Herr H.
Ein unverbesserlicher Pechvogel bekommt es mit der Angst zu tun, wenn ihm plötzlich ein Glück widerfährt.
So viel steht fest.
Ähnlich, aber nicht ganz so ergeht es gerade dem Herrn H.
Ein Pechvogel ist er nicht gerade, nein, das kann man wirklich nicht sagen.
Er hat einen schmucken marineblauen Anzug, dazu ein gestreiftes Hemd, sogar eine Krawatte und blanke Lackschuhe hat er, wenn er jeden morgen in seinen VW Passat steigt, um zur Arbeit zu fahren.
Ja, so ein schmucker Kerl ist er, der Herr H.
Kein Pechvogel und also auch nicht durch unverhofftes Glück verschreckt.
Aber eine Schwäche muss doch jeder haben, auch unser Anzugträger. Ist es nicht so?
Also, kurzum:
Neidisch ist er, der Herr H. und weiß gar nicht so genau warum. Er hat ja seinen Anzug, sein Hemd, die Krawatte usw.
Sogar eine Frau, ein kleines Reihenhaus, Kinder, die bereits ihr eigenen Wege gehen, und in wenigen Monaten das halbe Jahrhundert voll.
Aber neidisch ist er trotzdem:
Auf den Blumenverkäufer an der Landstraße, an dem er jeden Morgen vorüber fährt und nochmals am Nachmittag, wenn es heimwärts geht, weil dieser Mann in seiner grünen Schürze und dem sonnenbleichen Strohhut ihn denken lässt, dass er eben diese Schürze gerne hätte. Und den Hut. Und die Blumen, vielleicht noch die kleine zangenartige Schere, mit der man die Stiele kürzt…
Der Blumenmann hat also Blumen - Herr H. hat es eilig. Das ist der Unterschied zwischen ihnen.
Auch jetzt fährt er gerade wieder am Blumenhändler vorbei und wendet den neidischen Blick ab. Im Radio laufen Nachrichten; es ist gerade fünf vor sieben und Herr H. auf dem Weg zur Arbeit. Er träumt von seiner grünen Schürze und fragt sich zugleich, warum der Auslandskorrespondent, der gerade von den besorgniserregenden Ereignissen auf dem spanischen Festland (In irgendeiner Touristenhochburg gab es eine Bombenexplosion und man vermutet mal wieder einen Anschlag der ETA) in Spanien sein darf und er nicht.
Nein, denkt Herr H., ich bekomme die weite Welt nicht zu sehen, dafür habe ich den falschen Beruf und eine zu klamme Geldbörse. Auslandskorrespondent müsste man sein. Ja, das wäre ich lieber geworden. Sowieso. Schon immer.
Er weiß sehr wohl, dass das nicht stimmt, aber wenn er ein anderer Herr H. wäre, hätte es stimmen können, eventuell. Sicher sogar.
Am Rand der Landstraße tauchen die ersten Häuser auf und er passiert das gelbe Ortsschild. Die Ampel dahinter ist rot…
Herr H. tritt auf die Bremse, die Kupplung, Gang raus und ausrollen lassen, bis zur weißen Haltelinie.
Er steht also und wartete auf Grün…
Er lässt den Blick schweifen und sieht einen Rot-Blitzer vor sich und fragte sich, wen die tückische Radarfalle schon alles erwischt haben mag.
Und er?
Oder vielmehr: Und ihn? - ihn hatte sie nicht geblitzt, denn er hält ja an der weißen Linie und wartet auf Grün…
In Herr H. kocht der Neid auf die Menschen, deren erschrockene Gesichter auf den (jetzt noch) unbelichteten Fotos zu sehen sind. Sein werden.
Und was, wenn er jetzt einfach fahren würde, nur um auch eines der – jetzt noch, aber in absehbarer Zeit nicht mehr - unbesehenen Gesichter in der grauen Kiste zu werden?
Ein Gedanke zuckt durch Herrn H.’s Kopft, ebenso durch seinen Gasfuß:
Müsste ich nicht der grünbeschürzte Blumenverkäufer an der Landstraße sein?
Müsste ich nicht - eigentlich jetzt gerade – in Spanien sein?
Müsste ich jetzt nicht …
Ein unwirsches Hupen schleudert ihn aus dem Sog seiner giftigen Gedanken.
… losfahren?, bringt er den letzten noch zu Ende und tatsächlich ist die Ampel inzwischen wieder auf Grün umgesprungen und Herr H. fährt an. Ungeblitzt überquert er in seinem Passat die Kreuzung und ihm wird wieder einmal bewusst, wie wenig Verlass ist, auf ein „Ich müsste doch“.