Gewöhnen müssen
Gewöhnen müssen
Er stand am Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei.
Und an andere Dinge dachte er nicht mehr. Es war wie ein in Watte eingefasster Ablauf, als er mit den fünf Mark einmaligem Überbrückungsgeld zu einem Zeitungsstand gegenüber ging, der sich auf schwarzen Lettern „Presse Schneider“ nannte. Neben der B.Z. kaufte er sich eine Schachtel R6. Der Kiosk war Alfred bestens bekannt, ohne dass er ihn je betreten hatte. Denn seit dem 5. September 1908 schaute er auf die Bude aus Eiche und dem mit Flugrost übersäten Wellblech. Der Gefangene Bieberkopf sah über die Jahre das Haupthaar des Besitzers, Josef Martin Schneider - so stand es auf dem Emaille-Schild beim Karamell - , zurückweichen. Seine streichholzlangen Haare wurden weniger, und in einem Meer von Büscheln hatte sich eine zuerst kleine Insel von Kahlheit immer weiter ausgebreitet.
„Einen angenehmen Tag wünsche ich noch“ sagte Schneider, den Alfred in Gedanken immer Hans Wurst nannte, so einer muss ja eigentlich Hans heißen und Wurst aß er viel, sonst würde seine Schürze keine Kuhle mit einer Wampe beherbergen. Vor einigen Jahren, als Krieg war und Kohlenrübenwinter, war seine Schürze baumelnd und vom Schleifen auf dem Boden dreckig, denn einen Kugelbauch hatte keiner damals.
Heute war es Alfred vergönnt, der Sache auf den Grund zu gehen. Wenn er denn wollte.
Und vor ihm faltete sich eine Bandbreite an Möglichkeiten aus, die genauso groß war wie seine Ratlosigkeit darüber, was jetzt zu tun sei.
Seit 20 Jahren, 11 Monaten und 30 Tagen hatte jeder Tag in Moabit dem anderen geglichen, hatten andere für ihn das Waschen, Essen, Schlafen, Lachen und Kacken angeordnet.
Um diesem sonnigen Augusttag einen Sinn zu geben, nahm er die Tram, und er achtete nicht aufs Ziel, das war nicht weiter wichtig für ihn, denn wo er hingehörte, wusste er selbst nicht.
Die gelben Wagen für die Raucher, daran hatte sich nichts geändert, die Holzbänke glatt poliert von 30 Jahren Berliner Hintern jeder Form und Größe. Seinem Gegenüber mit einer Schiebermütze, dem herabhängenden Schnurrbart und dem fahlen Gesicht, das aus Reispapier zu bestehen schien, hatte er pflichtschuldig bittend um ein Streichholz gefragt. Mit einem Dreh aus dem Handgelenk zog er es aus seinem grauen und unzählige Male geflickten Sackleinenmantel und reichte es ihm stumm. Durch die raue Unterseite des Sitzes gezogen entflammte sich das Zündholz und knisterte beim Auflodern. Alfred nickte dankend, als er konzentriert und mit zugekniffenen Augen an der Zigarette zog, um sie zum Glühen zu bringen.
Diese Szene wurde unterbrochen durch das dumpfe Einschlagen von Druckwellen in das für neuartige Reize empfindliche Gehör des ehemaligen Strafgefangenen. Sein Gegenüber zog nervös an seiner Zigarette und machte plötzlich ein sehr grimmiges Gesicht. Ein nunmehr verengtes Augenpaar verfolgte aufmerksam den Aufzug mit den Fahnen, Trommeln, Fackeln und den Blasmusikern. Die Stiefelpaare, Hunderte mussten es sein, hallten klar und hell durch die Kurfürstenstraße.
Außer Fetzen von Worten wie „die Fahne hoch!“ vermengte sich der Gesang zu einem einzigen Männergesumme, die Tenöre mit den kratzigen Halbwüchsigen, die Altsänger mit den minnesängerhaften Gejaule, er konnte diesem wabernden Rauschen keinen passenden Ausdruck aufdrücken.
Und es ängstigte ihn, denn sie sahen alle gleich aus, ihr Gesichtsausdruck, ihre Haltung, die Riesenraupe der stramm erhobenen Arme.
Er wusste, dass es nicht gut war.
Die anderen Mitfahrer sahen nicht hin. Alfred vermutete, dass sie nicht mehr hinsahen. Anscheinend kannten sie das Spektakel schon. Ob das diese stampfenden Männer öfter machen? Was war dies für ein Verein? Waren das Christen, die mit ihrem Kreuz triumphierend die frohe Botschaft verkündeten?
Ihre Sendung schien Alfreds Mitfahrer nicht besonders zu interessieren. Aber das war nun mal so in Berlin. Die Berliner waren sehr offen für Neues und auch deswegen sehr schnell gleichgültig. Man musste ihnen schon etwas bieten.
Bestimmt werde ich mich an die trommelnden, marschierenden, singenden, befehlenden, gehorchenden und siegheilenden Massen gewöhnen müssen, dachte sich Alfred.
Die Tram fuhr noch eine Station weiter. Er war am Alexanderplatz angekommen. Der majestätische Bahnhof im Blickfeld, wie eine Kathedrale des Fortschritts stand sie da. Man konnte es vornehm ausdrücken, doch Alfred kam einfach mit der Geschwindigkeit dieser Stadt nicht zurecht. Der Schweiß trat ihm sinnlos aus den Poren. Das Leben - nicht unterbrochen durch kaltes Metall, schlurfende Zuchthauswärter mit ihren unzähligen Schlüsseln, die durch die kahlen und fahlen Gemäuer von Moabit liefen, nicht unterbrochen durch Mauern und Stacheldraht. Sie gingen einfach umher, lachten umher, eilten umher, bettelten umher, laberten umher. Keiner, der ihnen Vorschriften machte, leiser zu sein. Ein Schrei, die trompetenden, lautstarken Kapellen der hunderten Stiefelpaare, „die Reihen fest geschlossen“. Die Berliner marschieren gerne, früher waren es die Kriegervereine, die Soldaten, die Bündischen, doch die Uniformierten heute sahen anders aus. Ihre Träger waren schwammig geworden, die große Aufgabe war erfüllt, jetzt warteten sie geduldig auf die nächste und aßen sich noch satt dabei. Und als er sich dieses Treiben anschaute, da wurde ihm auf einmal alles zuviel, er hatte keinen Platz mehr, obwohl das Unsinn war, 20 Jahre hatte er nur ein paar Quadratmeter, und er hatte trotzdem keinen Platz mehr. Sein Hemd war ihm schon fast vom Leib geflossen, so sehr schwitzte Alfred. Und er flüchtete hastig in den nächsten Eingang, einem verschrobenen kleinen Café, das nicht zum großen, wilden Alexanderplatz passte. An der Tür stand er, eine ganze Weile, vielleicht eine Stunde. Er stand und starrte, keine Ahnung, wie er jetzt anfangen sollte. Und weil ihm nichts einfiel, starrte er hinaus, und worauf er wartete, das wusste er selbst nicht so genau. Vielleicht auf Schneider oder auf den Wärter, der Berlin sagt, dass es leiser sein sollte.