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Gesundschrumpfung
Gesundschrumpfung
1.
Der Feldwebel schritt gemächlich die Front der Rekruten entlag. Sein Ehrensäbel wippte und schlug ihm an die Stiefel.
Auf den Uniformen der 40 Soldaten des dritten Infanterieregimentes vergrößerten sich die Schweißflecken zusehends und einige blinzelten ob der gleißenden Sonne.
Der Feldwebel, der unter leichtem grauen Star litt, trat an einen Soldaten heran und musterte ihn mit mürrischer Miene. Dann explodierte er förmlich.
„Rekrut Müller“, brüllte er mit sich vor Anstrengung überschlagener Stimme,
„was um alles in der Welt haben Sie auf Ihrer Uniformjacke?“
Der Angesprochene blickte starr geradeaus, als er antwortete.
„Einen Fleck, Herr Feldwebel.“
Jemand kicherte und der Feldwebel lief rot an.
„Und was, im Namen aller Götter, die mich mit einen Sauhaufen wie Euch geschlagen haben, sucht ein Fleck auf Ihrer Uniform?“
„Ich vermute er sucht nichts dort, Flecken sind im Allgemeinen des Suchens, als reflektierendem Tun eher abgeneigt.“
Der Feldwebel war sprachlos. Er verfluchte die Regierung, die ihm das hier eingebrockt hatte. Der Krieg konnte jeden Moment losbrechen und mit diesem Material sollte er siegreiche Schlachten schlagen?
Sich mühsam beherrschend wandte er sich an den Soldaten der neben Müller stand.
„Und Sie, können Sie nicht gerade stehen?“, schnauzte er.
„Leider nicht, Herr Feldwebel. Die Bandscheiben.“
Das war zuviel. Der Feldwebel machte eine kaum militärisch zu nennende Kehrwende und eilte fluchtartig auf das Stabsgebäude zu.
2.
Kilometerlange Marschkolonnen schleppten sich durch die karge Norddeutsche Tiefebene. Der Feldwebel des dritten Infanterieregimentes mühte sich vergebens die Reihen geschlossen zu halten.
Es hatte geregnet und der Boden war schlammig geworden.
Die ersten Ausfälle wurden verursacht durch eine Unterspülung und Abrutschen des Weges, was einer halben Kompanie zum Verhängnis geworden war.
Zudem war Soldat Kraut verschwunden. Das beunruhigte den Feldwebel allerdings nicht im Geringsten. Schon während der Ausbildung hatte Kraut fast täglich seine Brille verlegt und ohne die war er blind wie ein Maulwurf.
Wahrscheinlich irrte er irgendwo in der Gegend herum.
Schwieriger lag der Fall beim Gefreiten Pope. Auch er war unauffindbar und hatte es wohl vorgezogen zu desertieren. Das war zwar sein gutes Recht, kostete ihn aber seine Rentenansprüche.
„Das juckt den aber kaum, der kann es sich leisten“, murmelte der Feldwebel.
Wie er sich zu erinnern glaubte, war Pope Vorstandsvorsitzender der Telekom gewesen und hatte sicher einiges auf der hohen Kante.
Ein anschwellendes Motorengeräusch riss ihn aus den Gedanken.
„Runter von der Fahrbahn“, schrie er und seine Soldaten warfen sich, freudig über die Marschpause, in die Blumenfelder, die den Weg säumten.
Motorisierte Einheiten tauchten hinter einer Wegbiegung auf und rollten an ihnen vorbei.
„Die haben’s gut“, seufzte Soldat Müller und runzelte die ohnehin gefurchte Stirn.
„Müssen sich nicht die Hacken ablatschen“.
Der Feldwebel warf ihm einen missbilligenden Blick zu.
„Haben Sie erkennen können, welcher Verband das war?“, fragte er streng.
Müller lachte.
„War ja kaum zu übersehen, Herr Feldwebel. Brigade Prost. Achte motorisierte Rollstuhlkompanie. Tolle Dinger diese Kampfrollstühle. Gepanzert, geländegängig und MG-bestückt.“
Er rappelte sich auf.
„geht’s weiter?“
Der Feldwebel nickte und schrie ein Kommando.
Doch es ging nicht weiter.
Mehreren Soldaten hatten den scharfen Sprung von der Straße nicht gut weggesteckt. Knochenbrüche, Verrenkungen und ein Rheumaanfall mussten behandelt werden und so war das dritte Infanterieregiment ohne Feindkontakt gehabt zu haben, schon um ein Drittel zusammengeschrumpft.
3.
Der Feldwebel hob die Hand und die Marschkolonne stoppte.
„Hören Sie das Müller? Flugzeuge“.
„Unsere oder die Franzosen?“, fragte Müller gespannt.
„Keine Ahnung, aber wir sollten vorsichtshalber in Deckung gehen.“
Kaum hatte er das gesagt, schoss ein torkelnder Bomber im Tiefflug auf sie zu.
„Deckung!“, brüllte der Feldwebel und binnen Sekunden waren die Soldaten hinter den Bäumen, die die Straße säumten verschwunden.
„Das Flugzeug hat deutsche Hoheitszeichen“; flüsterte Müller, der neben dem Feldwebel in einer Mulde Platz gefunden hatte.
„Wir bleiben trotzdem liegen“, befahl der Feldwebel.
Sie beobachteten wie der Bomber wilde Flugmanöver absolvierte, so als wäre der Pilot betrunken. Die Maschine stieg spiralförmig in den Himmel und klinkte eine Bombe aus. Der Pilot schien nicht über sonderliche Erfahrung zu verfügen, den die Flugkurve von Bombe und Flugzeug schnitten sich. Die Bombe explodierte und zerfetzte das Flugzeug.
Trümmerstücke regneten herab, verfehlten aber knapp Müller und den Feldwebel.
„War wohl einer der Debilen. Armer Kerl.“
Der Feldwebel schüttelte sich.
„Immer noch besser als bei den Franzosen. Die setzen sogar Blinde in ihre Maschinen.“
4.
Im Laufgang des Schützengrabens saßen der Feldwebel, Müller und einer der wenigen noch einsatzfähigen Soldaten um einen flüchtig zusammengezimmerten Holztisch und spielten Skat.
„Der Wetterbericht sagt eine Abkühlung auf 15 Grad voraus. Dann war es das wohl. Wir haben ohnehin keine Munition mehr.“, Müller seufzte.
Der Feldwebel sah ihn nachdenklich an.
„Wer wohl diesmal gewonnen hat? Beim letzten mal haben wir den Franzosen kräftig in den Arsch getreten. Wenn wir nur bessere Waffen und jüngere Männer hätten. Ich möchte wissen, ob von den hunderttausend Schüssen, die wir abgefeuert haben, auch nur ein Einziger getroffen hat.“
Der dritte Mann sank ohne Vorwarnung in sich zusammen. Er war entschlafen. Der Feldwebel beugte sich zu ihm herunter und zerbrach die Erkennungsmarke in zwei Teile. Dann war er die Skatkarten auf den Tisch.
„Wir haben durch Krankheiten, Unfälle, Desertation und Altersschwäche sieben Achtel unserer Leute verloren. Wenn ich es recht bedenke, glaube ich sogar, dass wir die Meisten Verluste durch Altersschwäche hinzunehmen hatten. Verrückt oder?
Und nicht ein einziger Mann ist durch Feindeinwirkung gestorben. Tja, da sehen Sie, was gute Führung ausmacht.“
Müller verzog das Gesicht und schwieg.
„Sagen Sie, Müller, was werden Sie nach dem Krieg machen?“
„Das Gleiche wie vorher. Ich plane den nächsten Krieg. Diesmal geht es gegen. Polen.
Wir haben leider keine Wahl. Die demographische Pyramide zeigt immer noch nicht steil genug nach oben. Zwei Millionen Bürger stehen kurz vor der Rente und wenn wir unsere sozialen Sicherungssysteme nicht kollabieren lassen wollen, müssen wir uns irgendwie gesundschrumpfen. Also wird weiterhin die Kriegsteilnahme Voraussetzung, um in den Genuss einer staatlichen Rente zu kommen. Übrigens haben Sie in einem ganz Recht: durch feindliches Feuer sterben pro Krieg nur ein Dutzend, mehr durch Zufall, als Absicht.“
Der Feldwebel starrte ihn entgeistert an, aber Müller achtete nicht darauf.
„Das System funktioniert ganz gut, denken Sie nur an die stabile Auftragslage unserer Rüstungskonzerne. Die können echte Waffen ins Ausland exportieren und den Ausschuss verwerten wir hier.
Es gibt nur ein Problem: die Frauen. Wir haben im letzten Krieg gegen Dänemark eine Fraueneinheit aufgestellt und zum ersten Mal gab es massiv echte Kriegstote. Deshalb wird der Krieg gegen Polen nur von Frauen geführt werden.
Wir rechnen damit, dass die Rente dann sicher ist.“