- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Herbstsommer
„Woah, endlich Ferien!“
Ich strecke und recke mich in meinem Stuhl und seufze behaglich. Wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet! In der letzten Woche war es echt schwierig für mich gewesen, mich im Unterricht zu konzentrieren. Nun ist alles hinter mir, die Arbeiten und Tests, die Lehrer, die Klasse, die Stufe und vor allem die Zeugnisse. Juhu, keine einzige Vier im Zeugnis! Mein Herz hüpft vor Freude, wenn ich daran denke. „Das Leben ist doch noch schön ...“, murmle ich.
„Das Leben ist scheiße!“, rief Johanna auf der Hermansbrücke aus. Kein Mensch war zu sehen, kein Autofahrer fuhr vorbei. Diese Chance ließ sie sich nicht entgehen, deswegen rief sie diesmal noch lauter: „Du arschgeficktes Leben!“ Ihre Schultasche lag neben ihr, darin die schweren Bücher und vollgeschriebenen Hefte. Wie sehr sie diese Dinge hasste. Vor allem die Blätter, die mit roter Farbe übersät waren und darunter immer eine rote fette Zahl stehen hatten. Johanna sah sich den schmutzigen Fluss unter der Brücke an. Durch die dicken Holzbretter erblickte sie eine Entenfamilie, die so laut waren, dass man sie bis zu dieser Höhe hörte – hören musste. Als würden sich die Enten unter ihr über sie lustig machen. Das Wasser des Flusses war grau bis braun. Johanna hasste die Umweltverschmutzung. Sie warf ihre erloschene Zigarre in den Fluss. Sie hasste sich selbst. Sie hasste ihre Klasse. Sie hasste Sebastian. Dieser Blödmann! Der Gedanke an Sabina wurde unerträglich und doch konnte sie diesen Gedanken nicht verhindern: Gelacht hatte Sabina in Sebastians Armen! Und Sebastian, dieser Idiot, der hatte mitgelacht. Und dann... nein, daran wollte sie echt nicht denken. Wie als ob sie diese Erinnerung vertreiben könnte, schüttelte sie wild ihren Kopf,sodass ihr Haar ihr ins Gesicht schlug. Das Haar war nass, ihr Gesicht schmerzte und durch die Kälte war ihre Nasenspitze schon ganz rot. Was war schon die Vergangenheit! Hatte sie sich selbst nicht geschworen, dies alles zu Vergessen? Aber den Schmerz konnte und durfte sie nicht vergessen. Sie würde ihn für ihre Rache brauchen. Am Himmel hangen graue dunkle schwere Wolken, es würde bald wieder anfangen zu regnen. Ihre Schultasche hatte Wasser vom Boden aufgesogen und nahm Dreck mit. Johanna ärgerte sich noch mehr. Es wäre so einfach, diese blöde Schultasche in den Fluss zu werfen. Plötzlich überfiel sie eine ungeheure Lust genau das zu tun. Sie griff nach der Tasche, die schwer war, und holte aus, um es schließlich von der Brücke zu werfen, als eine Hand sie am Arm packte. Überrascht und verblüfft starrte Johanna in ein altes vertrautes Gesicht.
„Was machst du da?!“
„Was machst DU hier?!“
Schweigen.
„Lass mich los!“
„Lass deine Tasche fallen.“
„Hey, hör mal, das ist nicht witzig. Lass mich einfach los und hau ab, ok?“
„Wenn du deine Tasche fallen lässt!“
Die Tasche fällt auf dem Boden.
„So, siehst du, jetzt lass mich los!“
Wütend starrte sie in das Gesicht. Ihr Arm war wieder frei, worauf sie sich rasch bückte, nach der Tasche griff und von der Brücke runterrannte. Sebastian sah ihr traurig hinterher.
Es fing an zu regnen.
„Die Sonne scheint, was will man mehr? Ob Lucia heute was vor hat?“, grübel ich. Ich greif nach meinem Handy und suche in meinem Adressbuch nach ihrer Nummer.
„Hey, Lu, ich bin's, Johanna... hast du heute Zeit?“
„Öhm... ja, wieso?“
„Wollen wir irgendwohin gehen?“
Später sitzen wir am Rand des Schwimmbeckens. Wir haben uns für das Dreisterfreibad entschieden. Hierher kommen wir öfters, wenn es schönes Wetter gibt. Ein Sonnenbad wäre jetzt nicht schlecht, weswegen wir uns dann auf unsere ausgebreiteten mitgebrachten Handtücher auf die Wiese hinlegen. Lucia packt ihre wohlriechende Sonnencreme aus und klatscht mir etwas auf dem Rücken. Das tut gut, es ist so schön kühl. Nachdem ich eingecremt bin, meine ich: „Jetzt bist du dran!“ Lachend dreht sich Lucia auf ihren Bauch und geniesst meine Hände auf ihrem Rücken.
Heißes Wasser rieselte ihr über den ganzen Körper – sie stand unter der Dusche. Die heißen Wasserstrahlen schienen Johanna zu trösten. Draußen war es kalt, Innen war es warm. Sie liebte die Dusche über alles. Der einzige Ort, wo sie ungestört bleiben konnte. Unter der Dusche konnte sie ihre Eltern nicht hören, wie sie sich über sie unterhielten.
„Das Kind braucht Nachhilfe, Eduard!“
„Schatz, wie oft haben wir denn das schon besprochen? Nachhilfe ist zu teuer!“
„Und was willst du dann machen? Du darfst alles nicht immer auf später verschieben! Später, später und nochmals später! Irgendwann ist es ZU SPÄT!“
„Komm schon, sie ist erst in der neunten Klasse! Warst du damals nicht auch so gewesen?“
„Jetzt komm mir bitte nicht DAMIT. Es geht um Johanna, Eduard! Alles andere hat nichts damit zu tun!“
„Und ob es was damit zu tun hat! Sieh doch endlich ein – sie ist grad in der Pubertät! Da muss man ihr Zeit lassen. Wenn du sie dann auch noch unter Druck bringst, dann wird das Vertrauen zerstört, für dass wir doch so arg gearbeitet haben.“
Ihre Stimmen waren lauter geworden. Als die Johanna die Dusche abstellte, bemerkten sie das nicht. Johanna stand regungslos in der Badewanne, tropfnass, und zitterte. Kam es von der Kälte?
„Ich weiß, Schatz, ich weiß! Doch was soll aus ihr werden? Eduard, ich halte es nicht mehr lange aus! Ständig kommt sie nach Hause mit einer Fünf! Ständig treibt sie sich irgendwo ab! Sie nimmt sich einen Freund, liebt und streitet mit ihm, und am Ende kommt immer dasselbe heraus: ´Mama, er ist weg, hilf mir...!` Und dann steht sie da und heult und ich bin an allem Schuld, ich kann ihr nicht helfen, dann zieht sie sich für eine Woche zurück und ist die Woche vorbei, kommt sie am nächsten Tag gleich wieder angerannt und meint, ´Mama, guck mal, das ist wie-der-auch-immer-heißt!` - Und das alle 3 Monate!“
Das stimmt nicht! , schoss es Johanna durch den Kopf. Sebastian war ihr schon immer treu gewesen, nur dieses eine Mal hatte Johanna ihm nicht verzeihen können, nur dieses eine Mal!
Tränen vermischten sich mit dem Wasser und mit dem Schweiß, der durch die unerträgliche Hitze entstanden war. Luft! Sie brauchte frische Luft! Doch das Fenster konnte sie nicht öffnen, dazu müsste sie alle Tuben und Flaschen wegräumen, wozu sie nicht die geringste Lust hatte. Automatisch griff sie nach einem großen rauen Handtuch, hüllte sich darin ein, bevor sie aus der Badewanne stieg und das Bad verließ. Die Eltern schrien sich nun an. ´Schatz`und ´Liebling`waren verschwunden, nicht mal ein ´Eduard` ließ sich nun mehr hören. Johanna hielt sich die Ohren zu, es war ihr egal, ob das Tuch ihr runterrutschte oder nicht. Sie rannte in ihr Zimmer und schloss die Tür ab.
Die Eltern stritten sich immer noch.
„Fertig!“, lache ich. Lucia ist eingeschlafen. Ich muss grinsen und tu die noch volle Sonnencreme wieder in Lucias Tasche rein. Danach lasse ich mich neben Lucia fallen und genieße die helle warme Sonne.
„Hey, ihr da!“ ,ruft plötzlich eine Stimme.
Ich blinzle auf und sehe zwei Typen vor uns stehen. Auch Lucia wird wach und macht sofort schöne Augen, worauf ich noch mehr grinsen muss. Die Jungen scheinen in unserem Alter zu sein, vielleicht sogar noch älter, doch das interessiert mich nicht. Stattdessen seh ich beide fragend an und möchte wissen, warum sie uns gestört haben, worauf Lucia mir einen Stoß mit den Ellenbogen in die Seite gibt. Sie schaut mich ärgerlich an. Zu den Jungs gewandt schenkt sie ihr Engellächeln.
„Was wollt ihr?“
„Könnten wir neben euch...?“
- und bevor ich sie hindern kann, antwortet Lucia rasch – und zu meinem Entsetzen:
„Na klar! Kein Problem!“
Die Jungen breiten ihre Handtücher aus, zu meinem Ärger auf beiden Seiten, sodass ich mich eingeengt fühle. Klar, sollte eine Anmache sein, doch von solchen Sachen bin ich längst hinaus, das sollte Lucia doch wissen! Säuerlich sehe ich zu, wie der Junge neben mir sich gemütlich macht. Er hat hellbraune Locken, ist überall sonnengebräunt und gut gebaut, doch was für mich ungewöhnlich war, waren seine tiefblauen Augen, die wie der Himmel strahlen konnten. Ich will ihn schon auf die „Sympatisch-Liste“ setzen, als er brummt, ich soll mal ein Stück rücken. Wie bitte? Nie im Leben! Neben ihn ist noch genug Platz! Darauf wird er so ziemlich wütend, ich weiß nicht, wieso.
„Reg dich ab, Mann!“
„Klappe!“, zischt der Typ zurück. Er ist übrigens schon längst auf der „Unsympatisch-Liste“. Mein ganzer Tag ist versaut, kann ich nur noch denken und drehe dem Jungen den Rücken zu. Dieser Junge heißt, wie es sich später rausstellt, Fabian.
Da stand er, er sah umwerfend gut aus. Wie hieß er doch gleich? Achja, Sebastian! So ein schöner Name! Sabina verliebte sich sofort in ihn. Johanna sah es mit Spott in den Augen. Verliebte verhielten sich immer äußerst ungewöhnlich und dumm. Aber das Opfer selbst bemerkte sowas nicht, war ja klar. Arme Sabina, dachte Sabina, sie wird ihn nicht bekommen! Sebastian schien jedoch von Sabina mit sich ziehen zu lassen. Gleich wurde Johanna total eifersüchtig. Aber sie glaubte an Sebastian.
Er würde sie nie und nimmer verlassen...
Zu Hause warten meine Eltern auf mich. Es gibt zum Abendessen Spaghetti. Hm, lecker!
„Und, Fabian, schmeckst dir?“, fragt meine Mutter lächelnd.
Ich schiele zu ihm rüber. Er schielt zurück, worauf wir wieder schnell wegschauen. Wie ist der nur in meine Wohnung gekommen? Ich bin schlecht gelaunt, esse wenig und lasse es sogar stehen, während Mutter die Stirn runzelt. „Geht’s dir nicht gut?“, fragt sie besorgt. Darauf antworte ich nicht, mein Gedanke ist nur: Weg hier! „Ich geh dann mal, hat echt gut geschmeckt, Mama!“ Ich seh noch Fabians Grinsen, bevor ich mich in mein Zimmer verdrücke. Anscheinend gefällt Fabian meiner Mutter sehr gut. Ich kann sie nicht verstehen.
„Was, mit DIESEM JUNGEN gehst du aus?“,fragte die Mutter entsetzt.
Johanna war empört: „Aber hallo? Ja, wieso? Hast du was dagegen?“
„Und ob ich was dagegen habe! Mein Gott, Johanna, du kannst nicht jeden beliebig ins Haus bringen!“
„Was soll das denn nun wieder heißen?! Außerdem stimmt das überhaupt nicht, wenn schon, dann-“
„Es gibt kein ´wenn schon´, es ist schon so!“
„Aber Mama, andere Mütter erlauben so was!“
„Quatsch nicht, und ich bin dann eben NICHT wie die anderen Mütter! Sondern sogar eine BESSERE!“
„Nein, Mama, du bist die strengste und .....! – Hach, vergiss es!“
Johanna rannte weinend in ihr Zimmer zurück. Ihre Mutter war so doof! Wie oft hatte sie nun geweint?
Wir sind im Kino, vor uns spielt sich ein Horrorfilm ab. Als ob ich mich davor fürchten würde! Ich gebe Fabian einen Knuff in die Seite, weswegen er sich total erschreckt. Ich muss lachen und werde sogleich von allen Seiten angepssst. Unterdrücktes Lachen, während Fabian sein Gesicht ärgerlich verzieht. Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter, um ihn wieder zufrieden zu stellen. Es klappt auf Anhieb. Zärtlich nimmt er mein Gesicht in beide Hände und nähert sich meinen Lippen. Mein Herz schlägt wild und sehr laut. Es kommt mir aber so laut vor, weil im Film genau dasselbe Klopfen vorkommt, der Grund, wieso ich schon wieder kichern muss. Leider. Denn Fabian küsst mich nicht, sondern nur meine Nase. Ich stelle eine beleidigte Miene auf und zieh mich in meinem Sitz zurück. Darauf lächelt Fabian und zieht mich wieder an sich. Bevor ich noch protestieren kann, schließt er meinen Mund mit seinen Lippen. Ein kribbelndes Gefühl steigt in mir auf. Ich glaube, dieses Gefühl heißt Glück. Ich liebe Glück. Ich liebe Fabian.