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Hören ohne Musik
Es geschah in einer solchen Nacht, die einen komplett verschlucken kann, wenn man nicht aufpasst – ich war neunundzwanzig Jahre alt und trug so ein Gefühl in mir, dass alles tot ist, dass nichts mehr kommt. Ich zog mir meinen Mantel über und lief durch die Stadt, schaute mir alles an, die Häuser, die Bäume, die Menschen, und das beruhigte mich auf eine unerklärliche Art.
Sie stand vor mir am Tresen und zuerst hielt ich sie für ein Kind, die dünnen Arme, Beine, die langen, braunen Haare, eine Tasche mit Blumenmustern um die Schulter, dazu reichte sie mir nicht mal bis zum Kinn – doch als sie sich umdrehte, sah ich ihr in die Augen, und sie hatten etwas Altes, Gebrochenes, sie waren schwarz und gleichzeitig schimmerten sie grau, und ich fragte mich, ob Augen aus Trauer die Farbe ändern können, so wie manche graue Haare bekommen.
Sie hielt in beiden Händen ein Bier und schaute mir ins Gesicht, und ich hasse es, wenn mir Leute ins Gesicht schauen; ich spürte ihren Blick über meine Wangen wandern, dann zu meinen Augen, zum Hals, immer den roten Linien meiner Narben entlang. Ich wollte schon an ihr vorbei gehen, zum Tresen, wollte Bier bestellen, da lächelte sie plötzlich, und dieses Lächeln kam mir bekannt vor, ich glaubte es zu kennen, aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben.
Sie hielt mich am Arm fest und rief dann: „hey!“, weil die Musik so laut war.
„Hey“, sagte ich und ging weiter.
„Wie findest du die Band?“, hörte ich sie fragen.
Ich drehte mich um und wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Ich verstand nicht einmal, warum ich hier war; als ich die Gitarren und Trommeln von der Straße aus gehört hatte, zogen sie mich an, wie das Licht manchmal einen alten Nachtfalter anzieht, aber spüren, spüren konnte ich sie noch nie, die Musik, nichts an den Klängen, die ich wahrnehme, läuft in meine Gliedmaßen oder in meinen Kopf oder Bauch – es sind Geräusche, deren Töne ich höre und einordnen kann, aber das andere, das hinter alldem steht, das fühle ich nicht. Trotzdem stand ich hier.
„Und?“, fragte das Mädchen und lächelte weiter.
„Es klingt gut“, sagte ich. Dann schwiegen wir einen Augenblick und ich wusste nicht, ob ich gehen sollte oder nicht.
„Soll ich gehen?“, fragte ich und dann lachte sie.
„Quatsch“, sagte sie und hörte auf, auf meine Narben zu schauen. Ich fühlte mich gleich besser. „Bist du ganz alleine da?“, fragte sie.
Ich nickte.
„Hier, für dich.“ Sie reichte mir eine ihrer Flaschen. Dann nahm sie mich an die Hand und wir gingen in Richtung Bühne, zwischen viele Menschen, die schwitzten und sich bewegten; das Mädchen begann zu tanzen und lächelte dabei auf so eine ehrliche, warme Art vor sich hin, doch dann stand da ein Punk neben mir, der starrte mir ins Gesicht, und zwischen all dem Lärm legte sich eine unerträgliche Stille auf meine Brust, schwer wie der dunkle Himmel dieser Nacht. Ich ging nach draußen und steckte mir eine Zigarette an.
„Willst du schon gehen?“ Das Mädchen stand wieder vor mir. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn und ihre Haare standen kraus von ihr ab.
„Ich denke, ja“, sagte ich und rauchte weiter. Sie zündete sich eine Zigarette an und schaute hoch in den Himmel. „Voll schade, man sieht heute gar keine Sterne.“
Ich stimmte ihr zu, dann fragte ich: „Wieso gehst du nicht zu deinen Freunden?“, weil ich wissen wollte, wieso sie nicht zu ihren Freunden ging. Sie schaute bedrückt zur Seite, erst nach links, dann nach rechts, schließlich runter auf ihre Füße. Um uns herum standen Menschen, unzählige, sie grölten und tranken und urinierten und rauchten, aber das störte mich nicht, so wie ich Musik nicht höre, so höre ich auch diese Menschen nicht.
„Soll ich dir mal zeigen, wo man heute richtig gut Sterne sehen kann?“, fragte das Mädchen plötzlich und sah mich wieder an, aber nicht auf die Narben. Ich überlegte kurz, was ich darauf sagen sollte, dann dachte ich an den schweren, schwarzen Himmel dieser Nacht und daran, dass ein paar Sterne mir das Gefühl womöglich etwas erträglicher machen könnten, das er mir gab. Ich willigte ein.
Wir liefen die Hauptstraße entlang, aus dem Hafen hinaus, in die Altstadt und über eine Holzbrücke hoch zur alten Stadtmauer. Während wir liefen, versuchte das Mädchen, auf jedes verwelkte Blatt, das sie sah, zu treten, und dabei stellte sie mir unzählige Fragen – sie fragte mich, woher ich komme, wie alt ich sei und von was ich lebe und nach meiner Lieblingszahl; sie fragte mich nicht nach den Narben, und deswegen versuchte ich, all ihre Fragen gewissenhaft zu beantworten. Das freute sie, glaube ich – sie lächelte, als ich ihr von der Maschine erzählte, vor der ich jeden Tag stand, von den Blechteilen, die in sie hineinfahren und den Chips, die aus ihr herauskommen; von der Zahl Zweitausenddreihundertdreiundvierzig, weil das die höchste Zahl an Verteilerchips war, die meine Maschine je an einem Tag ausgespuckt hatte. Bei all den Fragen vergaß ich, das Mädchen nach ihrem Namen zu fragen, und sie fragte auch nicht nach meinem.
Als wir auf der Stadtmauer standen, wurde sie plötzlich ruhig. Sie nippte an ihrem Bier, krabbelte den Stein vor bis zur Kante und schaute hinunter, und da ich Angst bekam, die Nacht könnte sie verschlucken, hielt ich sie fest, an der Hand. Da sah sie mich auf einmal an und sagte: „Wenn du dich umbringen wollen würdest, wie würdest du's dann machen?“
Ich dachte einen Moment lang nach und dann sagte ich ihr, dass ich meinen Kopf unter den Kolben meiner Maschine stecken würde, weil sie mir innerhalb von einer Viertelsekunde mein Gehirn zerschlüge. Da lachte sie wieder, drückte meine Hand und sagte: „Ich würde irgendwo runterspringen. Da würde ich davor noch mal fliegen, weißt du, da würde ich davor noch mal das Gefühl haben, dass ich richtig fliegen kann, wie n Vogel oder so.“
Ich fand ihren Gedankenansatz interessant und als wir weiterliefen, ließ sie meine Hand nicht los. Das Mädchen redete wieder, über ihre Familie, und ich hörte ihr so gebannt zu, dass ich irgendwann geschockt feststellte, dass ich vollkommen die Orientierung verloren hatte.
„Wo sind wir?“, fragte ich.
„Am Karltal“, sagte sie.
„Am Karltal?“
Mir war nicht klar, wieso man hier die Sterne sehen sollte, und nicht woanders. Ich fragte sie danach, aber sie zuckte bloß mit den Schultern.
„Weil da unser Garten ist. Und in unserem Garten hat man die Sterne schon immer am besten gesehen, sagt mein Papa immer.“
Wir hielten vor ihrem Haus. Sie ließ meine Hand los und grinste mich an.
„Gleich lernste meine Blacky kennen“, sagte sie, „nicht erschrecken: Die bellt am Anfang immer ziemlich viel, aber eigentlich ist sie ganz lieb.“
Ihre Worte trafen mich wie ein Eimer kaltes Wasser, mir wurde schwindelig, übel, ich fror.
„Ich kann nicht“, sagte ich und trank den letzten Schluck aus meiner Bierflasche.
„Komm schon“, sagte sie, griff mit beiden Händen nach meinem Arm und zog dann grinsend daran, „die macht schon nix!“
Das Mädchen verstand nichts. Ich rauchte noch eine Zigarette, nahm tiefe, hungrige Züge. Sie zog weiter an mir, hörte nicht auf, und weil ich schließlich Angst bekam, sie könnte dabei irgendwie zerbrechen, gab ich nach und schritt zitternd und mit nassen Händen durch das Gartentor zur Treppe vor ihrem Haus. Dort blieb ich stehen, als sie mit ihrem Schlüssel herumhantierte. Als sie schließlich die Türe öffnete, raste mir ein furchtbares Gefühl durch den Körper, meine Beine kribbelten, meine Füße wurden taub – ich wollte wegrennen, blieb aber stehen, paralysiert; vor mir breitete sich das Wesen aus, und das Schwarz seines Fells kam mir größer, mächtiger, gefährlicher vor, als alles Schwarz dieser Nacht. Der Hund erschien mir wie eine dunkle Wolke, mit toten Augen wie tiefe Tunnel, die mich fixierten – dazu der furchtbare Klang seines Bellens, der ihm wie Donner aus dem Hals schallte.
Ich fiel fast nach hinten, stolperte über eine Treppenstufe, da packte mich das Mädchen wieder an der Hand.
„Keine Angst“, sagte sie, „Blacky! Sei still! Keine Angst, die meint das nicht so.“
Sie hielt den Hund mit ihrem Bein zurück und nach einer Weile beruhigte er sich und lief stumm im Gang auf und ab, den Blick nie von mir abgewandt.
„Komm rein, jetzt ist gut“, sagte sie. Ich atmete durch und dann folgte ich ihr.
Während wir ins Wohnzimmer gingen, schwirrte der Hund wie ein Schatten um uns herum.
„Das da ist mein Papa“, flüsterte sie und deutete in Richtung Couch. „Willst du ihn mal sehen?“ Ich schüttelte den Kopf, aber das Mädchen zog mich einfach mit, und ich hatte längst aufgegeben, ihr Widerstand zu leisten. Sie nahm den Zigarettenstummel aus der Hand ihres Vaters und flüsterte: „Der Papa schläft um die Uhrzeit immer so tief, der hört nicht mal die Blacky bellen.“
Ich blickte ihrem Vater ins Gesicht. Es war ein eingefallenes, müdes, ledriges Gesicht, mit dunklen, langen Wimpern und trockenen Lippen. Das Mädchen räumte die Bierdosen vom Tisch, schaltete den Fernseher aus und legte eine Decke auf ihren Vater.
„Er ist eigentlich ein guter Mensch“, flüsterte sie, während sie das alles machte. „Rechtsanwalt: versucht immer, den Armen zu helfen.“
Ich nickte und ging einige Schritte zurück, ehe ich stoppte, weil ich den Schatten hinter mir spürte. Dann zeigte mir das Mädchen ihr Haus, zeigte mir den Keller, zeigte mir das Regal mit den Hunderten von Eisenbahnmodellen, zeigte mir den winzigen, verrauchten, fensterlosen Raum, in dem ihr Vater früher Lokomotiven gebastelt hat, als er die Schreie seiner Frau nicht mehr ertragen konnte. Zum Schluss zeigte mir das Mädchen ihr Zimmer, und als sie die Tür hinter sich schloss, taute sie plötzlich auf.
„Das da ist die alte Polaroid von meiner Mama“, sagte sie und deutete auf einen Fotoapparat auf der Kommode. „Den hatten wir früher immer im Urlaub dabei“, sagte sie, hielt ihn sich ans Auge, visierte mich an und drückte ab. „Geht aber nicht mehr, glaube ich.“
Dann zeigte sie mir noch eine Menge Dinge. Sie sammelte nämlich alles Mögliche: Steine, die sie früher zusammen mit ihrem Vater an der Ostsee gefunden hatte, Hausaufgabenhefte aus der Grundschule, Haarsträhnen, die sie sich selbst abgeschnitten und auf ein Blatt geklebt hatte, darüber das jeweilige Datum: 4. April 2004, 29. November 2005, ...
Ich musste immer wieder zum Hund schielen – er lag gegenüber von uns unter dem Schreibtisch und starrte mich an.
Als wir im Garten standen und in den Himmel schauten, war ich enttäuscht.
„Hier sind keine Sterne“, sagte ich und atmete tief ein.
„Doch klar“, sagte sie, „siehst du sie nicht?“
Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte nach einigen Sekunden den Kopf.
„Nein.“
„Ich kann sie sehen“, sagte sie, „ich kann sie immer sehen, hier, vom Garten aus.“
Später tranken wir noch ein Bier und saßen schweigend auf ihrem Bett.
„Ich weiß nicht, wie ich wieder zurück nach Hause finden soll“, sagte ich, weil ich Angst hatte, wieder alleine unter der schweren, schwarzen Decke zu stehen.
„Du kannst hier schlafen, wenn du willst“, sagte sie und zuckte mit den Schultern. Ich sah zu dem Hund und war mir nicht sicher, ob er nicht doch verstand, was wir sagten.
Als wir im Bett lagen, wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt mit einer Frau im Bett gelegen war, wann mich zuletzt eine Frau berührt hatte. Ich spürte ihren heißen Atem, sah die Straßenlaterne in ihren Augen glänzen, sah die dünnen, spröden Lippen und die Sommersprossen. Ich strich ihr durchs Haar und als ich über ihre weiche, warme Haut fuhr, hatte ich für einen Augenblick das Gefühl, Musik zu hören – nicht die Töne und Klänge, sondern das andere.
Ich küsste sie und dann glitt meine Hand in ihre Unterhose. Das Mädchen zog meine Finger heraus, drückte mich weg, rutschte ein Stück weit in die Ecke und sagte: „Bitte nicht. Bitte nicht das.“
Dann sahen wir uns einige Minuten lang an, bis sie sich umdrehte und einschlief. Ich lag wach, lange; so lange, bis die Tür aufging; so lange, bis ich sein Atmen hinter mir hörte, den Geruch seiner Zigarette roch; so lange, bis er die Kippe auf den Boden fallen ließ und sie mit dem Fuß ausdrückte. So lange lag ich wach.
Als ich die Haustür leise öffnete, war der Himmel bereits blaugrau verfärbt, und ein Gefühl der Leichtigkeit machte sich in mir breit, wie es sich immer nach so einer dunklen Nacht in mir breit macht. Ich atmete tief ein, roch den Geruch des anbrechenden Sommermorgens: Tau, Wiese, Erde, Blumen, Blätter. Ich ging einen Schritt, drehte mich um und dann erschrak ich: Der Hund stand hinter mir, in der Tür, starr, wie vereist. Ich sah ihn an, aber plötzlich hatte ich nicht mehr dieses Gefühl, weglaufen zu müssen. Ich sah ihn an, und ich hatte das Gefühl, dass seine Augen nicht mehr tief und schwarz waren, sondern blaugrau, und auch er sah mich an, und in seinem Blick lag nicht mehr dieser blinde Hass, den ich so fürchtete, da lag etwas anderes – da lag etwas Altes, Gebrochenes. Ich streckte ihm meine Hand entgegen und wollte ihn streicheln, aber er zuckte weg. Das verstand ich. Man durfte ihm nicht zu nahe kommen, nicht auf diese Weise.
Ich ging die Straße entlang und nahm noch ein paar tiefe Atemzüge. Dann dachte ich wieder über den Hund nach. Dann dachte ich über den anderen Hund nach. Den, von früher; dann dachte ich an die Nacht, als ich und meine Schwester den Hund besuchen wollten, den, von früher; dann dachte ich an den Zwinger und die Tür, die man nur von außen öffnen konnte; dann dachte ich an ihre Schreie und das viele Blut, und daran, dass ich mich gewundert hatte, dass ihr Blut nicht rot, sondern schwarz ist – über all diese Dinge dachte ich nach, an diesem Morgen.