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Gartenkrank

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10.12.2002
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Gartenkrank

"Es ist ein Samstag im Juni, morgens um zehn. Schleiche die Treppe runter und öffne sachte die Haustür. Kurzer Blick zum Nachbarn und über die Straße gespäht, die Luft ist rein. Flink und lautlos über den Hof getrippelt, das Auto ist nah. Schon hab' ich den Schlüssel in der Hand und ein triumphales Grinsen im Gesicht, als eine knarzige Stimme die warme Morgenluft durchschneidet und mich zur Requisite erstarren läßt:

„Morgäään!“

Ich wußte es: der Feind war feige und schiß auf die Ehre, außerdem auf die Tageszeit. Aus dem Rücken hatte er sich angeschlichen, stets auf der Lauer, immer am Wuseln. Mit roboterhaften Bewegungen schob ich den Schlüssel wieder in die Tasche und knirschte mit den Zähnen. Leise knurrend drehte ich mich auf dem Absatz um und stellte mich der Gefahr. Frau Wiedameier! Ich hätte es mir denken können, sie schlief nie. Die Schleifspuren im Mutterboden erzählten den Rest: sie hatte versteckt im Beet gelegen, gut getarnt mit ein paar Farnwedeln. Jetzt stand sie vor mir: grüne Gummistiefel, grüne Latzhose, grünes Käppi, graue zweiundsechzig. Ihre Augen waren schmale Schlitze, die mich taxierten, ihre runzelige Stirn glänzte vor Schweiß. Ich legte mir meine Lieblingsausflüchte zurecht, der VHS-Rhetorikkurs würde jetzt Früchte tragen. Der Angriff begann mit dem üblichen Vorgeplänkel:

„Herrliches Wetter wird das heute! Der Sommer kommt jetzt so richtig, meinen Sie nicht auch...?“

Konzentriert lässig lehnte ich mich gegen die Autotür. Das war leicht.

„Schön wär’s ja. Der Wetterbericht erzählt was von Gewittern. Spätestens heut‘ nachmittag soll’s losgehen.“

Den Einwand winkte sie wie eine Mücke mit ihrer sehnigen, tief gebräunten Hand ab.

„Ach was! Meine Knochen wissen mehr als die Wetterfee, ist doch keine Wolke zu seh’n, oder?" Sie blinzelte und kam noch näher, ihr erdiger Schweißgeruch stieg mir in die Nase.

„Woher woll’n Sie das überhaupt wissen, hm? Wer erzählt’n sowas?“

Ich zuckte die Schultern und grinste schamlos. Hatte ich nicht Wetterbericht gesagt? Wohl Alzheimer oder was? Nun ja, mal seh’n, was sie mit Umweltgelaber anfing.

„Die globale Klimaerwärmung, ich sag’s Ihnen. Jetzt Sonne, gleich Sturmregen, später Frost. Statt Harken ist nachher vielleicht Schneeschippen angesagt, wer weiß?“

Jetzt grinste sie und entblößte dabei ihr nikotingelbes Kunstgebiß. Bestimmt knabberte sie heimlich an Ihren Lebensbäumen.

„Na dann wär’s doch schade, das gute Wetter zu vertrödeln, oder? Jetzt ist genau die Zeit, um den Garten zu machen. Das Beet’n bißchen saubermachen, hier und da was zupfen. Nötig wär’s ja...“

Sie blickte demonstrativ auf das kleine Beet vor unserem Haus, das sich in jungfräulicher Urnatur präsentierte. Mein Puls fing an, fremdzugehen, meine Hände zitterten. So dreist war sie das ganze Frühjahr nicht gewesen! Ich atmete schwer und stellte mir plötzlich vor, ihren faltigen Putenhals mit beiden Händen zu packen und sie zum Beet zu zerren. Ich würde ZUPF DIES! und RUPF DAS! brüllen und dabei ihre krumme Nase als Harke benutzen. Leider verblaßte der schöne Traum sehr schnell und ich gab ihr stattdessen die Rücken-Antwort.

„Jaaa schon. Aber nach dem dritten Bandscheibenvorfall wird man vorsichtiger, das können Sie mir glauben. Vier Wochen auf Krücken sind kein Zuckerschlecken, da will man nichts riskieren.“ Geschickt ein Seufzen eingespielt. „Bücken und Tragen sind echt die Hölle.“

Sie sah mich mißtrauisch von der Seite an, konnten diese Augen wirklich noch kleiner werden?

„Ja,“ warf ich schnell hinterher, bevor sie die nächste Waffe zog, „ist alles ein echtes Elend. Muß jetzt aber wirklich los!“

Sprach’s, drehte mich um, schloß auf und stieg in den Wagen. Sollte sie doch in der Sonne verblöden. Aber sie gab sich noch nicht geschlagen.

„Und die junge Dame unten? Die scheint mir ganz gesund! Ist doch eine Schande!“

Ich kurbelte das Seitenfenster runter und antwortete leichthin:

„Da müssen Sie sie schon selbst fragen, wir leben schließlich nicht zusammen. Bis denn!“

Während ich rückwärts rausfuhr, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, dass meine Hände immer noch unkontrolliert zuckten und partout nach links einschlagen wollten, wo die Alte noch kackfrech auf unserm Hof stand und mir hinterherblitzte. Trotz allem schaffte ich es, an ihr vorbeizukommen und begab mich zum Supermarkt. Unterwegs schmiß ich Metallica in den Player, was mir half, den galoppierenden Blutdruck wieder einzufangen. Das hatte man davon, wenn man sich einmal am Wochenende aus dem Bett quälte, um versäumte Besorgungen zu machen! Seit fünf Jahren wohnte ich jetzt im ersten Stock der Doppelhaushälfte, und jeden Sommer spielte ich mit meinen Nachbarn das gleiche Spiel: Ja oder Nö? Würde das fauler Mieterpack der Nummer 22 sich dazu herablassen, es dem Garten zu besorgen? So groß war das Beet doch nun wirklich nicht! Und jedes Jahr zeigten meine nette Bekannte, die unter mir wohnte, und ich ihnen unsere Sitzflächen als Antwort. Nicht mit uns! Grünzeug konnten wir gerade noch in der Suppe oder auf der Pizza ertragen. Das Schlimme war nur, dass die Gartenzombies von Jahr zu Jahr penetranter wurden. Gab's anfangs nur angedeutete Ermahnungen, standen sie heuer schon mit steinernen Mienen auf ihren Höfen, weiße Knöchel um blitzende Rechen gekrallt. Wir waren die Schande, das einzige Unkraut in dieser Straße, das sich nicht durch Chemie beseitigen ließ. Sie sehen also, wir lebten auf einem Pulverfaß, und ich stand fröhlich pfeifend beim Bäcker und wartete auf mein halbes Mehrkornbrot.

Nachdem ich die üblichen Alkoholika und Tiefkühlgerichte im Kofferraum verstaut hatte und ich mich auf dem Heimweg befand, machte ich mir so meine Gedanken über unsere Nachbarschaft. Glauben sie nicht, ich hätte kein Verständnis für die überwiegend betagte Clique! Woran soll man sich denn auch halten, wenn einen der Chef nach fündundvierzig Jahren mit einem feuchten Händedruck nach Hause schickt? Den ganzen Tag in der muffigen Bude hängen und Wettschweigen mit seinem Partner spielen, den man jetzt PAUSENLOS ertragen muß? Dann doch lieber zu Mutter Natur flüchten und mit den Hortensien von oben reden, so lange man noch Zeit hatte. So weit, so gut, aber mußte man deshalb auch rechtschaffene Faulenzer zu dieser Religion bekehren? Zumal wir noch für deren Renten und Pensionen buckelten. Allmählich platzte selbst mir als Phlegmatiker der Kragen und ich beschloß, den Kriegsrat einzuberufen.

Als ich in unsere Straße einbog, ahnte ich schon, daß sich da was zusammenbraute. Auf dem Hof meines Nachbarn zur Linken, den ich noch als gemäßigten Grünanarchisten bezeichnete, standen die Härtesten, anscheinend mitten in einer Diskussion. Da war der fette Laurenz, walroßähnlich in verschwitzer grauer Latzhose, die er anscheinend nie auszog. Wie immer wurde er von seiner pummeligen, biestigen Frau getrieben, die sich aber noch locker hinter seinem faßartigen Körper verstecken konnte. Dann "General" Schmitz, ein pensionierter Oberst, der seine knochige Figur kerzengerade hielt und klar das Regiment führte. Seine silberne Brille funkelte im Sonnenlicht, als sein Kopf vogelartig herumfuhr, um mich bei der Einfahrt auf den Hof zu beobachten. Gleich daneben stand der "Schleicher", ebenfalls ein Rentner, gebückt mit Stock und Halbglatze. Von ihm hieß es, daß er nachts schlafwandelnd durch die Gärten schlich, sicher war er aber das größte Klatschmaul weit und breit. Mittendrin sah ich die Wiedameier, die wild gestikulierend und mit schriller Stimme irgendeine Story zum Besten gab. Mein Nachbar selbst schien in ihren Bann gezogen worden zu sein, denn er klopfte trotz seiner fast achtzig Jahre rythmisch mit einer dreizackigen Harke aufs Pflaster, was wohl Zustimmung ausdrücken sollte.

Ich versuchte, diese merkwürdige Gesellschaft zu ignorieren, stieg aus und ging ins Haus. Dann klingelte ich bei Tine, um mit ihr eine Gegenoffensive auszuarbeiten. Wir mußten endlich reagieren! Sie öffnete im Bademantel und sah aus, als wär' mit Schlaf nicht viel gewesen.

"Hi Frank! So früh schon auf? Komm' rein, ist noch Kaffee da."

Sie schleppte mich ins Wohnzimmer und wir setzten uns an den Eßtisch. Dann erzählte Tine mir von ihrer gestrigen Party, während ich in meiner Tasse rührte. Mittendrin hörte sie abrupt auf und sah mich scharf an.

"Was gibt's bei dir denn Schlimmes? Erzähl' mal, was los ist. Ich kenn' dich doch."

Womit sie wohl recht hatte, wir kannten uns schon fast zehn Jahre. Also begann ich mit dem Wiedameier-Scharmützel, garnierte dies mit ein paar Rachegedanken, die ich schon länger hegte, und endete mit dem hirnverbrannten Clan an der Straße. Tine schien das nicht zu beeindrucken, sie grinste immer breiter und ihre blauen Augen blitzten.

"Echt wahr? Die steh'n da rum und schmieden Pläne gegen uns? Das muß ich seh'n!"

Wir gingen in ihr Schlafzimmer, strategisch eine ausgezeichnete Wahl. Vom Fenster aus hatte man einen guten Blick auf das Grundstück des Nachbarn. Um uns nicht bemerkbar zu machen, starrten wir durch die Gardine, sie waren noch da.

"Was machen die denn da, die rühr'n sich ja gar nicht. Haben die 'n Schaden, oder was? Irgendwie unheimlich..." sagte Tine aufgeregt.

Ich machte nur "Hm" und versuchte zu ergründen, was in die Gang gefahren sein mochte. Sie schienen nicht mehr zu kommunizieren und standen sinnlos in der Gegend herum. Mir wurde mulmig zumute, irgendwas stimmte da ganz eindeutig nicht.

"Vielleicht sollten wir mal rausgehen und kucken, ob die noch leben?" fragte ich. "Bei der Gelegenheit können wir ihnen gleich noch begreiflich machen, sich aus unserm Kram rauszuhalten."

Tine kaute an ihrem Daumen und starrte grübelnd auf den Hof. "Irgendwas gefällt mir nicht an der Idee, komme aber nicht drauf, was das sein könnte."

Ich mußte lachen, konnte meine eigene Nervosität aber nicht ganz verhehlen. "Glaubst du, die Heckenficker lassen uns ihre Werkzeuge schmecken und entsorgen uns dann über den Komposthaufen? Wär' vielleicht nicht der schlechteste Abgang, so zollen wir Mutter Natur am Ende doch noch den nötigen Tribut. Aber im Ernst: die tun doch keinem Regenwurm was! Außer Gelaber bringen die nichts zustande. In einem anderen Leben sind sie vielleicht sogar erträglich..."

"Okay okay!" winkte sie ab, "hast ja recht. Ich glaub', die Hitze fördert meine Neigung zur Paranoia. Also los."

Während ich zurück ins Wohnzimmer schlurfte, zog Tine sich um und machte sich frisch für unseren Auftritt. Eine Weile später standen wir wie blöd vor der Haustür.

"Was jetzt?", fragte ich. "Sollen wir Grashalme ziehen, wer zuerst geht, oder was?"

Tine prustete. "Du gehst vor, als Mann des Hauses. Das unten wohnende Weib folgt dir willig."

Dem konnte ich nichts entgegensetzen, zog die Tür auf und hielt inne.

George Romero hätte die Szene, die sich uns bot, nicht besser ausarbeiten können: Die Nachbarschaft hatte sich auf unserem Hof verteilt und stand reglos in der grellen Mittagssonne. Ich beschattete die Augen mit einer Hand und zählte die Feinde. Die "fürchterlichen Vier" hatten es tatsächlich geschafft, meinen linken Nachbarn auf ihre Seite zu ziehen. Außerdem lauerten an der Straße noch zwei weitere, die ich nur flüchtig kannte. Zahlenmäßig sah es also schlecht für uns aus und soweit ich erkennen konnte, führten zumindest drei von ihnen diverses Gartengerät spazieren. Alle blickten in unsere Richtung, schienen dabei aber keinen bestimmten Punkt zu fixieren.

Tine stand hinter mir und flüsterte nervös: "Was wollen die bloß? Erinnert mich irgendwie an Hexenjagd, dabei hab' ich nicht mal 'ne Katze..."

An anderer Stelle hätte ich vielleicht gelacht, aber selbst ein Autist hätte die bedrohliche Stimmung bemerkt, die sich immer mehr verdichtete. Das unnatürliche Schweigen und die seltsame Formation zerrten an meinen Nerven. Meine Instinkte schrien mich an, die Tür wieder zu schließen, aber die Vernunft beharrte darauf, dass hier nicht ein Teil der Zombie-Reihe real verfilmt wurde. Das war einfach lächerlich, jeder Konflikt ließ sich doch ohne solch ein Szenario lösen! Ich versuchte, mich zu entspannen und schritt steif die drei Stufen der Eingangsür hinab. Tine blieb erst unentschlossen stehen, dann folgte sie zaghaft. Der General stand natürlich in vorderster Front, ich trat ihm entgegen.

"Morgen. Ähm... können wir vielleicht was für euch tun?"

Null Reaktion. Ich räusperte mich und versuchte, irgend etwas aus seinem Gesicht abzulesen, aber er hatte die gleißende Sonne direkt im Rücken und ließ nicht erkennen, ob er mich überhaupt gehört hatte. Tine hatte genauso viel Erfolg, als sie die Frau des fetten Laurenz ansprach, die sich schräg hinter Schmitz postierte. Na schön, neuer Versuch. Vielleicht waren seine Ohren doch nicht mehr so fit, wie sich der Alte sonst präsentierte.

"Wenn's um den Garten geht...," sagte ich lauter, damit es auch die anderen hörten. "Es ist schön, dass ihr euch darum Gedanken macht, aber das bleibt unsere Sache. Uns gefällt der Wildwuchs nämlich, außerdem haben wir zwei linke Daumen, die beide nicht sehr grün sind. Ihr seht also, kein Grund hier rumzusteh'n, klar?"

Ich hatte mich so richtig schön in Wut geredet, nur mit dem gleichen Erfolg. Die Salzsäulen-Truppe hielt still ihre Position. Genauso gut konnte man mit dem Rhododendron diskutieren, das führte zu nichts. Mit einem leisen "Ach, leckt mich doch!" drehte ich mich um und wollte den Schauplatz verlassen, als der General sagte:

"Los!"

Seit dem Tag verfolgt mich dieses eine Wort bis in die Träume. Die heisere, leicht zischelnde Stimme verursacht mir noch heute eine Gänsehaut. Zuerst war ich jedoch nur überrascht und blieb stehen. Was meinte der Kerl damit, war das der Befehl für den Rückzug? Jemand sollte dem General mal die drei Gehirnzellen in die richtige Position schütteln und ihm klar machen, dass er pensioniert war. Ich sah mich also noch einmal um, und dann ging alles sehr schnell. Plötzlich kam Bewegung in den Verein, die hinteren Reihen kamen auf mich zu, während ich aus dem Augenwinkel bemerkte, wie Tine in ein Handgemenge mit der dicken Laurenz geriet, die Wiedameier stakste ebenfalls herbei. Nur Schmitz blieb stehen, seine Habichtaugen ruhten auf mir. Anfangs konnte ich das Ganze nicht so schnell verarbeiten, bis sich der Fluchtinstinkt durchsetzte und mich in Richtung unseres hinteren Gartens sprinten ließ. Leider hatte Schmitz dies einkalkuliert, denn hinter der braunen Tonne lauerte der kräftige Sohn des Schleichers. Ich rannte ihm direkt in die Arme. Er schwang etwas in den Händen, das wie ein schwarzer Sack aussah, wahrscheinlich gefüllt mit Bodendeckern oder schlimmerem. Verzweifelt wollte ich ihm noch ausweichen, aber er versperrte mir trotz des schwer wirkenden Sackes geschickt den Weg. Anschließend weiß ich nur noch, wie dieser schwarze Sack immer größer wurde, dann wurde alles schwarz."

"Was passierte dann?"

"Mmmh... ich bin am nächsten Morgen ganz normal in meinem Bett aufgewacht. Fühlte mich aber irgendwie seltsam."

"Inwiefern?"

"Na ja, irgendwas hatte sich geändert, und zwar total. Da wußte ich aber noch nicht genau, was."

"Und ihre Nachbarin?"

"Bei ihr war's genau das Gleiche! Ich bin nachher zu ihr runter, und da wußten wir sofort Bescheid. Wir haben dann am selben Tag noch angefangen."

"Gut, sehr gut. Das ist alles, was wir für heute wissen müssen. Ich werde jetzt langsam von Zehn beginnend rückwärts zählen. Bei Null werden Sie aufwachen und alles vergessen, was Sie mir heute erzählt haben. Haben Sie das verstanden?"

"Ja, sicher."

"Gut. Also... zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, null!"

Ich wachte abrupt auf und war für einen Moment orientierungslos. Dann merkte ich, dass ich in einem bequemen Liegesessel lag und wußte, die erste Sitzung war vorbei. Professor Gantenbrink saß rechts neben mir auf einem Bürostuhl und machte sich Notizen. Ich war gespannt auf seine erste Analyse, denn der Psychologe hatte einen Ruf als Koryphäe auf dem Gebiet der Hypnose. Seitdem mein Alptraum immer häufiger auftrat, hatte ich in meiner Verzweiflung schon meinen Hausarzt und einen Psychotherapeuten verschlissen, ehe ich durch meinen Nachbarn von Gantenbrink hörte.

"Also Doktor. Ich hoffe, Sie konnten schon etwas Licht in mein Unterbewußtsein bringen, sonst weiß ich nicht mehr weiter."

Der Professor sah auf und strahlte mich an. Ich schätzte ihn auf Mitte Vierzig, drahtig, gebräunt, ein Siegertyp.

"Na so schnell wird man doch nicht die Hoffnung aufgeben, hm?" Er klappte sein Notizbuch zu, stand auf und ging zu seinem mächtigen, wertvoll aussehenden Schreibtisch. "Den Grund für Ihren wiederkehrenden Alptraum, der durchaus nicht ungewöhnlich ist, habe ich schon ansatzweise erkennen können." Gantenbrink ließ sich schwer in den Chefsessel fallen. "Zur genauen Lokalisierung und anschließenden Aufarbeitung der Problemstrukturen werden wir aber noch einige Sitzungen benötigen. Ziemlich sicher bin ich mir aber darin, dass die Ursachen nicht in der jüngsten Vergangenheit, sondern wahrscheinlich in Ihrer Kindheit zu finden sind."

Mir fielen einige Betonklötze vom Herzen, das war das Positivste seit langem. Seine Vorgänger hatten mich nur mit hohlen Phrasen gefüttert und hingehalten nach dem Motto "ja, ja... das wird sich schon geben blah blah." Ich stand auf und zog mein Hemd in die richtige Form. Irgendwie fühlte ich mich trotz der vorangegangenen Trance frisch und ausgeruht und hätte Bäume ausreißen können, und etwas in der Richtung hatte ich auch vor.

"Das klingt ja wunderbar, Herr Professor. Also machen wir einen neuen Termin, vielleicht nächste Woche?"

"Ja natürlich. Meine Assistentin wird gleich mit Ihnen einen neuen Termin vereinbaren. Aber ich wollte Sie noch auf etwas anderes ansprechen..."

"Könnte das vielleicht warten, Herr Professor? Sie wissen ja, es ist schon ziemlich spät. Wollte mit meiner Nachbarin noch in den Garten, bevor's dunkel wird. Es ist unglaublich, aber schon nach DREI Tagen sieht's da immer aus wie Kraut und Rüben. Heute schliessen wir die neue Hauswasserpumpe an und dann geht's dabei!" sagte ich und grinste wie ein Honigkuchenpferd.

Gantenbrink lächelte milde. "Aber sicher, Herr Volkner, ich kann das voll verstehen. Bin nämlich selbst auch viel auf meinem Grundstück, und das ist nicht klein." Er hob den Zeigefinger. "Ich möchte Sie aber bitten, sich nicht zu überanstrengen. Das Wohl der Pflanzen darf nicht auf Kosten Ihrer Gesundheit gehen."

Mein Grinsen hielt an. "Schon klar, Herr Professor. Also dann: bis nächste Woche." Ich ging zur Tür des Sprechzimmers, dann fiel mir noch etwas ein und ich blieb stehen. "Ach, bevor ich's vergesse, Doktor: Willkommen in unserer Straße! Ein Nachbar hat mir erzählt, dass sie einziehen und Sie gleich empfohlen. Nur deshalb bin ich hier."

"Auf gute Nachbarschaft", sagte Gantenbrink immer noch lächelnd und nickte mir zu. "Jetzt machen Sie aber, dass Sie zu Ihrem Grünzeug kommen."

Ich ließ mich nicht zwei mal bitten, schloß die Tür und ging straks zur netten Sprechstundenhilfe.

Professor Gantenbrink blicke noch einen Moment auf die geschlossene Tür, durch die der junge, doch leicht verwirrte Mann gegangen war. Dann verschwand das Lächeln langsam aus seinem Gesicht und machte einer nachdenklichen Miene Platz. Mit der rechten Hand zog er die unterste der drei Schubladen auf und ließ den Inhalt kurz auf sich wirken. Vorsichtig griff er hinein und holte das Werkzeug heraus. Was für wunderbare Kleinode die Industrie heutzutage doch erschaffen konnte! Erst am Morgen hatte er es erworben und dann in den Schreibtisch gelegt, doch den ganzen Tag über nahm es stets einen Teil seiner Aufmerksamkeit für sich in Anspruch. Darauf wartend, dass er es benutzte. Im Licht der späten Sonne, die hinter ihm durchs Fenster schien, glänzte das schwarze Metall der Messer verführerisch, so neu und endgültig. Und wie leicht es war! Der Professor schwang die elekrische Heckenschere spielerisch mit einer Hand. Das Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück, dieser Augenblick war perfekt. Ja, es war Zeit. Volkner war der letzte Patient für heute, er würde Feierabend machen. Die Natur wartete, geduldig und teilnahmslos. Er würde kommen, denn es gab viel zu schneiden, so viel zu schneiden...

 

Hi Peterchen!
Die Länge deiner Geschichte hat mich zugegebenermaßen etwas ...ähm ... entmutigt, mich ranzuwagen. Aber glücklicherweise konnte ich meine Faulheit bekämpfen, denn es hat sich wirklich gelohnt! Nachbarschaftsstreitereien sind meiner Meinung nach eine der besten Themen für diese Rubrik und ich meine du hast deine Satire glänzend umgesetzt. Mir hats sehr gefallen! Auch sprachlich sehr gelungen und Lacher sind auf jeden Fall drin :D
Irgendwann hab ich angefangen mich zu fragen, wie du das Ganze zu Ende bringen willst- die Idee mit dem Traum und der Hypnose durch den Psychiater war cool. Es gefällt mir, wenn man vorher nicht genau weiß, wohin einen die Geschichte bringt...
Mehr davon!
Tracy ;)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Tracy,

vielen Dank für die nette Kritik! Merkwürdigerweise ist mir anfangs nie aufgefallen, wie lang die Story doch eigentlich ist. Erst nachdem ich sie zum ersten Mal gedruckt hatte und die ganzen Seiten sah. Trotzdem liest es sich hoffentlich recht flüssig.

Habe bis jetzt auch noch nicht viele fertige Sachen, obwohl mir schon einige Ideen im Kopf rumschwirren. Bin halt nicht der Fleissigste, aber bei dieser Story war der Antrieb sehr groß, da meine Nachbarschaft wirklich ziemlich nervt in der Hinsicht. Es steckt also schon mehr als ein Körnchen Wahrheit darin.

Grüne Grüße
Peter

 

Hi Peterchen,
die ungeheuerliche Realität, die in deiner Satire steckt, ist mir sofort aufgefallen.
Ganz besonders hat mir das Wort "Heckenficker" gefallen - es ist genauso nett wie das Wort "Gartennazi", das im Sommer 2002 durch die Bild- und andere Zeitungen gewabert ist.
Mich hat an deiner Geschichte die Länge überhaupt nicht gestört.
Grüße von Emma

 

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