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Hörsaal 8

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21.01.2002
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Hörsaal 8

Ein Gähnen wandert diagonal durch den Raum. Das leise, unnatürlich hohe Sirren der Neonröhren schleicht sich an mein Ohr heran, wird lauter, dann wieder ein bisschen leiser. Irgendwo trommelt ein nervöser Finger auf einen Tisch. Jemand hustet. Die kahlen weißen Wände erinnern an nichts, sie riechen ein bisschen nach Staub und Farbe, vielleicht aber auch nicht. Es ist still. Es ist so still, dass jedes noch so kleine Geräusch einem Presslufthammer ähnelt.
Ich kneife die Augen ein bisschen zusammen. Der Raum verschwimmt zu einem trapezförmigen Gebilde, die Ecken werden immer spitzer, bis sie fast zu einer Geraden werden. Langsam öffne ich meine Augen wieder, bis wieder der Raum vor mir liegt, das weiße Rechteck. Dann reiße ich sie weit auf, schiele ein bisschen und versuche, den Raum in ein Dreieck zu verwandeln. Die Boden etwas breiter, die Decke etwas kürzer... ich lehne den Kopf leicht zurück, dann wieder leicht nach vorne. Es klappt nicht.
Die Neonröhren sind noch weißer als die Wände. Wie breit der Raum wohl ist? Stumm versuche ich die Entfernung zu schätzen. Ich stell mir vor, alles in diesem Raum wäre weiß. Würde er dann noch größer wirken?
Wie viele Leute hier wohl rein passen? Hundert bestimmt. Oder vielleicht doch achtzig. Hundert mit Stehplätzen.
Heute ist es nicht so voll. Die Leute sehen in alle möglichen Richtungen. Auf den Boden, nach vorne, schräg ins Nichts. Sie haben diesen leeren Blick. Wie die Menschen im Bus. Man denkt, sie sehen einen an, aber in Wirklichkeit sehen sie durch einen hindurch. Ich frage mich, woran sie denken. Viele haben den Kopf ein wenig zur Seite gelehnt, auf die flache Hand gestützt, so dass sich kleine Fältchen unter einem Auge bilden. Die Stille zieht sich wie ein Kaugummi, lang und länger, man denkt immer, dass er gleich reißt, aber er tut es nicht. Die Neonröhren sirren. Das Geräusch macht mich fast wahnsinnig, schleicht sich um meinen Kopf herum, vom einen zum anderen Ohr.
Zum zwanzigsten Mal sehe ich auf die Uhr. Bewegt sich der Zeiger überhaupt? Hier drin scheint die Zeit still zu stehen, scheint es gar keine Zeit zu geben, Unendlichkeit. Unendlichkeit und Stille. Leere. Nichts. Jahrzehnte vergehen.
Doch dann, plötzlich, beginnen Füße zu scharren, Blätter zu rascheln, abwechselnd, jemand rutscht mit seinem Stuhl herum. Schon steht der erste auf, Gesprächsfetzen vertreiben die Leere. Für mich klingt es wie Musik, die mich erlöst von der unerträglichen Stille, der scheinbaren Einsamkeit. Erst jetzt merke ich wieder, dass die Stille gar nicht so still war, dass es Worte gab, Sätze, einen ganzen Vortrag, aus meinem Mund. Lauter und lauter wird es im Raum, die Geräusche klingen fast rhythmisch, wie ein gutes Percussionstück und verwandeln sich in ein gleichmäßiges müdes, aber doch beifälliges Klatschen.

Merken: Für mein nächstes Referat sollte ich Gogo-Girls mitbringen.

 

Waren wir zufällig gestern gemeinsam in der Vorlesung? :eek: :confused:


Die Langeweile hast du gut beschrieben, wie ich meine. :dozey:
Was man sich alles durch den Kopf gehen lässt - was einem im nüchternen Zustand nie einfallen würde - ist in der Tat etwas bedenklich. Eigentlich fast nicht vorstellbar, wieviele neue Erkenntnisse so ein Vortrag bewirken kann...


Gruß, Hendek

[Beitrag editiert von: Hendek am 23.01.2002 um 03:58]

 

liest sich brutal gut
auch von der länge her
nette wendung am schluss
gefällt mir voll

 

hi, die story gefällt mir, du sprichtst mir zum teil aus der seele. allerdings dachte ich, dass nur helge schneider es fertig bringt, räume spontan in dreiecke zu verwandeln...

 

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