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Gevatter der vergessenen Erinnerungen
Gevatter der vergessenen Erinnerungen
Es war acht Uhr abends und die Mutter brachte ihren kleinen Sohn Johannes ins Bett. Da er noch nicht sehr müde war und deshalb nicht schlafen konnte, versuchte er immer wieder seine Mutter noch zu überreden, eine Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen:
"Mami, ich habe noch eine Frage, bevor ich ins Bett gehe: Was geschieht eigentlich mit unseren Erinnerungen, die wir vergessen? Wohin kommen die vergessenen Erinnerungen? Die können sich doch nicht einfach in Luft auflösen, oder etwa doch?"
"Nein, natürlich nicht! Es gibt da jemanden, der ist der Cousin von Gevatter Zeit und der älteste Bruder vom Regenmacher. Er wohnt im letzten Haus von der Milchstraße, Milchstraße 100."
Johannes wollte aber mehr wissen: "Und wer ist dieser Jemand? Was macht der mit den vergessenen Erinnerungen? Erzähl mir mehr, Mami!"
"Ok, ist ja gut. Also:
Er heißt Gevatter der vergessenen Erinnerungen. Oben, in seinem Haus, das ganz und gar aus Buchstaben besteht, hat er einen großen Schreibtisch. Und in seinem Buchstabengarten hat er einen großen Briefkasten. Jeden Tag kommen die vergessenen Erinnerungen aller Menschen der Welt in diesen Briefkasten. Niemand weiß wie, aber ich schwöre dir, es ist so! Er muss jeden Tag morgens aufstehen, ganz früh, und muss den Briefkasten entleeren. Die ganzen vergessenen Erinnerungen legt er dann auf seinen Schreibtisch. Außerdem hat der Gevatter der vergessenen Erinnerungen noch einen riesen großen Schrank. In dem sind drei Schubladen. In die erste Schublade legt er die vergessenen Erinnerungen von den Leuten, die lieber nicht vergessen sein sollten. In die untere Schublade legt er die vergessenen Erinnerungen, die auf jeden Fall vergessen bleiben sollten. Und in die mittlere Schublade legt er die vergessenen Erinnerungen, die zwischen die erste und die zweite Schublade kommen, also die, die weder vergessen bleiben sollten noch die, die man lieber nicht vergessen hätte. Die Schubladen sind sehr riesig, aber sie werden auch sehr schnell voll, bei den ganzen vergessenen Erinnerungen. Deshalb nimmt er einmal in der Woche die untersten Erinnerungen aus jeder Schublade raus, das sind die, die schon ganz voller Sternenstaub sind, und gibt sie dem Erinnerungsschlucker. Der verzehrt sie einfach und niemand weiß, wohin sie danach kommen, niemand! Aber es gibt diesen Schlucker, da bin ich mir ganz, ganz, ganz sicher!
Und dahin kommen deine und meine vergessenen Erinnerungen. Natürlich auch von den ganzen anderen Leuten, und das sind ganz schön viele. Deshalb hat der Gevatter der vergessenen Erinnerungen auch jeden Tag, von morgens bis abends so viel zu tun! Mehr, als du dir vorstellen kannst."
.....
Die Mutter machte eine Pause.
"Ach so ist das! Und der Gevatter der vergessenen Erinnerungen vergisst nie was, oder? Was wäre denn, wenn er mal vergessen würde, den Briefkasten zu entleeren oder die untersten vergessenen Erinnerungen aus den Schubladen zu nehmen? Dann hätte er ja ganz schöne Probleme, oder?"
"Ja, allerdings, das hätte er. Aber der Gevatter der vergessenen Erinnerungen ist ja nicht blöd. Er hat direkt neben seinem Bett eine Blume in einer Vase stehen. Sie erinnert ihn an alles, damit er nichts vergisst. So eine ähnliche Blume gibt es bei uns auch. Die Blume des Gevatters heißt: Vergiss es nicht!
Die Mutter hielt inne und sah zu ihrem Sohn hinüber, der friedlich schlummernd in seinem Himmelbettchen lag. Sie gab ihm einen Kuss auf die rechte Wange, knippste das Licht aus und ging aus seinem Zimmer.