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Geschichte eines Verräters (Mittelalter; ca. 1109)
Die in blanken Fels gehauenen Stufen waren feucht und rutschig vom morgendlichen Tau, als ich mich an jenem Sonntagmorgen zur Kapelle begab. Begleitet wurde ich lediglich von meinem Freund Lovald und einer handvoll Spießgesellen; ein tumber Haufen aus Räubern und Mördern, die für ein paar Münzen zu allem bereit waren. Damit sie nicht auffielen und als Leute meines Standes durchgingen, hatte ich sie notdürftig einkleiden lassen. Es missfiel mir, auf derartige Leute zurückgreifen zu müssen, aber meine Pläne erforderten ein Maß an Gewalt, zu dem ich mich selbst außerstande sah.
Als ich das untere Ende der Treppe erreichte und aus dem engen Schluchtgang trat, ließ ich meinen Blick über die Umgebung schweifen: Trotz des steilen Abstiegs, befanden wir uns immer noch an die zweihundert Meter über dem Dorf, das von dichten Tannenwäldern umgeben war. Über uns, von wo wir gekommen waren, ragten drohend die Kreidefelsen der Burg Guido-Fels, gegen den grauen Himmel auf. All mein Begehren richtete sich auf dieses Meisterstück der Baukunst. Der Berg selbst, machte einen Großteil der Festung aus - so brauchte es kaum Wehranlagen, denn die engen Schluchten, Gänge und Höhlen boten eine perfekte, natürliche Verteidigung. Keine hundert Meter Luftlinie entfernt floss die Seine in einer breiten Kurve um den Berg herum und die Straße Paris-Rouen, auf welcher einige Karren unterwegs waren, zwängte sich zwischen Wasser und Fels hindurch. Hierin lag der eigentliche Reichtum der Burg - wer sie kontrollierte, der kontrollierte auch die Handelswege.
Das Ziel unseres Ausflugs, die Kapelle, war ein unscheinbares steinernes Gebäude, das sich nach einer Seite an den Fels schmiegte. Eben dort, befand sich ein zweiter Eingang, der nur für den Burgherren angelegt war. Zu jener Zeit war das Guido von La Roche-Guyon.
Ich kann nicht einmal behaupten, dass ich eine persönliche Abneigung gegen ihn hegte, schließlich war ich sein Schwager und schon öfter zu Besuch gewesen - er stand nur schlicht zwischen mir und der Herrschaft über diese Burg. Verdacht schöpfte er keinen, seit einigen Wochen verweilte ich nun schon hier und hatte es geschafft sein Vertrauen zu gewinnen. Er betrachtete mich quasi als Berater.
Als wir eintraten waren kaum Besucher anwesend und Priester und Messdiener trafen letzte Vorbereitungen. Nachdem ich niedergekniet und mich bekreuzigt hatte, setzte ich mich in eine der hinteren Reihen, von wo ich alles gut im Blick hatte. Meine Begleiter nahmen, wie abgesprochen, direkt neben besagtem zweiten Eingang platz.
Dann begann das Warten. Ein schier endlos langes Warten, währenddessen sich meine Nervosität steigerte. Allmählich füllte sich die Kapelle mit einer bunten Mischung aus Bürgern, Adligen und einigen Bauern. Ich beachtete sie kaum, sondern war darum bemüht nicht aufzufallen, indem ich so tat, der Herrgott möge es mir verzeihen, als sei ich ins Gebet vertieft; tatsächlich aber, war mein Seelenheil das Letzte woran ich in diesem Moment denken konnte.
Schon schickte sich der Pater an mit der Messe zu beginnen, als endlich mit einem Quietschen die Eichentür aufschwang. Herein traten nacheinander, in kostbares Gewand gekleidet und erhofftermaßen waffenlos, der Burgherr Guido, seine Frau und seine beiden Söhne. Die versammelte Menge sah sich nach ihnen um und senkte das Haupt, nur Lovald blickte mich finster an. Für einen Moment zögerte ich, dann nickte ich ihm kurz zu und wandte mich sogleich ab.
Was daraufhin geschah, sah ich nicht. Ich hielt den Blick fest auf den Boden gerichtet – konnte einfach nicht zusehen.
Doch hören tat ich alles um so deutlicher: Schwerter glitten aus Scheiden und ihre Schreie, erst erschrocken, dann schmerzverzerrt, fuhren mir durch Mark und Bein. Es folgte ein allgemeines entsetztes Stimmengewirr, begleitet von dem Gepolter aufspringender Menschen. Erst als alles verstummt war, traute ich mich den Blick zu heben.
Bis auf Lovald und meine Schergen war die Kapelle leer. Die meisten Bänke lagen umgestoßen im Raum verteilt. Guidos Körper war blutüberströmt und an vielen Stellen durchbohrt worden. Sein Gesicht, verzerrt im Todeskampf, starrte mit trüben Augen an die Decke. Dem älteren Sohn fehlte ein Arm, vom Schwerthieb abgetrennt, als er versuchte sich zu schützen. Der Jüngere hatte es fast bis zum Ausgang geschafft, bevor er von hinten erdolcht wurde.
Und seine Frau... die lag stöhnend und sich unter Schmerzen krümmend neben ihrem Mann.
Mir wurde schlecht.
Ich hastete nach draußen, sog begierig die frische Luft ein und kam langsam wieder zur Besinnung. Da fragte Lovald, der mir gefolgt war:
"Geht es wieder?"
"Ja... alles klar. Mir war nur kurz etwas schwindelig."
"Das Schlimmste ist geschafft. Jetzt bist du der Fürst."
"Noch nicht ganz... was ist mit der Frau? Warum hat sie noch gelebt?"
"Nun ja, sie ist doch keine Gefahr und außerdem,... sie ist halt eine Frau, da haben die Männer gezögert."
"Ich glaub, ich hör nicht recht! Sie ist doch schon halb tot. Schafft sie sofort hier raus und bringt es zu Ende. Keine Überlebenden innerhalb der Familie, das hab ich euch doch klar gemacht. Ach, und wo ihr schon mal dabei seit: Köpft Guido und seine Söhne und spießt sie an der Burgmauer auf."
Lovald sah mich ungläubig an und sagte nichts.
"Worauf wartest du noch? Na los, das war ein Befehl."
Darauf ging er zurück in die Kapelle und ich wieder auf die Burg.
Von wegen das Schlimmste geschafft - Lovald war ein fähiger Kämpfer, aber von Politik verstand er absolut nichts. Alles Bisherige war lediglich Formsache gewesen, das Ränkespiel um die Macht hatte gerade erst begonnen. Eine Burg allein ist nichts, erst die Menschen die sie bemannen und versorgen, machen sie relevant. Worauf es jetzt ankam war, die ortsansässige Bevölkerung zu gewinnen und die Nachbarfürsten zu Allianzen zu überreden. Und, bei aller Bescheidenheit, das war ein Handwerk auf das ich mich verstand.
Erlernt habe ich es auf der Burg meines Vaters. Er war kein großer Mann, nein, Bewunderung brachte ich ihm nie entgegen. Das mag daran gelegen haben, dass er sich stets mit dem zufrieden gab, was Gott ihm zudachte. Nie sah ich ihn in Ehrgeiz glühen oder irgendwas riskieren. Freilich, das Volk liebte ihn für seine Milde, doch was konnte man sich davon schon kaufen? Sein Fürstentum und damit mein Erbe, ging in die Brüche und bald waren wir ein Adelshaus, das nur noch seinen Namen hatte. Eine verzweifelte Zweck-Heirat war der letzte Ausweg. Doch auch das schlug fehl. Die Frau, aus niederem Hause, die ich ehelichte, starb im Fieber und bald darauf folgte ihr mein Vater. So stand ich allein, ohne Geld und Land - aber ein Gutes hatte meine Heirat: Sie machte mich zum Schwager von besagtem Guido von La-Roche, den ich soeben aufs verächtlichste meucheln ließ. Ich bin nicht stolz drauf und werde sicher dafür zahlen müssen, doch ich hatte es endgültig satt auf mein Glück zu warten, wie es mein seliger Vater stets getan hatte.
In der Feste selbst war alles nach Plan verlaufen. Einen Großteil der Besatzung hatte ich während meines mehrwöchigen Aufenthalts nach und nach, mit der Aussicht auf Land und höheren Sold erkauft. Die wenigen Treuen, die fest zu Guido hielten, waren bereits in Ketten gelegt oder tot, als ich den steilen Aufstieg hinter mich gebracht hatte. Ich wurde von Belchant, dem ehemaligen Hauptmann Guidos, empfangen. Er war ein aufgesetzter Mensch, der seine Maske des Anstands sorgsam pflegte, darunter aber ein einfacher Söldner war. Dementsprechend wenig Anstrengung hatte es mich gekostet, ihm einen Machtsturz schmackhaft zu machen.
Er führte mich durch einige Felsgänge zu Guidos Gemächern, schloss die Tür auf und wies mir grinsend einzutreten.
Erst jetzt, als ich mich hinter den schweren Eichentisch auf den Herrschersessel sinken ließ, fühlte ich mich auf der sicheren Seite. Meine Finger strichen über die teuren Samt-Lehnen, als liebkosten sie meine neugewonnene Macht selbst. Ich genoss den Triumph in vollen Zügen, konnte ihn förmlich schmecken. Nur Belchant störte die Perfektion des Augenblicks, er stand mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor mir und hatte sein süffisantes Lächeln noch immer nicht abgelegt. Während ich begann einige Unterlagen auf dem Tisch durchzusehen, sprach ich wie beiläufig zu ihm:
"Wie viele Gefangene?"
"Dreizehn an der Zahl. Fünf wurden getötet als sie sich widersetzten, auf unserer Seite gab es keine Verluste."
"Sehr gut... das heißt wir haben so um die achtzig Mann als Besatzung?"
"dreiundachtzig"
"Na gut, das muss vorerst reichen. Ich wünsche eine genaue Auflistung aller Vorräte sowie Wert- und Waffenbestände der Burg."
"Wird erledigt, mein Fürst."
Belchant wand sich zu gehen, doch ich hielt ihn zurück.
"Und noch etwas, gebt Bier und Essen für alle Männer aus... und die Gefangenen werden gehängt."
Als keine Antwort kam, sah ich von meinen Unterlagen auf.
"Ist noch etwas Belchant?"
"Nun ja, mein Herr... die Gefangenen haben sich nicht widersetzt und einige von ihnen sind keine schlechten Soldaten, ich dachte man könnte sie vielleicht... na ja, zur Besinnung bringen."
"Und den Wolf in den Stall einladen? Mein lieber Belchant, Mitleid ist eine Eigenschaft, die ich an euch noch gar nicht kenne. Aber ich werde euch gern erklären, was ich bezwecke; ich brauche eine wirksame Abschreckung, um die ansässigen Bauern in Schach zu halten. Deshalb sollt ihr sie auch gut sichtbar, an exponierten Punkten aufknüpfen und dort hängen lassen, bis sich die Raben ihrer annehmen."
"Mit Verlaub, ich denke ihr werdet mit solchen Taten hauptsächlich den Zorn des Volkes auf euch ziehen."
"Blieben Hinrichtungen meine einzigen Aktionen, könntet ihr recht haben. Aber ich gedenke dem Pöbel im selben Atemzug großzügige Schenkungen und Versprechen zu machen. Ihr werdet schon sehen Belchant, Zuckerbrot und Peitsche sind eine mächtige Kombination. Und jetzt geht und führt meine Befehle aus."
Trotz Belchants offensichtlichen Zweifeln an meiner Vorgehensweise, tat er brav wie ich ihm geheißen hatte. Vor aller Augen wurden die Gefangenen gehängt und die Köpfe der ehemaligen Herren an der Mauer aufgespießt. Das Dorfvolk reagierte prompt, unorganisiert und durchschaubar, mit zögerlicher Zusammenrottung. Doch ich war vorbereitet. Schnell schickte ich Redner sowie bewaffnete Truppen und karrenweise Nahrung, Wein, Decken etc. ins Dorf. In Kombination mit den wildesten Anschuldigungen gegen Guido und seine Familie, tat dies seine Wirkung. Der Pöbel ist wankelmütig. Ebenso schnell wie er mich verdammt hatte, begann er mich zu lieben.
Die ersten Hürden waren gemeistert. Jetzt kam es auf die Reaktionen der Nachbarfürsten an. Ich sandte Lovald ins Fürstentum Vexin, um dort die Wogen zu glätten und Friedensangebote zu überbringen. Nach vier Tagen kehrte er zurück und betrat eilig mein Gemach.
"Wilhelm, ich fürchte ich habe schlechte Nachrichten!"
"Wieso, was ist geschehen?"
"Ein Heer, geführt von Adligen aus Vexin, folgt mir auf dem Fuß!"
"Was?! Wie konnten sie so schnell reagieren? Ist das ihre Antwort auf meine Anfragen?"
"Nein, sie haben mich kaum angehört und wussten schon lange vor meiner Ankunft von den Geschehnissen. Jemand aus dem Dorf muss uns verraten haben. Als ich eintraf sah ich schon allerlei Truppen, wurde misstrauisch und hörte mich um. Sie haben Angst, ihr würdet euch mit dem englischen König verbünden und haben deshalb beschlossen sofort zu reagieren und uns von allen Zufahrtswegen zu englischem Hoheitsgebiet abzuschneiden."
Diese Neuigkeiten verkomplizierten die Lage stark. Ich wusste wohl, dass der Vexiner Adel kaum ohne Genehmigung des französischen Königs so entschlossen vorgehen würde. Verloren war aber noch lange nichts. Sie würden an die zwölf Stunden brauchen, um her zu gelangen, genug Zeit also, um die Vorräte aufzustocken und sich auf eine Belagerung einzustellen. Die Burg war nahezu uneinnehmbar - selbst wenn ich zehn zu eins unterlegen sein mochte. Also schön, sollten sie kommen.
Und wie sie kamen. Es mochten um die sechshundert gewesen sein. Die Kernarmee bestand aus Bauernpack mit Keulen, Äxten und zumeist Pfeil und Bogen. Die adligen Vasallen kamen zu Pferd, doch von ihnen sah man nicht viel. Die meisten ritten weiter, um die Burg in Richtung des englischen Königs abzuriegeln. Mit einigen, im Dorf angeheuerten Söldnern, umfasste mein Heer vielleicht hundert Mann. Das war deutlich zuwenig für einen Ausfall, aber genug, um den Angreifern in den engen Steingängen empfindliche Verluste beibringen zu können. Das wusste auch der Gegner und so ließen sie sich nicht zu einem Sturmangriff hinreißen. Stattdessen wurden wir allmählich umzingelt, Zelte aufgeschlagen und sich auf eine längere Belagerung eingestellt. Soweit verlief alles unüberraschend. Schweres Kriegsgerät hatten die Belagerer nicht, es hätte gegen den Berg auch kaum etwas gebracht – man wollte uns aushungern.
An dieser Stelle wurde es interessant. Die Vorratskammern waren gut gefüllt und die burgeigene Zisterne versorgte uns mit Wasser. Ich schätzte, wir könnten gut und gern einige Monate auskommen, ohne wirklich in Bedrängnis zu geraten. Vielleicht konnte ich die Zeit als Druckmittel verwenden.
Es dauerte nicht lang, da kamen drei Reiter unter Parlamentärsflagge vor die Burg geritten und forderten Verhandlungen. Also ließ ich mich auf der Mauer über ihnen blicken und hörte mir an, was sie zu sagen hatten:
"Im Namen von Ludwig IV, König von Frankreich, fordern wir euch auf die Burg sofort kampflos zu übergeben."
"Ich hätte einen besseren Vorschlag: Ihr zieht mit euren Truppen ab und ich verpflichte mich Ludwig eidlich als Gefolgsmann."
Die Antwort kam prompt.
"Wir lehnen euer Gesuch ab. Ihr habt den rechtmäßigen Besitzer, Guido von La-Roche, ermordet und seid des Verrats schuldig. Ergebt euch und man wird eure Männer verschonen. Solltet ihr euch weigern, werden wir die Burg stürmen und niemanden am Leben lassen."
"Wen wollt ihr mit solchen leeren Drohungen beeindrucken? Hättet ihr genug Soldaten diese Festung zu stürmen, so wärt ihr jetzt nicht hier."
"Wir werden erst angreifen, wenn Hunger und Durst euch so geschwächt haben, dass ihr unfähig seid euer Schwert zu heben."
"Große Worte, wie lange gedenken die Herren von Vexin, denn mit einem ganzen Heer hier zu lagern? Ich für meinen Teil habe es nicht eilig und vielleicht sind andere Könige meinem Angebot ja aufgeschlossener?"
Bevor sie etwas zur Antwort geben konnten, drehte ich mich um und lies sie mit der Ungewissheit zurück, ob es mir nicht trotz der Blockade gelungen war, dem englischen König eine Nachricht zukommen zu lassen.
Nach wenigen Schritten hielt mich Lovald zurück.
"Wilhelm! Was sollte das gerade? Wenn die denken, das wir die Engländer um Hilfe gebeten haben, dann werden sie stürmen und auf ihre Verluste keinen Pfifferling geben. Oder schlimmer noch, sie werden Ludwig um Verstärkung bitten. Dann können wir auch gleich von der Mauer springen."
"Verlier jetzt nicht die Nerven, Lovald. Sie können nicht stürmen, sie sind zu wenige und die Zeit uns auszuhungern, oder Ludwigs Truppen zu rufen, haben sie auch nicht. Mach dir also keine Sorgen, sonst steckst du die Männer noch damit an. Wichtig ist jetzt, dass wir uns selbstsicher geben. Sie sollen Angst bekommen, dass die englischen Truppen schon auf dem Weg sein könnten... und mit der Zeit wird ihnen mein Angebot immer verlockender erscheinen. Verstanden?"
Lovald besann sich und ließ meinen Arm los. Ich klopfte ihm auf die Schulter und ging.
Natürlich, es war ein gewagtes Spiel, doch ich war mir sicher alles unter Kontrolle zu haben. Ein Irrtum, wie sich zwei Tage später herausstellen sollte. Auf einmal wuchsen die Truppen des Gegners sprunghaft an. Wie Pilze, schossen die bewaffneten Bauern aus dem Boden und verbündeten sich mit meinen Feinden. Eines nachts, im Schutz der Dunkelheit, gelang es mir einen Kundschafter in das feindliche Lager zu senden. In Lumpen getarnt, hörte er sich an den Feuern um und gelangte unbemerkt zurück in die Burg. Sofort ließ ich ihn zu mir kommen.
"Es freut mich euch unbeschadet zu sehen. Kommt, setzt euch und nehmt euch ein Glas Wein."
"Danke, Herr."
Nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte fuhr ich fort.
"Also, habt ihr rauskriegen können woher die ganzen Streitkräfte plötzlich kommen?"
"Ja, ich habe mich mit einigen Neuankömmlingen unterhalten und sie sagten mir, die Adligen aus Vexin würden in jedes Dorf der Umgebung gehen und jeden, der ein Schwert halten kann, zu den Waffen rufen."
"Und alle folgen ihnen ohne Weiteres?"
"Man sagte mir, sie hätten einen direkten Befehl von Ludwig bei sich, welcher euch, verzeiht mir, als gottlosen Verräter zum Tode verurteilt. Außerdem machen sie allen Angst mit der Aussicht auf einen Einfall der Engländer, sollte die Burg nicht schnell zu Fall gebracht werden."
"Verdammt! Sie wollen wohl lieber alle ansässigen Bauern opfern, anstatt mir die Burg zu überlassen. Na schön, aber ich glaube trotzdem nicht, dass sie besonders erpicht auf ein Blutbad sind. Wenn ich ihnen die Angst vor den Engländern nehme, werden sie vielleicht zu einem Kompromiss bereit sein."
Nun ja, so wurde mir meine Drohung letztlich zum Verhängnis. Hätte ich sie nicht gereizt, so wären wir kaum so schnell in Bedrängnis geraten. Auf jeden Fall war die Armee der Belagerer nun zu einer Masse angeschwollen, die es ihnen ermöglichen würde, die Feste im Sturm zu nehmen. Also spielte ich meine letzten Karten aus und ließ die Parlamentärsflagge hissen, als Zeichen, dass ich zu Gesprächen bereit war. Es dauerte auch nicht lange, da kamen die mir wohlbekannten Reiter vors Tor und ich begab mich auf die Mauer. Nicht ohne eine gewisse Genugtuung in der Stimme, begann einer von ihnen:
"Kein englischer König wird euch jetzt noch retten können, Wilhelm! Werdet ihr euch nun ergeben?"
Bemüht gelassen gab ich zur Antwort:
"Es wird kein englisches Heer kommen."
Daraufhin steckten die drei kurz die Köpfe zusammen. Dann fuhr einer fort:
"Das ändert nichts an eurer Lage und beantwortet nicht unsere Frage. Kapituliert oder sterbt!"
"Betrachten wir es doch mal nüchtern meine Herren. Ihr habt ein Heer, das groß genug ist uns zu besiegen. Dennoch, würde es kein Spaziergang werden - ich garantiere euch, dass mehr als die Hälfte eurer Männer fallen wird, solltet ihr versuchen hier einzudringen. Und wozu das alles? Der englische König wird nicht kommen, es tut also nicht Not, all das Blut zu vergießen. Ihr könntet warten, uns aushungern. Sicher, aber auch das wäre nicht ohne Folgen. Monat um Monat können meine Leute hier ausharren und abgesehen davon, dass der Winter für euch härter werden dürfte als für uns, wäre ein Großteil eures Militärs auf lange Zeit hier gebunden und eure Grenzen blieben unbewacht. Und wofür das alles? Um einen einzelnen Mann zu bestrafen? Noch dazu einen, der niemals eure Feindschaft gesucht hat?"
Eine kurze Stille trat ein. Die Männer auf ihren Rösser schauten sich an und berieten sich, schließlich sprach einer:
"Was ist euer Angebot?"
"Ich werde euch die Burg kampflos übergeben. Aber... ich und meine Männer werden sie nicht als Gefangene verlassen. Ich fordere ein Lehen in Frankreich und für meine Leute die Freiheit sowie eine bescheidene Abfindung. Ich denke nicht, dass das zuviel verlangt ist für eine ganze Burg."
Erneutes Beraten. Ich sah mich um und in die Gesichter der Männer, die sich knapp hinter mir hielten. Ihre Anspannung und Angst waren unverkennbar. Hätten meine Verhandlungspartner sie sehen können, sie hätten keine Sekunde überlegt und abgelehnt. Es war offensichtlich, dass mein eigenes Gefolge mich lieber tot als lebendig ausliefern würde, um seine Haut zu retten. Zu einem Kampf wäre es so oder so nicht gekommen. Jedoch, der Feind bemerkte von alldem nichts und folglich war seine Antwort:
"Wir akzeptieren euren Vorschlag, aber ihr werdet uns zu weiteren Verhandlungen sofort die Burg öffnen, ihr habt unser Wort, dass euch nichts geschehen wird."
Wie aus einem Munde vernahm ich hinter mir die erleichterten Seufzer der Männer und ich gestehe, auch von mir viel eine schwere Last ab. Ich gab zur Antwort:
"Es freut mich, dass wir dies ohne Gewalt lösen konnten. Eure Männer werden eingelassen, aber meine Leute verbleiben auf ihren Posten bis unsere Abmachung urkundlich festgehalten wurde."
"Einverstanden, öffnet nun das Tor."
Ich nickte Lovald zu und dieser gab Befehl nach unten.
Hereinströmten an die fünfzig Mann, allen voran meine drei Verhandlungspartner und deren Leibgarden. Man führte sie in mein Zimmer und ich empfing sie standesgemäß, mit Speise und Trank. Wir waren alle froh, dem Kampf entronnen zu sein und in der Burg herrschte eine gelöste Stimmung, die kaum erahnen ließ, dass wir uns vor ein paar Minuten noch niedermetzeln wollten.
Ja, auch ich war zufrieden. Zwar hatte ich nicht erreicht was ich wollte, die Burg war schließlich verloren, aber ein Lehen in Frankreich war auf jeden Fall ein Gewinn. Und allemal besser, als an einem Strick zu enden.
So diskutierte ich mit den vexiner Adligen über mein zukünftiges Land, während die Männer feierten. Es war schon spät geworden und die Sonne untergegangen, als der Vertrag fast ausformuliert war. Da erhob sich plötzlich ein Tumult vor der Burg und ich hörte viele wütende Rufe. Schnell verließen wir mein Gemach und begaben uns auf die Zinnen.
Wir sahen ein wogendes Meer aus Fackeln, das mit wütendem Gebrüll gegen die Tore brandete. Als wir noch ungläubig starrten und uns fragten, was dieser Tumult zu bedeuten hatte, kam ein Soldat der Vexiner Leibgarde und erstattete Bericht.
"Sir, die Bauern greifen die Burg an."
"DAS SEHE ICH! Aber warum tun sie das!?"
"Es fing alles mit einigen Wanderpredigern an, die unserem Aufruf, zusammen mit dem Landvolk gefolgt waren. Als wir verkündeten, dass eine Abmachung getroffen worden sei und kein Grund mehr für eine Schlacht bestünde, da haben einige von ihnen angefangen Reden zu halten und zum Kampf aufzurufen. Wie es aussieht, berufen sie sich auf den Befehl des Königs und damit, so meinen sie, Gottes Gesetz. Sie fordern Wilhelms Tot als Verräter und drohen allen, die sich in der Burg befinden und ihn nicht ausliefern wollen, mit der gleichen Strafe."
Auf diese Rede, wurden mir Blicke zugeworfen, die nichts Gutes verhießen. Das Bauernheer, vom religiösen Eifer angestachelt, war entschlossen und zahlenmäßig weit überlegen. Einmal mehr, schien meine Auslieferung sehr verlockend für alle Anwesenden zu sein.
Doch, Gott sei dank, ist Geduld eine Tugend die dem Pöbel ebenso abgeht, wie Zuverlässigkeit. Kaum eine Sekunde später zischten Pfeile über unsere Köpfe und wurden brennende Fackeln an die Felsen geworfen. Kampfgeschrei hob an - die Schlacht hatte begonnen.
Jetzt war sich jeder selbst der Nächste. Man zog die Schwerter und brüllte Befehle, die Niemand mehr verstand – alle Ordnung war dahin. Die Männer an den Toren flohen in wilder Panik vor der anstürmenden Masse, die in Rachegelüsten derartig aufgeflammt war, dass nur noch Blut sie würde löschen können. Ich erkannte schnell, dass außer der eigenen Haut, hier nichts mehr zu retten war und so suchte ich nach einer Möglichkeit zur Flucht. Zunächst musste ich meine Sachen loswerden. In der ausbrechenden Orgie aus Angst und Gewalt gelang es mir, einem der Gefallenen seine Sachen auszuziehen und mich notdürftig mit einem zerlumpten Umhang und Ruß im Gesicht zu tarnen. So schlich ich mich durch das Gemetzel und näherte mich langsam dem Ausgang. Nie erschien mir ein Weg länger, als jener durch die Felsengemäuer, der mir nun verhassten Burg. Zeuge vieler Grausamkeiten wurde ich da; in religiöser Verzückung begangen, von Christenmenschen, die sich gebärdeten wie Folterknechte des Leibhaftigen. Ausgeweidet und zerstückelt wurden Verteidiger wie Angreifer, denn Niemand hatte einen Überblick, wer zu wem gehörte. Dass man mich verschonte, habe ich einzig der schützenden Hand des barmherzigen Gottes zu verdanken. Lovald hatte weniger Glück, ich sah ihn tot, nahe beim Ausgang liegen. Treu wie er war, hatte er wohl als Einziger versucht das Tor zu halten. Als ich den steilen Abstieg nach draußen erreichte, erinnerte ich mich deutlich an jenen Tag, mit dem alles begonnen hatte. Auch damals, waren die Stufen feucht und rutschig gewesen, doch nicht vom Blut wie heute.
Schließlich schaffte ich es nach draußen. Ich tat, als wäre ich einer von vielen Verletzten und wurde nicht weiter behelligt. Bei der Kapelle ging ich vom Weg ab, rannte in den Wald und dann immer bergab, hinunter zur Seine. Erst als ich dort anlangte traute ich mich zu verschnaufen und schaute zur Burg hinauf. Der schwarze Fels, von vielen Feuern erhellt, sah aus wie das Tor zur Hölle und noch immer drangen leise die Schreie jener zu mir, welche von den Zinnen geworfen wurden.
Ich habe später gehört, die Burg sei wieder fest in französischer Hand. Und warum auch nicht? Genau genommen wurden nur Ludwigs Befehle ausgeführt. Ich, Wilhelm, gelte heute als tot, umgekommen wie die adligen Anführer des vexinischen Heeres. Das sie auf meiner Seite standen, als sie fielen und das ihre Mörder aus den eigenen Reihen kamen, das weis heute Niemand mehr. Sie starben offiziell als Helden, ich als Verräter.