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Goethe

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23.10.2004
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Goethe

Goethe- Mein größter Erfolg


So alt bin ich nun, und spüre, wie meine innere Lebensquelle langsam beginnt zu versiegen. Da scheint mir der rechte Moment gekommen, um euch die ganze Wahrheit mitzuteilen: Der Charakter des Werther ist von mir nicht frei erfunden, auch hat er nicht nur Ähnlichkeiten mit dem Meinigen. Vielmehr ist er das genaue Abbild von mir als junger Mann.
Seine Erlebnisse sind meine Erlebnisse. Seine Liebe war meine Liebe. Meine Leiden sind seine Leiden. Lange schon habe ich überlegt, mich mit meiner lebhaften Jugend noch einmal zu befassen. Weil aber der Sommer in diesem Jahr sehr heiß war, besonders der Juli in Frankreich, habe ich mich lieber den Genüssen der Natur hingegeben, anstatt über dieses Thema nachzusinnen. Doch nun möchte ich die Geschichte einer unbedingten Liebe und deren Überwindung, meine Geschichte erzählen, aus der Sicht des Johann Wolfgang:
Nachdem ich in Leipzig und Straßburg Jura studiert hatte, kehrte ich am vierzehnten August 1771 in mein Elternhaus am Großen Hirschgraben zu Frankfurt zurück. Damals war ich äußerst schüchtern, wagte es kaum, auf der Straße einen Menschen anzusprechen. Obwohl ich mir eigentlich überhaupt nicht vorstellen konnte, im Gerichtssaal Plädoyers zu halten, ersuchte ich zwei Wochen später trotzdem beim Rat auf dem Römer die Zulassung als Anwalt. Mein erster Prozess gestaltete sich meiner Unerfahrenheit entsprechend. Dennoch war der Wunsch, Advokat zu werden, weiterhin in mir. Um meine juristische Bildung zu erweitern ging ich deshalb für einige Monate an das höchste Gericht des damaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, an das Reichskammergericht in Wetzlar, wo sich bereits mein Vater hatte ausbilden lassen. Voller Phantasien war mein Kopf während dieser Zeit,
da ich durch das Studium vollends in Beschlag genommen war, kam ich aber nicht oft zum Schreiben und so konnte ich sie nicht verarbeiten.
Weil ich meine Freunde zurücklassen musste, und auch zur Familie kein Kontakt mehr bestand, fragte ich mich oft, ob dieses einsame Leben das wahre für mich sein konnte. So freute ich mich sehr auf den Ball in Volpertshausen am neunten Juni 1772. Meine Hoffnung war, in der Gesellschaft von anderen jungen Menschen die Verschlossenheit ablegen zu können. Schon auf dem Weg dorthin wurde ich gewarnt, ob scherzhaft oder ernst gemeint, mich nicht in Charlotte Buff zu verlieben. Sie sei schon vergeben, wurde mir von ihrer Base erklärt. Bald lernte ich sie selbst kennen. Ihre Gestalt , ihre Stimme, ihr Verhalten, alles an ihr war vollkommen. Natürlich verliebte ich mich doch in sie, aber es war mehr als die einfache Liebe. Wundervoll, geradezu himmlisch waren unsere ersten Begegnungen. Jedes ihrer Worte wirkte wie Balsam auf meiner Seele. In ihrer Gegenwart blühte ich auf, wurde viel offener, ging auf die Menschen zu. Doch es gab auch furchtbare Tage, in denen ich sie mit Kestner zusammen sah. Monatelang war ich hin und her gerissen zwischen Glück, Trauer, Wut, und all diese Gefühle wurden durch Lotte ausgelöst. Ich war von ihr abhängig. Entweder dieser ständige Wechsel meines Gemütszustandes führte dazu, dass Lotte sich mehr und mehr von mir entfernte, oder sie spürte meine Liebe, die ich lange Zeit ihr gegenüber und auch vor mir selbst leugnete. Da also unser Verhältnis immer schlechter wurde, versuchte ich unter dem Vorwand des Freundschaftswillens wieder in ihre Nähe zu gelangen. Zu einem Teil glückte mir das auch, aber schon bald spürte ich, dass mein Herz mehr verlangte, ich sie ganz oder überhaupt nicht haben wollte. Sie aber war glücklich mit Johann Christian, so dass mir nur unendliche Verzweiflung blieb. Der Schmerz drohte irgendwann meine ganze Brust zu zerreißen. Ich konnte es nicht mehr aushalten und ging aus Wetzlar weg. In der Arbeit versuchte ich mich zu ertränken, um dadurch Lotte zu vergessen. Dies jedoch gelang mir nicht.
Ich besuchte die Laroches und lernte die sechzehnjährige Maximiliane kennen. Mir gefiel dieses muntere Geschöpf sofort. Sie war so jung und frisch, dass ich mich an ihrem von allem losgelösten Verhalten ergötzte.
Eine Weile lenkte sie mich ab von meinen Leiden.
Eines Tages erhielt ich die Nachricht, dass sich Jerusalem, den ich aus meiner Leipziger Zeit kannte , wegen der Liebe zu einer vergebenen Frau umgebracht hatte. Aus nicht zu erfassenden Gründen war ich am genauen Hergang von seinem Freitod sehr interessiert. Obwohl ich zu dieser Zeit bereits den Plan fasste, meine Erlebnisse mit Lotte aufzuschreiben, ahnte ich natürlich noch nicht, dass ich den mir gesandten Bericht später zur Darstellung vom Tode Werthers benutzen würde.
Am vierten April 1773 heiratete Lotte dann Kestner. Die Glücklichen zogen nach Hannover. Das war mir aber gleichgültig. Meine ganze Aufmerksamkeit galt inzwischen Maximiliane, die im Juli mit ihrer Mutter bei uns in Frankfurt zu Gast war. Ihre Anwesenheit, mir so nah, ließ in meinem Kopf eine große Hoffnung aufkommen, diese Quelle der Freude für mich gewinnen zu können. Doch wurde diese Hoffnung grausam zerstört. Denn nur ein halbes Jahr später heiratete sie den zwanzig, zwanzig Jahre älteren Frankfurter Kaufmann Peter Anton Brentano. Von dieser Entwicklung war ich zutiefst enttäuscht. Ihrer Familie war die finanzielle Sicherheit wichtiger als ihr Glück, und ich dachte damals, solche Zeiten wären schon längst vorbei. Betrachtet man jedoch, welche klugen Köpfe aus dieser Ehe hervorgegangen sind, hatte ich wohl, des Schicksals wegen und im Interesse der Kunst keine andere Wahl als diese Situation zu akzeptieren. So sehe ich es heute. Doch zur damaligen Zeit wuchsen in mir die ersten Selbstmordgedanken. Meine Lieben hatten keine Erfüllung gefunden und mich erfasste die resignative Vorstellung, nie mit einer Frau glücklich sein zu können. Denn vielmehr als die geheimnisvolle Schüchternheit der freien Knospen reizte mich die Unbekümmertheit der schon gebundenen Blumen. Tagelang taumelte ich umher, und versuchte meinen Geist von den düsteren Gedanken zu reinigen. Es stellte sich jedoch keine Besserung ein. Im Gegenteil, ich gelangte sehr nah an die Pforte des Todes: Unter einer ansehnlichen Waffensammlung besaß ich auch einen kostbaren, wohlgeschliffenen Dolch. Diesen legte ich mir jederzeit neben das Bett, und bevor ich das Licht auslöschte, versuchte ich, ob es mir gelingen möchte, die scharfe Spitze ein paar Zoll tief in die Brust zu senken. Ich erwies mich aber als Feigling, war nicht in der Lage, mein junges Leben zu beenden. Zuviel gab es für mich noch zu entdecken, wenn mir auch die rechte Stimmung dafür fehlte. Selten ging ich aus dem Haus.
Als ich dann doch einen Spaziergang unternahm, hörte ich zufällig, wie sich einige Leute über das Schreiben ihrer Tagebücher unterhielten. Sie schwärmten davon, all ihre Sorgen dadurch zu vergessen, sie im Buch zurückzulassen. Ich ging wieder ins Haus und setzte mich daran, die wagen Pläne einer Niederschrift meiner Leidensgeschichte zu konkretisieren.
Zunächst schwebte mir kein normales Tagebuch vor , sondern ein Roman, indem ich die Geschichte als Erzähler schildern wollte. Dieses Vorhaben gestaltete sich jedoch als äußerst schwierig. In einem Gebet richtete ich deshalb an die Gottheit die Bitte nach Inspiration. Da kam mir plötzlich der Einfall, die Geschichte in fiktiven Briefen an einen Freund darzustellen.
Mit diesem erfundenen Adressaten wollte ich es auch zu einem ganzen Briefwechsel kommen lassen. Dies erwies sich aber als zu zeitaufwendig, schließlich wollte ich das Erlebte so schnell als irgend möglich hinter mir lassen. So blieb es bei einem Briefeschreiber , der kein Echo, keinen Einwand, keinen Trost oder Zuspruch findet. Tief in meinem Innern hatte ich gespürt, dass ich nur Lotte wirklich geliebt habe, das Empfinden für Maximiliane dagegen nur eine Schwärmerei gewesen war. Die zu schildernden Erlebnisse wollte ich deshalb auf diejenigen beschränken, die ich mit Lotte erlebt hatte. Das Schreiben ging wie von selbst und währenddessen spürte ich, wie ich mich mehr und mehr von Lotte löste. Ich entwickelte ein stärkeres Selbstbewusstsein. Wer war sie schon? Eine Figur in meinem Werk , die ich nach meinen Wünschen verändern konnte.
Ich fühlte meine Überlegenheit ihr gegenüber und spielte meine Macht aus, was sich darin äußert, dass sich nicht alle Geschehnisse in „Die Leiden des jungen Werther“ wirklich genauso abgespielt haben, sondern zum Beispiel einige Äußerungen Lottes von mir erdichtet worden sind. Als ich am Ende angelangt war , spürte ich noch immer einen Rest des grässlichen Herzschmerzes , den ich vollends auflösen wollte. Mir wurde klar, dass Werther zu sterben hatte, um meine Seele zu befreien. Doch wie ich dies schildern sollte wusste ich nicht so recht. Auch hier erhielt ich eine Eingebung, ein Perspektivwechsel sollte die Lösung sein. Ich griff nun auf den Bericht über den Tod Jerusalems zurück. Mein Werk war so nach nur drei Monaten fertiggestellt. Noch weiter hätte ich es treiben können, indem ich auch Albert, der natürlich den Charakter von Kestner darstellt, und Lotte hätte sterben lassen. Als Art persönlicher Triumph genügte es jedoch, mir auszumalen, wie die Beiden nach Werthers Tod zu leiden hatten. So wie ich leiden musste, weil ich Lotte nicht haben konnte.
Durch das Schreiben habe ich meine Sentimentalität und Schwächlichkeit abgelegt. Gereift und gestärkt war ich aus meiner schlimmen Situation hervorgegangen. Ich wünschte mir damals, dieses Buch könnte auch anderen helfen. Jeder, der sich unglücklich verliebt hat, sollte Trost aus Werthers Leiden schöpfen und seine Schmerzen versuchen zu vergessen, wie ich.
Doch es hätte mit mir auch in eine ganz andere Richtung gehen können.
So wie mit Hölderlin, den ich in Jena kennen lernte. Gleich als ich ihn zum ersten Mal sah, wusste ich , welch einen Dichtergeist ich vor mir hatte. Sein Talent wurde mir im Gespräch noch weiter offenbar. Er erinnerte mich an den jungen Goethe, voller Leidenschaft und Feuer. Es war eine Wonne, ihm zuzusehen. Ich hätte mich wohl mehr um ihm kümmern sollen. So aber erlag er seinem Schicksal:
Ich glaube, es war 1795, als er nach Frankfurt ging, um bei dem Bankiers Gantard als Hofmeister zu arbeiten. Dort lernte er die Frau des Bankiers kennen, Susette, seine Lotte, und seine Diotima, wie er sie nennt in seinem wundervollen Briefroman „Hyperion“ , der seine gebührende Anerkennung immer noch nicht erhalten hat. Die Beiden liebten sich, doch sie war ja bereits vergeben, und aus Angst, mittellos zu sein, wollte Susette ihre Ehe nicht beenden.
Auch Hölderlin versuchte, seine Leiden in einem Buch zu verarbeiten. Doch der Grundfehler bei „Hyperion“ ist, dass am Schluss die Hauptfigur
ins einsame Exil geht und eben nicht stirbt. Alle Erinnerungen an Susette lebten deshalb in Hölderlin weiter. Wegen seiner unerfüllten Liebe verlor er den Verstand und lebt jetzt allein in einem Turm.
Immer wieder stelle ich mir die Frage, ob es besser für ihn gewesen wäre, wenn ich ihm geraten hätte , den Versuch zu unternehmen, mit einem weiteren Buch seine Gefühle zu verdrängen. Ein umnachteter Hölderlin stellt für die Kunst natürlich einen großen Verlust dar. Vielleicht ist er selbst aber nun glücklich in seiner eigenen Welt, in der die Menschen ihr ursprüngliches Ideal erreicht haben und er mit seiner Geliebten zusammen sein kann. Wäre ich vielleicht sogar glücklicher, wenn ich in so einer Welt mit Lotte vereint wäre, hier auf Erden? Ich weiß es nicht.
Jahrzehntelang habe ich an meine Jugend nicht mehr gedacht, hatte nicht die Kraft , alle Geschehnisse ein zweites Mal zu durchleben. Das ist auch der Grund, warum ich in meinem ganzen Leben den Werthertext gemieden habe. Bei Fragen hinsichtlich des Buches versuchte ich immer, die Bedeutung des Werkes für mich als gering darzustellen. Aber ich bin stolz darauf, was ich als junger Mann bereits geschaffen habe, auch wenn ich mich als Schriftsteller um ein Vielfaches verbesserte.
Wenn ich nun zurückblicke wird mir klar, dass zwischen meiner jetzigen Situation und dem Tod nur eine Dolchspitze lag.
Über meine Werke sollen die Menschen in einhundert Jahren sagen, was sie wollen, aber diesen Sieg, dem Tod und auch dem Wahnsinn entgangen zu sein, kann mir niemand wegnehmen.

 

Friedvolle Grüße

Die Geschichte läßt mich etwas zwiegespalten zurück, was aber wohl daran liegt, das ich weder mit Goethes Biografie, noch mit seinen Werken vertraut bin. Jetzt darfst Du mich auch Banause nennen. :)

Mal davon ausgehend, das mir Goethe so bekannt ist wie ein fiktiver Charakter, finde ich die Geschichte nicht schlecht. Der Einstieg ist zwar etwas langatmig, doch am Ende, wo Du Goethe diesen Anfang reflektieren und kommentieren läßt, und ihm dann noch Hölderlin (der mir ebenfalls fremd ist) gegenüber stellst, wird die Sache ebenso interessant wie rund.

Bemerkenswert finde ich Deine Sprache. Sie ist zwar etwas sperrig, doch hatte ich beim Lesen niemals das Gefühl, Du schreibst irgendwas nur, um die Lücke zwischen zwei Textstellen zu füllen. Fast alles passt, ist nicht zu viel und nicht zu wenig. Beim ersten Lesen hat mich etwas die sprachliche Distanz gestört, denn als Ich-Erzähler sollte er emotionaler beschreiben. Da er das jedoch, wie Du am Anfang herausstellst, rückblickend aus der Distanz schreibt, geht auch das in Ordnung.

Jetzt würde mich aber mal interssieren, wie echte Goethekenner die Geschichte finden.

Kane

 

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