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Fünf Wochen
Sie ist betrunken, als sie die Bar in den frühen Morgenstunden verlassen. Diesmal bringt er sie nach Hause, nach oben, ins Bett. Alles an ihm ist so vertraut, sein Geruch, seine Haut, seine Bewegungen ...
Getrennt hatte er sich bereits vor Jahren. Seitdem kam und ging er als Freund. Sie verbrachte viel Zeit mit Warten. Auf ihn oder ein Ende.
… seine Mimik kurz vor dem Höhepunkt. Alles scheint wie damals und doch ist da - nichts. Keine Ameisenarmee, kein Feuerwerk. Während er schläft, raucht sie die Zigarette danach. Ihr Verlangen löst sich in Luft auf und zieht durch die offenen Fenster in den Morgen.
Sie steht hinter der Wohnungstür und lauscht den Schritten im Treppenhaus. Er geht und es fühlt sich gut an. Aus dem Kühlschrank holt sie eine Flasche Sekt, aus der Kammer - Eimer und Putzlappen. Sie arbeitet sich vom Bad über das Schlafzimmer zum Wohnzimmer vor. Wie besessen putzt, saugt, wischt und wäscht sie. Ihr Chaos findet Platz in einem Müllbeutel und acht Litern Wischwasser.
Immer wieder schiebt sie den kleinen Pfeil über den Link, hinter welchem sich die Bilder ihres Ferienhauses verbergen. Es ist eine Frage von Minuten, bis sie das Telefon in ihr Großstadt-Großraumbüro zurückholt. Sie hat zu arbeiten, diese Woche noch.
Ihr Haus ist das letzte an der Straße, welche durch das kleine Dorf führt. Wenige Häuser, umgeben von Wald.
Innen ist es still und hell und sauber. Ja, beinahe steril. Sie streift die Sandalen ab und geht barfuß in den Garten. Die Grashalme erzeugen ein angenehmes Kribbeln, während ihr Fuß leicht über deren Spitzen streift.
Im Haus breitet sie großzügig ihre Sachen aus, schafft absichtlich etwas Unordnung. Mit einem Roman und einer Tasse Kaffee setzt sie sich auf die Terrasse. Für einen kurzen Augenblick genießt sie die Wärme der Sonne auf ihrer Haut, schließt die Augen und überlegt, was sie noch tun müsse. Alles, woran sie denken kann, bewegt sich um die Frage, was noch zu erledigen sei. Ihr fällt nichts ein, es ist alles getan. Für heute und für die nächsten vier Wochen.
Sie schlägt das Buch auf, die Wörter rauschen Zeile für Zeile an ihr vorbei, aber sie ergeben keinen Sinn. Am Ende der ersten Seite beginnt sie von vorn. Nach dem dritten Versuch gibt sie auf.
In der Nacht kann sie nicht schlafen. Sie lauscht in die Stille, wartet auf ein Geräusch – ein Auto, das Bellen eines Hundes, auf irgendwas, auf irgendwen. Erst im Morgengrauen, mit dem einsetzenden Zwitschern der Vögel, kommt sie zur Ruhe.
So sehr sie sich auch an diesem Nachmittag bemüht, es gelingt ihr nicht, den Zeilen von Uwe Johnson zu folgen. Vielleicht sollte sie es mit Maeve Binchy versuchen. Maeve würde es ihr leichter machen.
Als der Abend anbricht, zieht sie ihre Turnschuhe an und beginnt zu laufen, bis das Seitenstechen so heftig ist, dass sie aufhören muss. Sie ringt nach Luft, spürt den Schmerz, das wilde Schlagen ihres Herzens und den klebrigen Schweiß auf der Haut. Sie ist kraftlos, aber glücklich. Erschöpfung und Rotwein lassen sie in dieser Nacht tief und fest schlafen.
Die folgenden Tage vergehen im gleichbleibenden Rhythmus. Sie enden, wie sie begonnen haben.
Wenn sie nicht gerade liest, ist sie in der Küche beschäftigt, entzieht sich der Mittagssonne durch Spaziergänge im Schatten des Waldes oder besorgt im Dorf Nachschub für den Kühlschrank.
Anfangs erschien ihr dieser Weg noch lästig. Sie hatte befürchtet, dass die Bewohner ihr durch Neugierde zu nahe kommen, sie wie einen Eindringling beobachten würden. Aber diese grüßten stets nur freundlich und dafür ist sie ihnen dankbar.
Auch der Einkauf bei der alten Dame im Bäcker vollzieht sich stets nach dem gleichen Muster.
„Ich hätte gern ein Halbes von dem Kleinen dort.“
„Ein halbes Schrotbrot?“
„Ja.“
Dann packt die Alte es umständlich lange ein. Zeit, die ihr zu Beginn wie eine Ewigkeit vorkam, aber inzwischen hat sie sich daran gewöhnt.
„Ein Euro vierzig, bitte.“
Sie zahlt, nimmt das Brot und wünscht noch einen angenehmen Tag.
„Ihnen auch“, hört sie, immer wenn sie den Laden verlässt.
Heute jedoch sagt die Alte, während sie das Brot dreimal in Papier einschlägt,
„Siehst dünne aus, Kindchen“. Dieser Satz stellt sie vor ein Rätsel, aber die Alte scheint nicht gewillt, einen weiteren Satz anzufügen.
Später, im Haus, muss sie schmunzeln. Wie hat sie es nur geschafft, unbemerkt eine Streuselschnecke zwischen den Papierlagen unterzubringen? Sie ist nicht dünn. Sie hat Übergewicht. Nicht viel, aber genug, um die Waage im Badezimmer zu meiden.
Die abendlichen Runden im Wald tun ihr gut. Nicht nur körperlich. Sie vermisst nichts und niemanden.
In der Nacht zieht ein ordentliches Gewitter auf. Es riecht herrlich am Morgen. Mit der ersten Tasse Kaffee genießt sie die frische Luft. Es ist kühler als an den vorherigen Tagen, fröstelnd geht sie zurück ins Haus.
In der Küche klingelt das Handy. Nicht jetzt! Der Morgen und der erste Kaffee gehören nur ihr. Es ist Zeit für Johnson.
Wieder das Telefon. Sie hat keine Zeit, der Roman lässt sie nicht gehen. Später zwingt sie der Hunger in die Küche. Das Display zeigt nun drei Anrufe in Abwesenheit. Einen hat sie wohl überhört. Alle aus der Firma, aber es war nicht ihr Büro. Nein, diesmal nicht!
Nach dem alltäglichen Spaziergang im Wald ist sie heute ungewohnt müde. Erst spät am Nachmittag wird sie, durch das Trommeln der Regentropfen am Fenster, geweckt. Noch nie zuvor hat sie hier einen Nachmittag verschlafen. Eine SMS bittet um dringenden Rückruf.
Die Hände zittern bei dem Versuch, eine Zigarette anzuzünden. In ihrem Kopf herrscht Chaos. Keine klaren Gedanken. In einer Woche soll sie sich entschieden haben.
In großen Buchstaben schreibt sie IRLAND auf ein Blatt, darunter teilt sie es in zwei Spalten, pro und contra.
Alles, was ihr durch den Kopf geht, ordnet sie der einen oder anderen Seite zu. Es ist nicht immer einfach zu entscheiden, ob etwas nun dafür oder dagegen spricht. Nach einer halben Stunde schaut sie auf das vollgeschriebene Blatt. Denke rational! Alle emotional gefärbten Bedenken werden gestrichen, unterm Strich bleibt nicht viel. Sie überträgt die wenigen Stichpunkte auf ein neues Blatt und pinnt es an den Kühlschrank. Noch ist Zeit.
Ihr Chef will sie für diesen Job in Irland. Eine Streuselschnecke zur Feier des Tages. Sie wird nur eine Streuselschnecke kaufen, kein Brot. Die Alte wird verstehen. Beim Bäcker steht ein junges Mädchen am Tresen. Die Alte ist nicht zu sehen. Sie kauft ein halbes Schrotbrot.
Auch am nächsten und übernächsten Tag kann sie die Alte durch die Fenster der Bäckerei nicht erspähen. Sie will nicht fragen. Es ist gewiss nichts passiert. Sicher ist sie okay. Sie zwingt sich zu diesem Gedanken. Sie will, dass es ihr gut geht.
Erst an ihrem vorletzten Urlaubstag ist sie wieder im Geschäft. Obwohl sie diesmal wegen eines Brotes kommt, kauft sie eine Streuselschnecke. Nur eine Streuselschnecke.
Die Alte schmunzelt: „Siehst gut aus, Kindchen.“
Zurück im Haus nimmt sie die Pro-Contra-Irlandliste vom Kühlschrank und setzt sich auf die Terrasse. Es ist nicht viel dazugekommen. Genau genommen nichts. Die rationale Sicht der Dinge hat einen eindeutigen Pro-Überhang erschaffen. Die Vorstellung, das zweijährige Projekt in Irland zu betreuen, gefällt ihr. Es schmeichelt ihrem Selbstbewusstsein. Ja, sie wird im Herbst nach Irland fliegen.
Trotz der Vorfreude fällt ihr der Gedanke, dieses Haus und den Garten zu verlassen, nicht leicht. Sie hat sich sehr wohl gefühlt, es geht ihr gut.
Am letzten Morgen sitzt sie in der Küche, nicht wie sonst draußen auf der Terrasse. Im Haus ist es wieder alles steril. Sie wird bald fahren, es ist Zeit, ins Bad zu gehen.
Sie hatte gedacht, sie ist ihn los, hatte ihn gehen lassen, ohne zu denken, komm wieder, bleib hier. Neununddreißig, sie muss sich entscheiden. Mit zittriger Hand ergänzt sie auf der Liste – schwanger.