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Hänsel oder Gretel

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20.07.2015
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Hänsel oder Gretel

„Nur mal gucken; eine tolle Idee, Hänsel. Hier in diesem Wald ist alles gleich, unendlich lange Baumreihen in peinlich genauen Abständen. Lass uns zurückgehen, ich habe Brotkrumen zur …“, Gretel stockte, „Hänsel, was hast du getan?“
Er schaute Gretel mit einem Gesicht an, welches an eine Mischung aus Hamster und Hund erinnerte.
„Die waren zur Orientierung da! Es ist wichtig zu wissen, wo man sich gerade befindet! Jetzt können wir nicht mehr zurück!“
„Ach, mit vollem Magen bin ich aber leistungsfähiger und so kann ich getrost einen Umweg nehmen. Ich fühle mich gestärkt und kann nun die Führung übernehmen; bleib aber schön dran, Gretel! Ich gehe in diese Richtung!“
Hänsel drehte sich einmal im Kreis und zeigte dann in irgendeine Richtung, zumindest kam es Gretel so vor.
„Warum denkst du, dass wir dort etwas finden werden?“
„Ich denke nicht, ich marschiere.“
Hänsel stapfte los, und vor den beiden tat sich nach einiger Zeit eine Hütte auf.
„Siehst du Gretel, ich wusste doch, dass ich in die richtige Richtung gehe.“
„Dieser Bau sieht merkwürdig aus, lass uns näher ran gehen.“
„Ach Gretel, ich weiß nicht so genau …“
„Du hast uns hierher geführt und jetzt ziehen wir das auch gemeinsam durch!“
Er begann zu schwitzen, willigte dann aber ein.
Zu ihrem Erstaunen stellten beide fest, dass die komplette Hütte aus Lebkuchen bestand. Doch damit nicht genug; hinter ihr floss ein kleiner Bach. Dieser führte aber kein Wasser, sondern Wein. Hänsel steckte den Kopf hinein und nahm mehrere große Schlucke.
„Hänsel, nicht!“
Er hörte nicht. Er ging an die Stirnseite der Hütte und biss in das Fensterbrett, welches direkt neben der Eingangstür ein Fenster zierte.
„Hänsel, hör bitte auf damit!“
Der Wein ist ihm bereits zu Kopfe gestiegen und der Magen war gefüllt, als sich plötzlich die Tür öffnete:
„Knusper knusper knäuschen, wer knabbert an meinem Häuschen?“
Die beiden Kinder standen einer alten Dame gegenüber. Sie trug einen Zylinder, welcher in Schwarz, Rot und Gold gehalten war und sie zeigte mit dem Zeigefinger und ernster Miene auf die Beiden.
„Ähm, … ich ...“, Hänsel stammelte.
„Wir sind Hänsel und Gretel und haben uns hier im Wald verirrt. Könnten Sie uns bitte sagen, wie wir hier herauskommen?“
Als die Dame anfangen wollte zu reden, übergab sich Hänsel in ein Beet aus Marzipanrosen. Seinen Mund spülte er in dem kleinen Bächlein aus, nahm noch zwei große Schlucke und stellte sich taumelnd vor die ältere Dame.
„Ich bin Hänsel. Ich bin nun hier. Lasst mich herein, bereitet mir ein Bett und den Rest klären wir morgen. Oder übermorgen. Ist doch egal!“
„Kommt herein, meine Kinder“, sagte die alte Dame mit ruhiger Stimme.
Hänsel stürmte in die Hütte und setzte sich an einen kleinen Tisch. Gretel stellte sich in die Mitte des Raumes. Die alte Dame bot den beiden etwas Wasser an. Gretel nahm dieses Angebot dankend an; Hänsel aber wollte Wein. Die Dame erfüllte ihm diese Bitte und wandte sich zu Gretel.
„Kann ich dir noch etwas anderes Gutes tun, meine Liebe?“
„Ja, werte Frau, Sie könnten uns sagen, wie wir aus diesem Wald herauskommen.“
„Wollt ihr dahin zurück, wo ihr hergekommen seid?“
„Manchmal ja, aber das geht nicht. Wir können nicht zurück.“
Die alte Dame schaute etwas bedrückt, so als wüsste sie genau, von was Gretel redete.
„Hier, nimm dies.“
Die alte Dame gab Gretel einen Kompass.
„Es ist wichtig zu wissen, wo man sich gerade befindet.“
Gretel nahm den Kompass und steckte ihn in ihre Tasche.
„Nun lege dich hin und schlafe ein wenig. Ihr müsst fit sein, wenn ihr morgen Früh aufbrechen wollt.“
Gretel schaute hinüber zu Hänsel. Dieser saß noch immer am Tisch, allerdings lag sein Kopf darauf und er sabberte wie ein kleines Kind auf die Tischplatte.
„Ich kümmere mich noch um deinen Bruder, mach dir keine Sorgen.“
Gretel war nicht ganz wohl bei dieser Sache, ihren Bruder wollte sie in diesem Moment nicht allein lassen. Sie legte sich auf ein Fell in der Nähe des Kamins und äugte durch dünne Lider herüber zu der alten Dame. Diese schürte ein Feuer in ihrem Herd, Hänsel sabberte währenddessen weiter auf ihre Tischplatte.
Warum hat sie nichts gesagt, als Hänsel in ihre Blumen gekotzt hat? Warum sagt sie auch jetzt nichts, wo er ihren Tisch dreckig macht? Was macht sie jetzt am Herd? Bereitet sie für uns eine Mahlzeit vor? Ist sie tatsächlich so fürsorglich?
Die Gedankenflut wog Gretel in den Schlaf. Sie träumte nicht, zu seicht war er und bereits nach ein paar Augenblicken schon wieder vorbei – sie erwachte, öffnete die Augen und sah, wie Hänsel die alte Dame von hinten stieß.
„Hänsel, was machst du denn da?“
Er erschrak, blickte kurz zu Gretel, holte mit seinem Becken Anlauf und gab der alten Dame einen derart kräftigen Stoß, sodass sie im Ofen landete.
„Warum hast du das getan?“
„Jetzt hör schon auf den Moralapostel zu spielen. Ich habe alles bekommen, was ich wollte: Spaß, Abenteuer, Sex, Suff und was zu Essen. Ich hau ab!“
Kopfschüttelnd lief Gretel Hänsel hinterher. Als sie die Hütte verließen, brach sie sich noch ein Stück von der Eingangstür ab und steckte es sich als Wegzehrung in die Tasche. Hänsel schob sich ein Stück von der Fassade in den Rachen und spülte es mit einem ordentlichen Schluck Wein hinunter. Während er erneut mit dem Brechreiz rang, schaute Gretel auf den Kompass, welchen sie von der alten Dame bekommen hatte.
„Es ist wichtig zu wissen, wo man sich gerade befindet“, flüsterte Gretel.
Gretel hatte einen Plan. Hänsel nicht.
„Komm Hänsel, wir verlassen diesen Ort.“
Der Weg schien endlos, was aber daran lag, dass in diesem verdammten Wald alles, wirklich alles gleich aussah. Die Nacht brach über die beiden herein und es herrschte Stille, völlige Stille und Orientierungslosigkeit.
„Hier Hänsel, nimm etwas von meinem Proviant.“
Selbstlos teilte Gretel mit ihrem Bruder, welcher natürlich nichts außer Staub in seinen Hosentaschen mit sich trug. Trotz seines noch vollen Bauches stopfte er sich den Proviant in den Rachen.
„Hast du auch einen Schluck Wein? Wie soll ich das trockene Zeug sonst runterkriegen?“
Mit den ersten Sonnenstrahlen kam auch die Gewissheit, dass Gretel den Kompass richtig eingesetzt hatte. Der Wald endete völlig abrupt, genauso, wie er angefangen hatte. Keine Bäume mehr, sondern eine unbekannte, mit geschwungenen Hügeln und teilweise uneinsichtigen Tälern gespickte Landschaft, welche auf eine anscheinend unendliche Entdeckungsreise einlud.
Gretel griff in ihre Tasche und fingerte ungefähr die Hälfte, eher etwas mehr, der Lebkuchenbrösel heraus und gab sie zusammen mit dem Kompass ihrem Bruder. Dieser schaute verdutzt.
„Wo willst du hin, Gretel?“
„Ich gehe leben, kommst du mit?“
„Ich…“
Hänsel ging ein paar Schritte und stürzte über einen Stein, welcher ihm im Weg lag. Die Brösel verteilten sich im hohen Gras, es schien, als wären sie darin verschwunden.
Gretel war wenige Schritte von ihm entfernt. Sie saß auf dem Boden und schaute zu ihm hinüber.
„Gretel, ich… Ich …“
Sie wandte den Kopf von Hänsel ab und blickte in die Ferne.
Er stand auf. Er sah sich um; hinter ihm der Wald, vor ihm die freie und scheinbar förmlich nicht gebundene Landschaft, über ihm der Himmel und die Sonne.
Er nahm den Kompass fest in seine Hand und zerschmetterte ihn auf dem Stein, über welchen er gestolpert war.
Danach ging er zurück in den Wald.

 

Mir hat das Ding ziemlich gut gefallen.

Wir habens hier mit einer Neuinterpretation von Hänsel und Gretel zu tun und sehen zwei Figuren, die einen komplett neuen Anstrich bekommen haben: Gretel ist das folgsame Mädchen mit einer gesunden Paranoia, Hänsel ist partysüchtiger Draufgänger, der nicht weiter denkt, als sein Blickfeld es zulässt.

Wäre zu einfach, wenn wir die beiden jetzt Schwarz und Weiß anmalen würden, denn dann wäre ja klar, wen von beiden wir eigentlich mögen müssten -- aber das fand ich gerade am Ende schwierig. Wir werden zwar in eine eindeutige Ecke geschubst, wonach das Gretel genau weiß, was Sache ist, aber ich rolle die Geschichte mal so auf, wie ich sie für mich gesehen habe:

Der Hänsel, ja, der weiß, wo er hin will: In den Wald, Scheiß erleben, Märchenfiguren flachlegen und sich die Birne zulöten.

Und das Gretel? Ja, die steht jetzt schön blöde da und weiß nicht, wo sie hin soll, weil ihr niemand etwas sagt und es keinen Pfad gibt, dem sie folgen kann. Ich frage mich, was aus ihr wird. Was aus dem guten Hänsel wird, kann ich mir ja so einigermaßen denken. Mehr vom selben und irgendwann geht das nach hinten los. Aber das Gretel? Ohne ihren Kompass kann sie gerne geradeaus gehen, Berge hochklettern und durch Täler latschen, bis sie schwarz wird. Irgendwann kommt sie schon wieder inne Stadt, in der ihr irgendwer sagt, was sie als nächstes zu tun hat.

Ob das nun wirklich das ist, was man möchte, sei dahin gestellt.
Ich wüsste spontan nicht, wem ich am Scheideweg folgen müsste, wenn ich der Dritte im Bunde gewesen wäre.

Und genau darum find ich das Ding ganz stark.

„Wo willst du hin, Gretel?“
„Ich gehe leben, kommst du mit?“

Fand ich toll. Wer von beiden leben geht, ist wohl eindeutig subjektiv. Hänsel sieht das auch ganz anders, wie man sieht.

Gretel stürzt sich in etwas, dass ich als eine Metapher fürs Leben sehe und der Hänsel geht in seinen Wald, der Unbekanntes darstellt. Beides Varianten zu leben. Schade, dass Hänsel sich dazu nicht geäußert hat.

 

Hallo salzundpfeffer,

herzlich willkommen hier.

Eine schöne Idee, dein Einstand hier. Vorneweg ein paar Kleinigkeiten, über die ich gestolpert bin:


Er schaute Gretel mit einem Gesicht an, was an eine Mischung aus Hamster und Hund erinnerte.
hier müsste es "das" oder "welches" heißen. So ist es etwas missverständlich.


ich habe Brotkrumen zur…
Ein typografische Kleinigkeit: Fortsetzungspunkte beginnen mit Leerzeichen, wenn das letzte Wort vollständig ist. Also "ich habe Brotkrumen zur ..." im Gegensatz zur Unterbrechung im Wort wie z.B. "Ich hab dich lie..."


„Warum denkst du, dass wir dort etwas finden werden?“
„Ich denke nicht, ich marschiere.“
Find' ich sehr gut!


So gingen die beiden zu der Hütte. Zu ihrem Erstaunen stellten beide fest, dass die komplette Hütte aus Lebkuchen bestand. Doch damit nicht genug; hinter der Hütte floss ein kleiner Bach.
Hier häuft sich die Hütte etwas arg - und im nächsten Absatz kommt sie gleich noch einmal.


Der Wein ist bereits in seinen Kopf gestiegen
Das klingt etwas befremdlich. Geläufiger wäre es "... ist ihm in den Kopf gestiegen"
Aber das mag jetzt recht subjektiv sein.


„Ähm…Ich..“, Hänsel stammelte.
Siehe oben: "Ähm, ... ich ..."


„Wir sind Hänsel und Gretel und haben uns hier im Wald verirrt. Könnten sie [Sie] uns bitte sagen, wie wir hier herauskommen?“
Höflichkeitsanrede in der wörtlichen Rede groß.


„Ich bin Hänsel. Ich bin nun hier. Lasst mich herein, bereitet mir ein Bett und den Rest klären wir Morgen [morgen]. Oder Übermorgen [übermorgen]. Ist doch egal!“

Hänsel aber, [kein Komma] wollte Wein.

„Kann ich dir noch etwas anderes Gutes tun, meine liebe [Liebe]?“

„Ja, werte Frau, sie [Sie] könnten uns sagen, wie wir aus diesem Wald herauskommen.“
siehe oben


Gretel schaute herüber [hinüber] zu Hänsel
schaute "zu ihm hin", also HINüber.


Diese schürte ein Feuer in ihrem Herd, Hänsel sabberte währenddessen weiter auf ihre Tischplatte.
So was gefällt mir einfach!


„Es ist wichtig zu wissen, wo man sich gerade befindet. [kein Punkt] “, flüsterte Gretel.
Kein Punkt, wenn der Begleittext noch weiter geht.


Hänsel ging ein paar Schritte und stürzte über einen Stein, welcher in seinem Weg lag.
Das holpert! Entweder "... welcher AUF DEM Weg lag" oder besser "... welcher IHM IM Weg lag"


Er nahm den Kompass fest in seine Hand und, [Kein Komma] er zerschmetterte ihn auf dem Stein, über welchen er gestolpert war.

Sie saß auf dem Boden und schaute zu ihm herüber [hinüber].
Siehe oben.


Obwohl ich nicht allzuviel für Märchen übrig habe, hat mir deine Geschichte gut gefallen. Der abenteuerlustige, draufgängerische Sorglos-Hänsel und die pessimistisch planvolle Sorgen-Gretel machen miteinander ein Stück ihres Lebensweges. Wie metaphorisch auch immer man die Geschichte sehen mag, sie gängelt nicht und ist auch sprachlich gut gelungen.
So gefällt mir auch die sprachliche Differenzierung zwischen Erzähler, Hänsel und Gretel recht gut.

Insgesamt also gut geschrieben, angenehm fehlerfrei, so dass meine Anmerkungen oben wirklich nur als Kleinigkeiten zu sehen sind.

oisisaus

 

Hallo NWZed
Deine Interpretation ist wirklich interessant! Es freut mich sehr, wie du am Ende der kurzen Geschichte ins straucheln kommst - ja, das freut mich wirklich. Es ist wirklich gut, dass du das so siehst, denn SO habe ich die Geschichte noch nicht gesehen; danke also fürs mitteilen!
Warum bist du aber der Meinung, dass der Wald das Unbekannte darstellt?

Hallo oisisaus
Vielen Dank für die Anmerkungen. Ja, mit dem richtigen Ausdruck hapert es manchmal ein bisschen. Dies ist ja aber zum Glück nichts, an dem man (ich) nicht arbeiten kann. Auch habe ich die anderen Dinge beachtet und verbessert, welche du erwähnt hast - danke dafür!

War schön von euch zu lesen

salzundpfeffer

 

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