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Gewissensbisse
Gewissensbisse
Ich war nicht stolz darauf, zu sein, was ich war. Im Gegenteil: Ich verabscheute mich und meine Art. Ich hasste sie, hatte sie immer gehasst. Alle. Und ich hatte mir gewünscht, dass sie verschwinden würden. Einfach so... Jetzt waren sie verschwunden. Ich war allein. Der letzte meiner Art. Die letzte Erinnerung an die Wesen, die einmal fast so mächtig wie die Menschen selbst gewesen waren. Ich sollte tot sein, schließlich war ich einer von ihnen, und wahrscheinlich wäre das auch besser so... Aber ich lebte. Meine Freunde hatten mich gerettet und zu mir gestanden, obwohl alles meine Schuld war. Ein kurzer Moment der Schwäche, der Wut und der Enttäuschung, und alles war vorbei. Ich hatte sie verraten, ihre Geheimnisse und ihre einzige Schwäche preisgegeben. Und jetzt war es zu spät. Mein Stolz hatte ihr Todesurteil unterschrieben und mich zu ewiger Einsamkeit verdammt.
Aber es hatte nie soweit kommen sollen. Niemals. Ich habe nicht gewollt, dass sie sterben... Warum nur musste ich das tun? Ich verabscheute mich für das, was ich getan hatte. Hasste mich, wie ich sie gehasst hatte. Und gleichzeitig war ich froh, dass sie fort waren. Aber gewollt habe ich das nicht. Nicht so...
Für meine Freunde waren meine Gedanken nicht nachvollziehbar. Wie sollten sie das auch sein? Sie waren Menschen. Sie hatten nicht gelebt, wie ich gelebt hatte und nicht getan, was ich getan hatte. Sie verstanden nicht, dass es mir unendlich leid tat und mich gleichzeitig unendlich stolz machte. Sie konnten es nicht verstehen. Es war das Beste für sie. Für die Menschen. Auch das verstanden sie nicht. Stattdessen sehnten sie sich nach einem zeit- und endlosen Leben. Das konnte ich nicht verstehen. Mensch oder Vampir? Sie hatten die Wahl. Und viele haben sich entschieden, zu einem von uns zu werden, haben gefleht, in unsere Mitte aufgenommen zu werden. Ich wäre auch gern ein Mensch gewesen. Ich hätte auch gern die Wahl gehabt. Aber ich hatte nie eine Wahl. Niemand hatte es für nötig gehalten, mich zu fragen, als ich zu dem wurde, was ich hasste. Niemand hatte mir eine Wahl gelassen, oder mir die Chance gegeben, meine Entscheidung selbst zu treffen. Zuerst hatte ich versucht, mich damit abzufinden, und fast hätte das auch funktioniert. Ich redete mir ein, Unsterblichkeit wäre ein Luxus, den man mit dem Blut Unschuldiger bezahlen musste. Und wenn mich die Einsamkeit überkam, sah ich in der Unendlichkeit die Strafe, für mein früheres Leben, für die Gotteslästerung, die ich betrieben hatte, mit dem Geld meines Vaters und den Huren der Stadt. Laster und Sünden, hemmungslose Exzesse, das war mein Leben gewesen. Jetzt kannte ich nur noch dieses Leben. Dieses Leben in Dunkelheit. Wie gerne hätte ich getauscht!
Jetzt waren sie weg. Alle, die die falsche Entscheidung getroffen hatten, und alle, die schon immer wie ich gewesen waren. Ich hatte sie verraten, getötet. Wie lange war das jetzt wohl her? Zwei Wochen? Vielleicht zwei Monate? Zeit wird über die Jahrhunderte zu einer Nebensache, wenn man sich ihr nicht beugen muss. Wir ignorierten die Jahre, die an uns vorbeizogen, ohne Spuren zu hinterlassen. Wir beugten uns nicht der Zeit, sondern einer größeren Macht: der Sonne. Sie war das einzige, was wir fürchteten. Die Sonne. Das war der Grund, warum viele Sterbliche sich danach sehnten, zu uns zu gehören. Das musste der Grund sein. Einen anderen konnte ich mir nicht erklären... Ob die Sonne sie getötet hatte? Ich wusste es nicht, aber ich wünschte, ich wäre mit ihnen gestorben. Aber diese Erlösung hatte ich nicht verdient.
Meine Freunde versuchten, mich zu trösten. Natürlich gelang es ihnen nicht. Ihnen fehlten die Worte, und mir... Ich weiß es nicht. Ich beneidete sie. Und sie beneideten mich. Aber wir sprachen nie darüber, dass wir lieber der andere wären. Warum, weiß ich nicht. Sie sorgten gut für mich. Hatten mir ein sonnensicheres Versteck gebaut und brachten mir Tiere, damit ich nicht verhungerte. Ich hasste es, zu töten. Ich trank nur Blut, wenn es unbedingt nötig war, und nie mehr als ich brauchte. Eigentlich brauchte ich auch jetzt wieder Blut. Aber ich wollte nicht. Nicht schon wieder.
Stattdessen fragte ich mich, wann meine Freunde wohl zurückkommen würden. Sie blieben nie lange weg. Sie machten sich zu viele Sorgen um mich. Ich musste ihnen versprechen, zu warten. Jedes Mal. Ich versprach es, und ich hielt mein Versprechen. Jedes Mal. Nur heute konnte ich es nicht.
Ich suchte ein Stück Papier aus dem Schrank und biss mir in den Finger.
Tut mir leid, schrieb ich mit meinem Blut auf denZettel. Danke.
Das also war mein Todesurteil. Ich verließ mein Versteck und sah zum ersten Mal seit zweihundert Jahren die Sonne.