrn, ohne sich umzusehen.

Er kannte schließlich den Alten. Der wäre glatt imstande, ihm den Mantel vom Lohn abzuziehen.

London, Charlotte Street, September 1831​

“Und dann hat er einfach den nackten Verrückten, seine Sachen und sich selbst auf den Sessel geworfen, und dann waren sie verschwunden – einfach so!” heulte Victoria hysterisch.
„Einer von ihnen hat seinen Hut vergessen“, sagte Madame. Auch ihr war der Schreck in die Glieder gefahren, aber sie war zu froh darüber, dass der mögliche Ankläger verschwunden war, um über die Art seines Verschwindens abergläubische Ängste zu entwickeln. Madam hätte sich jederzeit lieber für einen verhexten Stuhl als für einen Prozess entschieden. „So ein hässlicher Hut! Immerhin, scheint ein Smaragd zu sein da an der Feder. Ich nehme ihn – könnte mir einen hübschen Anhänger davon arbeiten lassen, meinst du nicht?"
„Niemand hat den Hut vergessen“, erwiderte Victoria zögernd, „er erschien einfach statt des nackten Mylords. Und als sein Page mit den Kleidern durchge- äh – durchgesprungen ist, da war dann das dafür da.“
„Puh“, sagte Madame und rümpfte die Nase, „das bleibt mir nicht im Haus.“
„Das“ war eine Jagdtrophäe, ein Keilerkopf, so miserabel gegerbt und präpariert, dass er geradezu zum Himmel stank. „Wo hast du das her?“
„Ich sage doch, von dem Sessel dort – statt des Pagen!“
Madame schaute sie an und schüttelte den Kopf. „Jedesmal, wenn man etwas drauftut, verschwindet es und etwas anderes erscheint?“
Victoria nickte. Dann fragte sie herausfordernd: „Ihr glaubt mir nicht? Dann werden wir zuerst einmal dieses scheußliche Tier hier los, dann werdet Ihr schon sehen.“ Sie hob den Keilerkopf und wuchtete ihn auf den Sessel. Er verschwand sofort und ließ nur seinen Gestank zurück.
„Und was soll jetzt das sein?“ Madame hob ein silbernes Schächtelchen vom Sessel hoch, über dessen Oberfläche unruhige Bilder zuckten. Sie starrte hinein, und ihre Augen wurden immer größer. Dann begann das Teufelding, wie eine Spieluhr zu klingeln und in ihrer Hand zu zittern. Hastig wollte sie es auf den Sessel zurückwerfen, aber Victoria hielt ihren Arm fest.
„Nicht, Madame – wer weiß, was als nächstes kommt!“
Das Klingeln in ihrer Hand erstarb. Victoria und Madame wickelten das unheimliche Kästchen in mehrere Unterröcke und schoben es unters Bett. Noch tagelang konnte man es klingeln hören, aber dann schien es tot zu sein. Als Victoria es vorsichtig auspackte, waren auch die Bilder verschwunden. Sie legte das merkwürdige Ding unter einen Stapel Hemden in die hinterste Schrankecke.
Weder sie noch Madame redeten jemals von den Ereignissen an diesem Donnerstagnachmittag im September 1931. Wenige Jahre später brach unter dem Haus in der Charlotte Street ein alter Kanalisationsschacht ein, und das Gebäude musste von Grund auf neu errichtet werden. Damit war auch der letzte Beweis für die unheimlichen Ereignisse verschwunden.

Arcadia, Neu-Atlantis, September 2311​

„Wenn du den Spalt abgestellt hast, warum ist er dann immer noch da?“ fragte Professor Pantheas.
„Ich weiß nicht“, murmelte Krator und versuchte, aus den Anzeigen auf dem Paneel schlau zu werden. „Der Spalt hat keine Energiezufuhr mehr, aber immer noch einen Enegieverbrauch...“
„Zieh den Stecker raus!“ befahl der Professor. „Los jetzt, dieser gefährliche Unsinn muss ein Ende haben.“
„Professor – diese Maschine ist ziemlich alt – ein Eigenbau der Fakultät - und nicht sehr gründlich dokumentiert – ich weiß nicht, was geschieht, wenn ihre Stromzufuhr endgültig abgestellt wird.“
„Bestimmt nichts schlimmeres als jetzt“, knurrte Professor Pantheas, bückte sich nach dem altmodischen Schutzkontakt und riss ihn auseinander.
An der Front der Maschine gingen die Lichter aus. Die Schalter und Regler wurden funktionslos. Merkwürdig war nur, dass die Instrumente immer noch eine Spannung und einen Strom anzeigten. Die Anzeigen flackerten, dann erschien ein widerwärtiger, schlecht präparierter Keilerkopf auf einer wurmstichigen Eichenholzplatte und krachte zu Boden, wo er kaputt ging.
„Uff“, sagte Krator nur und begann, an seinen Fingernägeln herumzukauen. „Der Spalt existiert noch... Er erhält von hier keine Energie... Er muss die Energie aus anderer Quelle bekommen!“
„Was heißt das?“ fragte der Professor mit blassem Gesicht, obwohl er die Antwort wusste.
„Das heißt“, erwiderte Krator langsam, „dass er mit einer Verzweigung in eine Energiequelle gelangt ist. Höchstwahrscheinlich in das Kraftfeld eines Generators, aber vielleicht auch in einen Teilchenbeschleuniger oder einfach in eine Gewitterwolke... Wie auch immer, bevor diese Energiequelle nicht zusammenbricht, wird der Spalt bestehen bleiben. Mit allen Konsequenzen.“
„Mit – allen - Konsequenzen“, wiederholte der Professor.

London, St. Alban’s, September 1621​

Langsam, ganz langsam drehte Francis Bacon sich auf dem Steinboden seiner großen Halle um und erhob sich in eine sitzende Stellung. Sein Diener John begann ihn hastig anzukleiden, und er ließ es teilnahmslos geschehen. „Was war das... was waren die...“, murmelte er und schnappte nach Luft, als das Hemd die Striemen auf seinem Rücken berührte. „Bin ich verletzt?“ fragte er. „Mir tut alles weh...“
„Mylord, Ihr seid ausgepeitscht worden“, sagte John.
„Also doch... und das war keine Täuschung, wie mir scheint. Die Peitsche war wirklich, die Striemen sind wirklich, der Weg – die Reise – das Unwichtigste daran, muss demnach ebenfalls wirklich gewesen sein – aber diese höllischen Wesen – was waren sie?“
„Die Frauen, Herr?“ fragte John. „Zwei Frauen und vier junge Mädchen?“
„Das waren keine Frauen!“ entgegnete Francis heftig. „Oder doch? Was – wer – was an dem ganzen war die Täuschung? Welchem Eidolon bin ich aufgesessen?“ Er bewegte vorsichtig die Schultern. „Der Schmerz ist ganz wirklich, aber dies alles kann dennoch nicht geschehen sein.“
Mühsam erhob er sich, schlurfte durch die Halle in den kleinen Raum, in dem er schrieb und diktierte, und holte einen Stapel Manuskripte. Im Kamin der Halle brannte ein Feuer. Zwar war das Wetter noch recht mild, aber es sollte niemand sagen können, der Viscount könne seine Halle nicht heizen. Francis Bacon ballte die Fäuste um das krachende Pergament, starrte einen Augenblick lang darauf und warf alles ins Feuer.
John erkannte seine eigene Handschrift, ehe die Blätter schwarz wurden. „Mylord!“ rief er aus. „Eure Bücher – die Instauratio Magna– die zweite Philosophie...“
„Bleiben besser ungeschrieben“, murmelte Francis Bacon. „Sie bleiben ungeschrieben, bis ich entscheiden kann, ob ich überhaupt etwas weiß oder nicht.“

Teilnahmslos ließ er sich von den Wachen, die ihn im Hausarrest gehalten hatten, aufs Gericht führen. Er lehnte einen Anwalt ab, verteidigte sich selbst, und auch das nur nachlässig. Mit merkwürdiger Gleichgültigkeit ließ er sich seiner Titel, seines Vermögens und aller seiner Ämter berauben, bezog ein Zimmer in seiner alten Fakultät und lebte von den paar Schillingen, die ihm geblieben waren. Wenn er sich überhaupt noch mit Wissenschaft beschäftigte, dann nur mit albernem Zeug, etwa mit der Frage, ob Fleisch durch Kühlung haltbar zu machen sei. Und so, wenige Jahre später, starb er auch, an einer Lungenentzündung, die er sich zuzog, als er ein geschlachtetes Hähnchen vom Markt mit Schnee auszustopfen versuchte.

Die drei Hauptbände seines Werkes blieben ungeschrieben.

Es schrieb sie auch in den folgenden Jahrhunderten niemand mehr.

London, September 2311​

Krator bemerkte, dass es im Raum dunkler geworden war. Er drehte sich um, erblickte den grässlich veränderten Ausblick aus dem Fenster und fiel in Ohnmacht.

Schornsteine qualmten vor sich hin. Die Straßen waren gestopft voll mit Menschen, die alle ähnlich trübselige, dunkle Kleidung trugen. Lärmende Fahrzeuge nahmen den größten Teil der Straßen ein, so dass ein entspanntes Gehen gar nicht möglich war. Auch der Säulenhof der Fakultät war mit Reihen und Reihen stehender Wagen so dicht gefüllt, dass er wahrhaftig keinen philosophischen Wandelgang mehr abgab. Die Menschen auf der Straße dahinter trugen verkniffene Gesichter, schoben und stießen einander ungeduldig beiseite, und wenn sie gewusst hatten, wie sich auch ohne Hast und Gewinnmaximierung ein erfülltes Leben führen ließ, dann waren sie auf dem besten Wege dazu, es zu vergessen.

Professor Pantheas schaute die Regalwand auf und nieder und bemerkte sofort Bücher, die vorher nicht da gewesen waren. Er zog einige davon heraus und blätterte darin herum. Freud, Keynes, Kondratieff; Descartes, Jung und viele andere – 'Falsch, falsch', dachte er, alle hatten sie einen ganz falschen Ansatz, wenn er auch schon nicht mehr genau sagen konnte, worin der Fehler bestand.

„Marmeladenbrot unten“, murmelte Professor Pantheas und stellte die Bücher zurück ins Regal. „Marmeladenbrot unten, Katze tot.“

 

Hallo,

nun habe ich es doch gewagt, eine Zeitmaschinengeschichte in dieses Forum zu stellen. Was mich vor allem interessieren würde, ist eure Meinung zu den folgenden Punkten:

Wie viel von dem einleitenden Zeug kann weg?
Und ich hatte große Schwierigkeiten ausgerechnet mit der mittleren Szene mit den beiden Dominas. Kommt die einigermaßen glaubwürdig rüber?

Gruß, Aleysha

 

Hallo Aleysha,

bei einer so langen Story kann es schon mal dauern, bis man Antwort bekommt :)

Als ich deine Geschichte gelsen habe, war ich zutiefst beeindruckt. Ich kenn mich in den entsprechenden Epochen zwar nicht aus, aber du beschreibts verschiedene Details, die mir als Leser das Gefühl geben, ein authentisches Bild der damaligen Zeit zu bekommen. Das beginnt (natürlich) bei den historischen Hintergründen, geht aber weiter über Wortwahl, Gegenstände, Bekleidung bis zum Intellekt der Protagonisten. Ich war an mehreren Stellen versucht, einzelne Details nachzuschlagen, um Einzelheiten zu überprüfen, habe es aber angesichts der erschlagenden Detailfülle bereits nach der zweiten Seite aufgegeben. Ich muss dir wohl einfach glauben. ;)
Mein Eindruck: Entweder du kennst dich aus gut in den beiden Epochen aus, oder du hast sehr viel recherchiert oder aber du bist ein gute Hochstaplerin.
Eine absolute Stärke deiner Geschichte ist meiner Meinung nach die Millieubeschreibung.

Jetzt zur Handlung: Francis Bacon, erklärter Frauenverachter trifft auf Theresa Berkely, den Inbegriff der Domia. Das ist wirklich ein spannender Ansatz. Die Einleitung zu diesem "Clash of Genders" fand ich zwar etwas trocken, aber auf alle Fälle unverzichtbar, allein schon um einen geschichtlichen Einstieg zu finden. Francis Bacon kennt man zwar als Phillosophen, seine Einstellung zum anderen Geschlecht war mir aber unbekannt.

Vielleicht weisst du, dass Zeitmaschinen aufgrund der damit verbundenen Paradoxa in diesem Forum als "unwissenschaftlich" eingestuft werden und daher nicht besonders beliebt sind. Um diese beiden Charaktere aufeinander prallen zu lassen, finde ich es aber durchaus okay, solange man sich auf de Begegnung selbst konzentriert.
Wenn man aber in einer Geschichte schreibt, dass änderungen in der Vergangenheit, Auswirkungen auf die Gegenwart haben, gerät man sofort auf die schiefe Bahn.
Weil Bacon sein Werk geschrieben hat, kam der Promovierende auf die Idee diese Begegnung zu veranstalten. Dadurch wurde das Buch nicht mehr geschrieben. Also müsste als Konsequenz auch der Promovierende in der neuen Zukunft keine Begegnung zwischen Bacon und Berkeley mehr organisieren. Also wurde das Buch doch geschrieben??? - Du verstehst vielleicht.

Ich denke aber, dass es einen Ausweg gibt. Wenn du mit der Zeitreise eine Prallelwelt aufmachst, in der es eine alternative Zukunft gibt, wärst du die meisten Probleme los. Wenn du dann dem Professor und dem Studenten die Möglichkeit gibst, die Entwicklung in der Prallelwelt zu beobachten, kannst du auch inhaltlich alles beibehalten.

Noch eine Sache: Ich hatte mir nach dem fulminanten Einstieg richtig viel von der Geschichte versprochen. Da schreibt jemand, der sich mit geschichtlichen Epochen gut auszukennen scheint über das Zusammentreffen zweier völlig unterschiedlicher Charaktere, der sie auch noch gut zu kennen scheint. Als es dann einfach nur darum ging, dass Lady Berkely den Kerl auf das Folterinstrument spannt, beschimpft und auspeitscht, war ich dann doch noch ein wenig enttäuscht. Ein intellektuelles Wortgefecht auf allerhöchstem Niveau wäre da vielleicht interessanter gewesen.

Die Szene wirkte dann tatsächlich auf mich etwas aufgesetzt. Hatte Bacon jetzt den Vertrag mit der Blutbezahlung unterschrieben? Wahrscheinlich nicht. Warum machten dann die Frauen den ganzen Zirkus? Sie waren doch knallharte Geschäftsfrauen, die sicherlich nicht geglaubt haben, den echten Bacon vor sich zu sehen. Und selbst wenn? Hätten sie ihn gehasst? Stehen sie nicht über solchen veralteten Popanz? Vielleicht kann man mehr aus dieser Begegnung machen. Ist meiner Meinung nach immerhin der Höhepunkt.

Alles in allem aber eine beeindruckende Story.

Liebe Grüße,

Mihai

 

Nur ein kurzes Posting, um kundzutun, dass auch ich die Geschichte überflogen habe, und sie in nächster Zeit genauer lesen werde.

 

Hallo, Mihai,

vielen Dank für den ausführlichen Kommentar und das Lob. Sprachlich hast du anscheinend nüscht zu meckern? Das ist für mich als Nicht-Deutsch-Muttersprachler immer ein erhebendes Erlebnis :)

Zu deiner Frage: Die beiden Frauen glauben natürlich nicht, den echten Francis Bacon vor sich zu haben, sondern jemanden - eben den Lord Duncan - der am Vortag seinen "Termin" gebucht hat. Wie das so ablief, habe ich ungefähr aus "Fanny Hill" (obwohl Cleland so ein Bordell auch nur als Kunde gesehen hat). Sie denken, dass er sich für Bacon hält oder diesen spielen will, so wie die falschen Aristoteles und Descartes, die sie in der Woche schon als Kunden hatten. Außerdem muss er ein Masochist sein, sonst wäre er ja nicht da. Victoria hat ein gewisses Talent, durch ihre Fragen/Gespräche den Kunden immer noch ein bisschen mehr weh zu tun als sie es erwarten. Natürlich ist ihr völlig egal, wie der echte Bacon zu seiner Umgebung gestanden hat. Sie sucht nur einen Punkt, an dem sie einhaken kann.

Was historisch nicht richtig ist: Sie kann nicht gewusst haben, dass er homosexuell war, denn das schreiben zwar seine Zeitgenossen recht unverhüllt, aber im 19. Jahrhundert und bis weit ins 20ste hinein hat man diesen Sachverhalt ignoriert oder geleugnet. Wie soll ein Schwuler schließlich auch zum Begründer der naturwissenschaftlichen Methode werden? :D Trotzdem hackt Victoria darauf herum, dass er nicht wie viele andere auf "klassischem" Wege bei Hof aufgestiegen ist (F. B. ist erst nach der Thronbesteigung von James I zu Ämtern, Titeln und Geld gekommen).

Ich hatte erst eine wesentlich längere Begegnung geschrieben, in der die beiden Frauen ihm erzählen, sie würden Philosophinnenschulen gründen, sie zeigen ihm ein Poster von Madame Minerva, der Gewichtheberin (die war allerdings um 1880), sie stellen Kant und Hegel, von dem sie denken, er kenne sie, auf eine Stufe mit de Sade. Nach neun Seiten habe ich das meiste wieder entfernt. Es erhob sich in völlig übertriebene Sphären. Am Ende blieb nur die Peitscherei und ein paar ätzende Sprüche. Gerade genug, dass Bacon seine Manuskripte ins Feuer wirft, und in den paar Restjahren seines Lebens nichts mehr schreibt. Meinst du, die Szene sollte wieder länger werden?

Und die Zeitmaschinenlogik... Es handelt sich ja für den Professor und seinen schlecht betreuten Doktoranden um ein langsames Überdriften in die Parallelwelt, in der die Instauratio nicht geschrieben worden war. Ansonsten, gebe ich zu, bin ich über vieles einfach hinweggegangen, weil der Schwerpunkt woanders lag. Stören die logischen Brüche sehr? Dann würde ich mir noch etwas überlegen.

Gruß, Aleysha

 

Hallo Aleysha,

Sprachlich hast du anscheinend nüscht zu meckern? Das ist für mich als Nicht-Deutsch-Muttersprachler immer ein erhebendes Erlebnis
Nö, sprachlich fand ich die Geschichte richtig ansprechend. Aber vetraust du dem Urteil eines anderen Nicht-Deutsch-Muttersprachlers? ;)

Ich hatte erst eine wesentlich längere Begegnung geschrieben, in der die beiden Frauen ihm erzählen, sie würden Philosophinnenschulen gründen, sie zeigen ihm ein Poster von Madame Minerva, der Gewichtheberin (die war allerdings um 1880), sie stellen Kant und Hegel, von dem sie denken, er kenne sie, auf eine Stufe mit de Sade. Nach neun Seiten habe ich das meiste wieder entfernt. Es erhob sich in völlig übertriebene Sphären. Am Ende blieb nur die Peitscherei und ein paar ätzende Sprüche. Gerade genug, dass Bacon seine Manuskripte ins Feuer wirft, und in den paar Restjahren seines Lebens nichts mehr schreibt. Meinst du, die Szene sollte wieder länger werden?

Die Geschichte hat jetzt eigentlich bereits eine recht ansehnliche Länge erreicht, die ich angesichts des Inhalts nich weiter strecken würde. Die Idee mit einer Philosophenschule der beiden Dominas gefällt mir aber ausgesprochen gut. Die Vergleiche zwischen Kant und Sade würden mich auch brennend interessieren, aber das ist eben auch nur meine Meinung. Ich fürchte, gerade auf diesem Gebiet können Interessen sehr weit auseinander gehen. Mainstream ist das aber sowieso nicht mehr.

Ich versuch mal kurz zusammenzufassen, warum ich mit der jetzigen Handlung etwas unbefriedigt bin. Wenn ich die Paradoxien übergehen soll, gibt es zunächst auch kein technisch interessantes SF-Element. Somit bleibt für mich ausschließlich die Begegnung zwischen den beiden Protagonisten als Kernhandlung, die auch sehr interessant wär aber:

Gegeben:
1) F.B., begründer der naturwissenschaftlichen Methodik, anerkanntes Genie seiner Zeit, aber völlig Ignorant gegenüber den Frauen und deren Bedeutung

2) Berkeley: Intelligente, gebildete Frau. Bewandert in Psychologie, Phillosophie und ein absoluter Freigeist, welcher noch lange bevor das Wort Emanzipation ausgesprochen wurde, mit jeder Faser ihrer Selbst ihre Verwirklichung herbeigeführt hat.

Konflikt:
F.B. trifft auf Berkely

auflösung:
Berkely ist intelligent, dominiert die Situation in jeder Hinsicht. Sie beschimpft, demütigt und schlägt F.B.

F.B. ist schwul, dumm hat keinen Anstand und ist völlig unverdient auf seinen Platz gekommen. Zudem ist er so feige, dass er aufgrund der Demütigungen dazu übergeht, sein frauenfeindliches Werk nicht zu veröffentlichen.

Meine Schwierigkeit ist, dass Bacon für mich keine Authentizität mehr hat. Das kann ein X-Beliebiger Dummbeutel sein, aber doch kein Neubegründer aufklärerischen Gedankenguts. Mir erscheint es außerden unwahrscheinlich, dass jemand aufgrund der ihm angetanen Gewalt seine Verachtung aufgibt. Das wäre so, als würden die Amerikaner (oder meintewegen die Palästinenser, oder die Israelis oder die Iraker oder wer auch immer) nach einem Anschlag sagen: "Huch, ihr habt uns was zerbombt! Jetzt verstehen wir euch! Wir lenken ein." So lange ich Nachrichten sehe, ist mir das noch nicht vorgekommen. Ich denke, Menschen, die (aus ihrer Sicht) unverdient verletzt werden, tendieren eher dazu, ihren Hass zu verfestigen.

Wenn du magst, kannst du ja mal die verlängerte Version posten. Damit schrumpfen aber wahrscheinlich deine Chancen, von jemand anderem (kompetenterem?) kommentiert zu werden auf Molekülgröße. Du kannst es ja vielleicht mal per PM an mich senden.

Liebe Grüße,

Mihai

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke, Mihai,

das ist wohl wirklich das Problem mit der Geschichte. Die zentrale Szene müsste viiiel, viel länger sein, und ein wirkliches aha-Erlebnis, nicht bloß eine Art von Verstörung für FB hervorbringen.

Sein "Neu-Atlantis" war ja schon veröffentlicht, er hat bloß seine "zweite Philosophie" nicht mehr geschrieben. Tatsächlich ging es darin wohl um eine Ausweitung der naturwissenschaftlichen Methode, nur in meiner Geschichte wurde seine Methode auch auf die Geistes- und Humanwissenschaften ausgedehnt. Geschichten, in denen der "Siegeszug der Naturwissenschaften" (absichtlich in Anführungszeichen) nicht stattgefunden hat und in denen dennoch eine Art Neuzeit eingetreten ist, gibt es ja viele. Ich wollte nun eine Welt beschreiben, in der ein durch den Fortschritt der Geisteswissenschaften erreichter "paradiesischer" Zustand zurückgenommen wird, und das Resultat ist unsere Welt.

Als ich mit der Geschichte angefangen habe, wusste ich über FB auch nicht viel mehr als das, was bei Merchant und Capra zu finden ist, und das ist sehr negativ. Ein dämonisches, bösartiges Genie. Im Laufe der Recherchen fand ich aber heraus, dass es mit alledem nicht so weit her war; seine Ideen waren mehr oder minder Zeitgeist und auch schon von anderen formuliert worden, und besonders viel Dämonisches war an seiner Person wohl auch nicht dran. Genau wie Sigmund Freud wurde er auch deshalb viel gelesen, weil er ein hervorragender Stilist ist, dessen Texte zu lesen einfach Spaß macht - unabhängig vom Inhalt. Er mochte die Übermacht der antiken Philosophen nicht leiden und machte sich daran, sie zu demontieren. Er beschäftigte zeitweise bis zu 70 Pagen in seinem Haushalt - so eine Art Harem - und entging mehrmals nur knapp einer Anklage auf Päderastie, die andere Zeitgenossen den Kopf gekostet hatte. Irgendwie konnte ich ihn damit auch nicht mehr so demontieren; der Sockel war gar nicht mehr da, und ich hatte mich richtig mit ihm angefreundet.

Naja, die Geschichte müsste viel läger werden, jeweils Vorgeschichten der Prots enthalten, damit rückt die Rahmenhandlung mit dem Experiment noch mehr in den Hintergrund und wird vollends unmotiviert. Ich geb's auf. Vielleicht mache ich mich ja an eine Biographie der Theresa Berkeley - die geistigen Eigenschaften hat allerdings nur ihre fiktive Gehilfin. Th. B. war eher so eine Mischung von Wanda von Dunajew und einem Anlageberater.

Herzlichen Dank und Gruß,
Aleysha

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Aleysha,
Die SF-Anteile der Story sind, mit Verlaub, hirnrissig (so gibt es einen linearen Ablauf der Vergangenheit für die Zukunft eben nicht, d.h. jede Veränderung der Vergangenheit ist immer GLEICHZEITIG in der Zukunft ralisiert!!!).

Macht aber nichts, denn in Philo oder Erotik (wo die Story eher reingehört) wäre ich ihrer nie angesichtig geworden.
Und da meine Forderungen an die SF ja auch beinhalten, daß es was zu lernen geben darf, bin ich angetan von den Schnipseln und den Gesprächen. Auch das Bacon so schlecht wegkommt gefällt mir (mag ihn nicht).

Sehr hübsch geschrieben,jedoch ist bei den Dialogen immer das unterschwellige Gefühl zugegen, daß sich eine Person mit sich selbst unterhält (hier also: Personen müssen, durch Wortschatz, Satzbau, emotionale Färbung, etc. Unterscheidbarer sein)

Allerdings bestätigt der Text, dass Frauen eben den Männern nicht im Disskurs ebenbürtig sind (bin aber geneigt, die Autorin auszunehmen (*g*)), den der “Schinken” (ein Wortspiel das leider vergeben wurde) musste erst weichgeklopft werden, ehe er kapitulierte. (Das ist eine logische Schwäche, denn weshalb sollte Bacon seine Ansichten ändern, als die Frauen ihn vermöbelt hatten).
Alles in Allem: Habe mich unterhalten gefühlt, teilweise amüsiert (vielleicht, weil es eben keine SF ist - bin trotzdem gegen ein Verschieben).

LG
Proxi

PS: Ich hätte Schpenhauer (vgl. “Über die Weiber”) und Alice Schwartzer als Prots zusammengebracht. Schon vor dem Hintergrund, daß der Name Berkeley in der Philospohie durch einen irischen Bischoff mehr als besetzt ist!
PPS: Falls Du die laengere Version hier irgendwo reinstellst gib mir bitte Bescheid.
Nachtrag: Meiner Erfahrung nach gehen viele Nicht-Deutsch-Muttersprachler viel besser, weil vorsichtiger, mit der deutschen Sprache um. Ihnen sinsd naemlich die Fallstricke, die das Deutsche so an sich hat viel gewaertiger (siehe auch M. Twain "die schreckliche deutsche Sprache")

 

Hallo, Proxi,

vielen Dank, es freut mich, wenn die Geschichte zumindest amüsant ist. Sie liegt bei mir gerade in einer Art virtueller Schublade, irgedwann werde ich die Dialoge noch mal überbürsten. Die Tatsache, dass alle Personen gleich reden, ist wohl leider nur zu wahr - bin beim Schreiben geschraubter und geschraubter geworden. Francis Bacon muss vielleicht ein bisschen 16. Jahrhundert-O-Ton verpasst bekommen und Theresa Berkeley ein paar Ausrutscher, die zeigen, dass sie nie zur Schule gegangen ist (und das müssen 19. Jh.-Ausrutscher sein - uff!). Danke nochmal für den Tipp.

An den SF-Anteilen werde ich nichts ändern, schließlich ist es ja eine Art von Zeitmaschinenstory, und da kann man es wohl nur falsch machen, oder? *gg*

Schopenhauer finde ich natürlich noch viel markanter als Bacon, und mag ihn viel weniger leiden, aber er und Alice Schwarzer sind zeitlich zu nah, da würde ich mich nicht trauen. Außerdem finde ich Alice Schwarzer gar nicht sooo übel...

Gruß, Aleysha

 

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