- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Glimpse I
Da sitzt sie, in der zweiten Reihe, in ihrem roten Sommerkleid. Ihre Haare bewegen sich synchron mit dem angenehmen Windhauch, der durch das geöffnete Fenster seinen Weg findet. Sie summt eine Melodie, "Somebody To Love" von Queen, kennt aber offensichtlich nur den Anfang. Eine Endlosschleife der Langeweile, bis der Unterricht beendet wird. Ihr Freund, der rechts neben ihr sitzt, versucht ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen, aber sie hält ihn auf Abstand, grinst nur verstohlen. In der Schule ist sie mit Sicherheit ein anderer, differenzierter Mensch. Sie sind nur außerhalb der Öffentlichkeit zusammen, hier sitzen sie bloß nebeneinander. Ich habe auch ein paar Mal in der Woche das Vergnügen, will mich jedoch keineswegs zwischen die beiden quetschen. Sie ist besonders, kulturell gebildet und verdammt attraktiv, sie steht auf Classic Rock, will nächstes Jahr Journalismus studieren und immer zu, verteidigt sie ihre Meinung mit allen Mitteln. Egal wie vorlaut sie dabei wird, es amüsiert, zuzuhören. Trotzdem, irgendetwas lässt mich an ihr kalt. Wahrscheinlich sind es ihr verkrampftes Verdrängen von Gefühlen und ihr tiefsitzender Pessimismus, welche auch der Grund sind, warum ich nur ihre Fragen erwidere und kaum eine Konversation fordere. Nur die Magie, wenn sie mich ansieht ... Ich bin mir sicher, ich sollte nicht mehr in ihre Richtung blicken.
"Ich wollte schon immer mal stecken bleiben, aber mit dir?" Sage ich schmunzelnd.
Sie nennt mich "Arschloch", lächelt aber.
Ihr "Freund" fährt gerade irgendwo in Südtirol Ski und wir sitzen plötzlich im Fahrstuhl fest, am ersten Tag der Studienfahrt, mitten in Berlin.
Langsam macht sich die Nervosität bemerkbar, andauernd haut sie auf die Notruftaste, vergebens. Liegt es daran, dass sie einfach Schiss hat, oder dass sie mit mir hier drin festsitzt? Keiner von uns weiß, wann die uns hier rausholen, also setzen wir uns. Sie nimmt direkt neben mir Platz, sogar ihre Stimmbänder schwingen schneller und verzerren die sonst angenehme Stimme, als sie mich darum bittet, sie abzulenken. Obwohl ich weiß, dass sie Nichtraucherin ist biete ich ihr eine Zigarette an.
"Du willst jetzt rauchen?"
"Klar, wir stecken doch schon fest, was soll denn noch passieren?"
Kurz nachdem ich mir eine angesteckt habe, nimmt sie mir die Kippe ab und drückt sie auf dem Boden aus, vorher zieht sie jedoch zweimal.
"Siehst du, hat geklappt."
Sie schlägt mir auf die Schulter, schaut mir dabei tief in die Augen. Die Situation entspannt sich, wir lachen und ihr Gesicht gewinnt langsam wieder an Farbe. Für einen Moment öffnet sie ihr gefrorenes Herz und wir kommen uns näher, fast schon zu nahe, sodass man ganz genau weiß, der Fahrstuhl würde in diesem Moment seine ewige Bahn des Auf und Ab fortsetzten. Und genau das tut er.